|
Von
Dr. Ingo Kolboom
O. Professor an der Technischen Universität Dresden
Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des deutsch-französischen
Forum sowie Mitglied im deutsch-französischen Kulturrat
Nun sind die Reden
und Texte über die "deutsch-französische Freundschaft"
wieder rarer geworden - die Ehrengäste sind nach Hause gefahren,
der Alltag hat uns wieder, ein Alltag, von dem Bundespräsident
Rau in seiner Feieransprache im Schloß Bellevue am 23. Januar
sagte, er sei in Deutschland voll von Frankreich: "Kein Land
ist in Deutschland so präsent wie Frankreich: Im Bewußtsein
der Menschen und in ihrem Interesse, in ihren Kenntnissen und in ihren
Vorlieben. Das deutsch-französische Miteinander ist im besten
Sinne des Wortes alltäglich geworden." Wer diesen Satz ernst
nimmt, würde gerne wissen, auf welche Weise "Bewußtsein",
"Interesse", "Kenntnisse" und "Vorlieben"
der deutschen Bevölkerung von der Saar bis zur Oder/Neiße
gemessen wurden, damit diese schöne Feststellung, die auch andere
Festreden ziert, getroffen werden kann. Nehmen wir meßbare Größen
wie Lese- und Fernsehgewohnheiten, Kino- und Theaterbesuche, Reisen,
Sprachkenntnisse, Eßkultur etc., dann okkupieren viele Länder
und Kulturen den deutschen Alltag, aber nicht unbedingt immer Frankreich.
Was Interessen, Kenntnisse und Vorlieben angeht, erweisen sich andere
Perioden in der deutschen Geschichte als "frankreichträchtiger",
leider waren dies Perioden, in denen es um die politische Zusammenarbeit
weniger gut bestellt war als heute.
| Die
vom Bundespräsidenten angeführten zwei Beispiele für
diese "Alltäglichkeit" sind der "Fernsehkanal
ARTE" und die "deutsch-französische Brigade".
Über den Bekanntheitsgrad der Brigade läßt sich
streiten, aber sie als Beispiel für die Präsenz Frankreichs
in unser aller Alltag anzuführen, ist ein kühner Gedankengang;
es gibt Gegenden in Deutschland, in denen das deutsch-niederländische
Korps bekannter sein dürfte. Das ist eine Frage des Standorts.
Auch der bis zum Exzeß in allen Reden, Artikeln und Erklärungen
als deutsch-französisches Exponat ausgereizte Fernsehkanal
ARTE erweist sich beim näheren Hinsehen als Bumerang: Die
maximal ein Prozent der deutschen Haushalte, die ARTE einschalten,
dürften kaum das Alltagsbewußtsein in Deutschland
bestimmen. |

"feierliche deutsch-französische Kommemorations-Rhetorik"
Familienphoto vor dem deutsch-französischen Ministerrat
© Ministère des Affaires Etrangères / F. de la Mure |
So gehören
auch die deutsch-französischen Festreden mittlerweile in das
Reich der politischen Rhetorik, die zwar ohnehin niemand mehr ernst
nimmt, aber wohl allen Beteiligten den Eindruck vermitteln soll, wir
lebten heute in der besten aller deutsch-französischen Welten.
Und wehe dem, der daran erinnert, daß noch nie von deutschen
Bildungsschichten seit dem 18. Jahrhundert so wenig Französisch
gesprochen und verstanden wurde wie heute. Eine "deutsch-französische
PISA-Studie" würde unseren beiden Ländern und Kulturen
mit Sicherheit ein sehr schlechtes Zeugnis ausstellen. Wenn in der
Gemeinsamen Erklärung von Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler
Schröder vom 22. Januar des Jahres "eine bessere gegenseitige
Kenntnis unserer Gesellschaften und Kulturen" explizit als Voraussetzung
für "eine engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und
Frankreich" genannt wird, dann können wir darüber froh
sein, daß politische Zusammenarbeit mehr von realpolitischen
Interessen als vom gegenseitigen Kenntnisstand gelenkt wird. Dies
gilt auch für das eigene Land. Denn wenn der Bundeskanzler in
seiner Rede im Spiegelsaal von Versailles ausgerechnet den frankophilen
bayerischen König Ludwig II. als tragischen Kronzeugen für
die französische Demütigung bei der Kaiserproklamation in
Versailles am 18. Januar 1871 bemüht, ist dies ein weiterer Beweis
für das schlechte Abschneiden Deutschlands in der PISA-Studie:
Da Ludwig, der für seine Verweigerungshaltung dem Deutschen Reich
und seinen Vertretern gegenüber von deutsch-nationalen Kreisen
heftig kritisierte wurde, bei der Kaiserproklamation nicht anwesend
war, konnte er schlecht das getan haben, was der Bundeskanzler ihm
unterstellt: "Ausgerechnet hier im Spiegelsaal von Versailles
trug er Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone an."
| Zur
deutsch-französischen Kommemorations-Rhetorik gehören
aber nicht nur mehr oder minder geglückte pädagogische
Zitate aus der Geschichte, sondern mehr noch die Verkündung
immer wieder neuer Initiativen, die sich bei näheren Hinsehen
zu oft als alter Wein in neuen Schläuchen erweisen. Nehmen
wir die Gemeinsame Erklärung von Jacques Chirac und Gerhard
Schröder. In 43 Punkten wird die "beispiellose Zusammenarbeit"
illustriert und weiter angeregt. Eine Absichtserklärung
übertrumpft die andere. Daß ausgerechnet die beiden
Staaten, in deren Bildungssystemen die Zweisprachigkeit (Französisch
bzw. Deutsch gleichberechtigt mit Englisch) der pure Luxus geworden
ist, sich für die "Mehrsprachigkeit in den Institutionen
der Europäischen Union" (Punkt 12) und für die
"Vielfalt der Sprachen" (Punkt 15) einsetzen wollen,
ist wenig nachvollziehbar; glaubwürdigere Anwälte
dieser Mehrsprachigkeit wären Länder wie Finnland,
die Niederlande oder Luxemburg; sie sind die glaubwürdigeren
Anwälte einer europäischen Mehrsprachenpolitik auch
im eigenen Land. |

Prof. Dr.
Ingo Kolboom
www.frankophonie.de |
Der erklärte
Wunsch beider Regierungen "die Jugendlichen unserer beiden Länder
zu ermutigen, Deutschland und Frankreich als einheitlichen Raum ihrer
Ausbildung und die Ausübung ihres Berufes wahrzunehmen"
(Punkt 17), ist so fromm wie ihre Geste, "die Bedeutung der Präsenz
mindestens eines Fernsehprogramms aus dem Nachbarland in der deutschen
und französischen Fernsehlandschaft" zu unterstreichen (Punkt
21). Beide Zielsetzungen setzen verzahnte Sprach- und Kulturräume
voraus, wofür die Rahmenbedingungen immer weniger bereitgestellt
werden. Fakt ist, daß immer weniger Jugendliche (aus allen Schultypen)
heute in der Lage oder willens sind, die Sprache des Partnerlandes
zu lernen, und immer weniger Menschen einem Fernsehprogramm des Nachbarlands
sprachlich zu folgen und damit willens sind, einen TV-Programmplatz
dafür zu opfern.
Es klingt auch
schön, die "europäische Öffnung des Kulturkanals
ARTE und Wahrung seiner deutsch-französischen Identität"
(Punkt 21) zu fordern. Aber wäre es nicht naheliegender, dafür
zu sorgen, daß sich mehr als ein Prozent der deutschen Bevölkerung
für ARTE interessieren, ARTE in Frankreich auch in deutscher
Sprache empfangen werden kann? Es gibt immer noch Gegenden in Deutschland,
in denen ARTE ein Fremdwort ist, weil es nicht in die betreffenden
Kabelnetze eingespeist wird. Seit vielen Jahren fordert der (in
keiner der zum 40. Jahrestag gehaltenen offiziellen Reden erwähnte)
Deutsch-Französische Kulturrat ein Bündel von konkreten
Maßnahmen; Gehör fand er nie. Dafür fand seine alte
Forderung, ARTE mit einem deutsch-französischen Kinder- und
Jugendprogramm zu versehen, um wenigstens im außerschulischen
Bereich das Interesse an Sprache und Kultur des Nachbarlandes zur
fördern, eine mehr als kontraproduktive Umsetzung: Der bestehende
nationale Kinderkanal in Deutschland ("Kika") wurde zum
Ganztagsprogramm ausgebaut - in vielen Regionen auf Kosten des Sendeplatzes
von ARTE.
Bei dem Versuch,
die Gemeinsame Erklärung mit Erfolgsmeldungen und neuen Initiativen
zu bestücken - dies im Vertrauen auf das Kurzzeitgedächtnis
der Medien, fehlt leider gänzlich der Hinweis auf die wahrhaft
historische Erweiterung der deutsch-französischen Zusammenarbeit
auf Polen vor zehn Jahren zum "Weimarer Dreieck" - auch
in anderen Reden wurde darauf nicht eingegangen. Aber die Ankündigung
eines gemeinsamen Kulturinstituts in Moskau und gemeinsamer Botschaften
durfte nicht fehlen. Die Archive sind gefüllt mit Ankündigungen
dieser Art. Schon vor vielen Jahren sollte eine gemeinsame Botschaft
in Ulan Bator und in einem afrikanischen Land sowie ein deutsch-französisch-polnisches
Kulturinstitut in Warschau eingerichtet werden - wir warten immer
noch auf die Umsetzung. Wäre es nicht konsequenter gewesen,
in Würdigung der gemeinsamen Zusammenarbeit mit Polen, endlich
das Kulturinstitut in Warschau zu gründen und eine gemeinsame
Botschaft gleich dazu, was mit Blick auf die EU-Osterweiterung mehr
als eine symbolische Geste gewesen wäre?
Als neu gilt
auch die Ankündigung, bei jeder Regierung das Amt eines "Beauftragten
(Generalsekretärs) für die deutsch-französische Zusammenarbeit"
zu schaffen; "diese hochrangige Persönlichkeit wird persönlich
beim Bundeskanzler / beim Premierminister angesiedelt und über
geeignete Strukturen im Außenministerium verfügen. ...
Ihm steht ein Vertreter aus dem Partnerland zur Seite." (Punkt
41) Der Kenner fragt sich, was diesen Beauftragten vom bisherigen,
seit Jahrzehnten bestehenden und im Außenministerium angesiedelten
"Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit"
unterscheidet? Ist die Zuständigkeitsverlagerung vom Außenministerium
zum Bundeskanzler/Pemierminister so gravierend, daß ein neues
Amt geschaffen werden muß? Was wird aus dem bisherigen Koordinator,
der auch immer eine "hochrangige Persönlichkeit"
war? Haben wir es in Zukunft mit sechs Beauftragten/Stellvertretern/Koordinatoren
zu tun? Wird die deutsch-französische Zusammenarbeit dadurch
besser, wenn bei jedem Jubiläum ein neues Amt geschaffen wird?
Neu ist auch
der Vorschlag "unseren Bürgerinnen und Bürgern auch
die Staatsbürgerschaft beider Länder zu ermöglichen,
soweit sie das wünschen" (Punkt 22). Gab es diese Möglichkeit
bislang nicht oder sind die vielen Bürger mit beiden Pässen
Paßbetrüger'? Oder heißt dies gar, daß
jeder, dessen Herz und Geist dem Nachbarland nahe sind, die Staatsbürgerschaft
des Partnerlandes beantragen kann - gewissermaßen als symbolische
Geste? Schön wäre es, und man sollte die Erklärung
beim Wort nehmen. Doch noch wichtiger wäre es, den dazu notwendigen
"Unterbau" zu fördern. Konkreter gesagt: Jeder Deutsche
und jeder Franzose müßte sich mit seinen Schul- und Berufsabschlüssen
im Nachbarland bewähren können, als wäre er im eigenen
Land - so wie es Kanadier in den USA können, und umgekehrt.
Was wäre das für ein Befreiungsschlag im deutsch-französischen
Äquivalenz- und Bürokratiewirrwarr, und dies schon ohne
gemeinsame Staatsbürgerschaft! Der unter Punkt 17 gewünschte
einheitliche Raum für Ausbildung und Beruf wäre gleich
miterledigt.
Die Gemeinsame
Erklärung ist gespickt mit konkreten Ankündigungen und
Vorschlägen, geboren unter dem offensichtlichen Druck einer
öffentlichkeitswirksamen Kommemoration. Doch die Lektüre
dieses langen Dokuments, länger als der historische Elysee-Vertrag,
macht ratlos. Kürzer wäre mehr gewesen; das war das Geheimnis
für den Erfolg des Elysee-Vertrages. Die Regierungen beider
Ländern wären besser beraten gewesen, wenn sie am 22.
Januar eine sehr kurze Erklärung verkündet hätten.
Feierlich und nachdenklich hätten sie darin erinnern sollen,
daß der vor 40 Jahren geschlossene westdeutsch-französische
Elysee-Vertrag seit 12 Jahren nun auch für das ganze deutsche
Volk gilt - dieser wahrhaft historische Tatbestand wurde übrigens
in keiner offiziellen Rede zum 22. Januar gewürdigt; und dies,
so hätten beide Regierungen weiter erklärt, sei ein Grund
mehr, alle seit dem westdeutsch-französischen Kulturabkommen
von 1954 veröffentlichten Erklärungen und Abkommen, die
heute ein ganzes Buch füllen, zügig umzusetzen und vorhandene
Einrichtungen zu stärken. Alles weitere würde man Ausführungsbestimmungen
überlassen, der Bürger aber hätte einen Rechtsanspruch
auf alle Versprechungen.
So aber kommt
auch die deutsch-französische Zusammenarbeit in den zweifelhaften
Genuß der "société du spectacle",
die unser aller Alltag geworden ist, und wird damit auf eine andere
Art "alltäglich", als es der Bundespräsident
meinte. Gehört dazu auch der unter Punkt 16 der Gemeinsamen
Erklärung neu eingeführte "Deutsch-Französische
Tag" am 22. Januar eines jeden Jahres? Werden wir dann an jedem
22. Januar eine neue Ankündigung erleben, auf deren Umsetzung
wir Frankreichfreunde wieder vergeblich warten? Ein hoher Beamter
aus einem Ministerium hatte schon vermeintlichen Trost parat: "Was
regen Sie sich auf. Wir sind doch gar nicht verpflichtet, diese
Empfehlungen auszuführen."
Dresden 02.02.2003
© Ingo Kolboom 2003
|