Vor 25 Jahren,
als ich erstmalig das Amt des Verteidigungsministers bekleidete
und Henry Kissinger das Außenministerium leitete, wurden innerhalb
des Bündnisses einige schwierige gemeinsame Entscheidungen
über die Zukunft Europas getroffen. Gemeinsam teilten wir die
Risiken und trugen die Verantwortung. Als Ergebnis dessen verfügen
wir nunmehr über eine bekräftigte und über unsere
kühnsten Träume hinausgehende kollektive Sicherheitsstruktur.
Unsere Absprachen
und unsere Zusammenarbeit stehen dabei im Zentrum dieser neuen Welt.
Sie bilden die Grundlage, von der aus wir den Herausforderungen,
denen wir gegenwärtig und in Zukunft gegenüberstehen,
begegnen werden. Allerdings kann Sicherheit nicht erreicht werden,
indem ein Teil der Welt von einem anderen isoliert, indem Europa
von Asien getrennt wird.
Trotz veränderter
Ausgangslage bleibt das Mandat dasselbe: Es geht darum, Frieden
und Sicherheit zu erhalten sowie Freiheit und demokratische Ideale
zu fördern. Auch heute sind wir wieder mit einer Reihe von
Entscheidungen konfrontiert, und unsere Aufgabe besteht darin, diese
Entscheidungen gemeinsam zu treffen, Risiken und Verantwortung zu
teilen sowie gemeinsam Nutzen daraus zu ziehen. Meines Erachtens
lässt sich die Garantie für unsere zukünftige Sicherheit
in vier, uns vertrauten Konzepten zusammenfassen, die hier allerdings
gewissermaßen unter einem neuen Blickwinkel in diesem anbrechenden
Jahrhundert erscheinen: Abschreckung, Verteidigung, Diplomatie und
Aufklärung.
Wir müssen
die Abschreckung gegen eine ganze Reihe von möglichen Bedrohungen
aufrechterhalten, die weit gefährlicher sind als die Bedrohungen
in der Zeit des Kalten Krieges. Diese Haltung muss auf Verteidigungskapazitäten
aufbauen, die die Abschreckung glaubwürdig machen. Unsere Abschreckungs-
und Verteidigungsbemühungen bilden den Unterbau unserer diplomatischen
Anstrengungen. Darüber hinaus müssen wir über die
notwendigen Aufklärungsmittel verfügen, die den politischen
Entscheidungsträgern, Diplomaten und unserer Führung ein
und dieselbe Lageanalyse ermöglichen, so dass sie ihrer Aufgabe
auf der Grundlage derselben Sachverhalte nachkommen können.
Ich möchte
im folgenden vor allem zu den vier Themenbereichen Raketenabwehr,
Balkan, Europäische Verteidigungsidentität und die bevorstehende
NATO-Erweiterung Stellung beziehen.
Zur Zeit ist
die Bedrohung durch einen massiven Nuklearkrieg unwahrscheinlicher
denn je seit dem Anbruch des Atomzeitalters. Allerdings sind wir
heute anfälliger für Bombenanschläge, Cyberterroristen,
die rohe und ziellose Gewalt eines geächteten Regimes bzw.
eines mit Raketen und Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten
Banditenstaates. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt näher
zusammengerückt. Infolgedessen haben sich ehemals nur wenigen
Staaten vorbehaltene Technologien weit verbreitet und sind nun allgegenwärtig.
Nicht nur Nationen stehen sie nunmehr zur Verfügung, sondern
auch nicht staatlichen Einheiten.
Damit komme
ich zu dem ersten Punkt, der Raketenabwehr. Ich glaube, dass wir
zugeben müssen, dass die Abschreckung durch die wechselseitig
garantierte Vernichtung und das Konzept des Vergeltungsschlages
während des Kalten Krieges recht gut funktionierte. Heute jedoch
sind die Probleme anders gelagert und die Anforderungen unterschiedlicher
Art. Es ist unsere Pflicht, diesen sich verändernden Umständen
Rechnung zu tragen, um sicher zu gehen, dass wir vor allem dazu
in der Lage sind, unüberlegt und rücksichtslos handelnde
Aggressoren von Anschlägen bzw. deren Androhung abzuhalten.
Terrorwaffen müssen nicht zum Einsatz kommen, es reicht schon,
wenn sie in den Händen von Menschen liegen, die damit diejenigen
in ihre Schranken weisen, die sie vielleicht einsetzen würden.
Das kann bekanntlich das Verhalten beeinflussen. Wir haben aus der
Geschichte gelernt, dass Schwäche herausfordernd wirkt und
dass sich Völker deswegen in Abenteuer stürzen, die sie
andernfalls vermieden hätten.
Kein verantwortungsbewusster
Präsident der Vereinigten Staaten kann sagen, seine Verteidigungspolitik
sei dazu gedacht und konzipiert, das amerikanische Volk schutzlos
Bedrohungen auszusetzen, deren Existenz bekannt und die nur allzu
real sind. Damit keine Zweifel aufkommen: Ein Verteidigungssystem
muss nicht lückenlos sein. Gleichwohl darf das amerikanische
Volk nicht ohne jeden Schutz gelassen werden. Das ist weniger ein
Problem der Machbarkeit als eine Frage der Verantwortlichkeit des
Präsidenten gegenüber der Verfassung. Es handelt sich
in der Tat in vielerlei Hinsicht, wie Dr. Kissinger gesagt hat,
um ein moralisches Problem. Deswegen beabsichtigen die Vereinigten
Staaten, eine einsatzbereite Raketenabwehr zu entwickeln, mit dem
Ziel, unser Volk und unsere Streitkräfte gegen einen begrenzten
ballistischen Raketenangriff zu schützen, und sie sind dazu
bereit, ihren Freunden und Alliierten im Fall einer Bedrohung durch
einen Raketenangriff mit dem Einsatz eines solchen Verteidigungssystems
beizustehen. Dieses Abwehrsystem wird faktisch für niemanden
eine Bedrohung darstellen. Niemand sollte sich darüber unnötige
Gedanken machen, außer denjenigen, die anderen drohen wollen.
Ich möchte
auch unseren Freunden in Europa gegenüber deutlich machen,
dass wir sie konsultieren werden. Es liegt nicht im Interesse der
Vereinigten Staaten, ein Verteidigungssystem einzurichten, dass
uns mit unseren Freunden und Verbündeten entzweien würde.
Tatsächlich sind wir denselben Bedrohungen ausgesetzt. Es ist
das ureigenste Interesse der Vereinigten Staaten, dass unsere Freunde
und Alliierten sowie unsere stationierten Truppenverbände vor
Angriffen geschützt werden und weder bedroh- noch erpressbar
sind. Das ist kein Thema, das uns spalten würde. Wir sehen
darin vielmehr eine Möglichkeit zu einem kollektiven Ansatz
zur Verbesserung der Sicherheit für uns alle.
Ein anderes
Gebiet, auf dem wir umdenken müssen, betrifft die Fähigkeit
des Bündnisses, mit Regionalkonflikten fertig zu werden. Wir
haben die Herausforderung auf dem Balkan abschätzen können.
Der Balkankonflikt hat gezeigt, dass die Allianz ihre Kapazitäten
erhöhen und umstrukturieren muss, wofür mehr Ressourcen
notwendig sind. Darüber hinaus hat er auch gezeigt, dass wir
am erfolgreichsten sind, wenn wir gemeinsam handeln.
Die Pläne
von Präsident Bush, unseren Balkaneinsatz zu überdenken,
in der Hoffnung, die angemessenste Einsatzform und das angemessenste
Engagementniveau aufrechtzuerhalten, sind sicherlich allseits bekannt.
Wie bereits betont, werden wir nicht einseitig bzw. über die
Köpfe unserer Bündnispartner hinweg handeln.
Ich möchte
darauf hinweisen, dass wir mit dem Einsatzbeginn in Bosnien-Herzegowina
Zehntausende von schwer bewaffnete Truppenverbänden stationiert
haben. Auch heute befinden sich dort noch einsatzfähige Truppen,
die Aufgabe hat sich allerdings geändert, und die Truppenstärke
wurde infolgedessen verkleinert und mit einer leichteren Ausrüstung
versehen. Wir haben diese stufenweisen Änderungen auf der Grundlage
des vorgesehenen Bündnisvorgehens vorgenommen, das mit dem
Jahr 1996 einsetzte und mittels halbjährlichen oder alle acht
Monate stattfindenden Routineüberprüfungen fortgeführt
wurde. Wir sind der Ansicht, dass dieser Konsultations-, Prüfungs-
und Veränderungsprozess fortgesetzt werden sollte.
Um es noch
einmal zu sagen: Der Wille der Nationen, gemeinsam zu handeln, bildet
einen Beitrag dazu, die Sicherheit zu bewahren und den Frieden zu
stärken. Als dritten Punkt komme ich nunmehr zu der von einigen
unserer Bündnispartner angeregten Initiative zu sprechen, die
europäischen Verteidigungskapazitäten auszubauen.
Als ehemaliger
NATO-Botschafter habe ich den allergrößten Respekt vor
der Bedeutung der Allianz. Sie bildete das Schlüsselinstrument,
um mehr als 50 Jahre lang den Frieden in Europa zu bewahren. Ich
denke, es lässt sich vereinfachend durchaus behaupten, dass
sie das erfolgreichste Militärbündnis in der Geschichte
darstellt. Die NATO hat sich weiterentwickelt und eine Partnerschaft
für den Frieden begründet, in deren Rahmen ganz Europa
an der gemeinsamen Verbesserung der Sicherheit beteiligt wurde,
wie es von den Truppenverbänden der Partnerländer in Bosnien
und im Kosovo gegenwärtig gezeigt wird.
Die Europäische
Sicherheits- und Verteidigungsidentität stellt eine zusätzliche
Weiterentwicklung dar. Ich möchte nicht in allen Einzelheiten
darauf zu sprechen kommen, werde aber meine Eindrücke kurz
darlegen.
Unsere europäischen
Verbündeten und Partner wissen, dass die NATO das Herzstück
der europäischen Verteidigung bildet. Wenn wir die vergangenen
Erfolge in die Zukunft verlängern wollen, müssen wir deswegen
auch in erster Linie die NATO als Grundstein der europäischen
Sicherheitsstrukturen für Europa aufrechterhalten.
Ich befürworte
die Bemühungen zugunsten einer Stärkung der NATO. Was
innerhalb und mit dem Bündnis geschieht, muss mit der Wahrung
ihrer Stärke, Widerstands- und Leistungsfähigkeit in Einklang
gebracht werden. Initiativen, die die Leistungsfähigkeit der
NATO durch eine verwirrende Verdoppelung bzw. durch die Beeinträchtigung
der transatlantischen Beziehungen schmälern könnten, würden
sich nicht positiv bemerkbar machen. Vielmehr bestünde die
Gefahr, dass es innerhalb der so ausgesprochen wichtigen Allianz
zu Instabilität käme. Und wenn ich noch einen Punkt hinzufügen
darf: Welche Form diese Bemühungen letztlich auch annehmen
werden, ich persönlich bin der Ansicht, dass sie allen NATO-Mitgliedstaaten,
die sich daran beteiligen möchten, offen stehen sollte.
Die Frage der
europäischen Integration leitet zu der Möglichkeit über,
wie die NATO überhaupt erweitert werden kann. Wir haben beachtliche
Fortschritte erzielt auf dem Weg zu der Erfüllung der Vision
eines geeinten und freien Europas.
Natürlich
muss auch bei einer erweiterten NATO-Mitgliedschaft unsere Einsatzfähigkeit
bewahrt, eventuell sogar verbessert werden. Hinzukommende Mitglieder
sollten die Werte der Bündnisnationen teilen und dazu bereit
sein, die Last der notwendigen Sicherheitsausgaben zu tragen, um
bei der Verfolgung unserer Ziele vollwertig mitzuwirken.
Die Allianz
hat erklärt, dass sie auf dem nächsten Gipfeltreffen im
Jahre 2002 über die Erweiterung diskutieren werde und damit
den Staaten die Gelegenheit bietet, ihre Beitrittsargumente vorzubringen.
Die Mitgliedschaft in der NATO ist meines Erachtens mehr als nur
ein Entwicklungsschritt der europäischen Demokratien. Die Mitgliedstaaten
gehen eine Verpflichtung zu gemeinsamer Verteidigung ein, und sie
müssen imstande sein, dieser Verpflichtung nachzukommen.
Ich habe mich
auf vier Themenbereiche konzentriert, die unsere Fähigkeit
unter Beweis stellen, die Zukunft der Freiheit, deren Bewahrung
uns am Herzen liegt, in Augenschein zu nehmen. Trotz ihrer vermeintlichen
Unterschiede gehören diese Fragestellungen allesamt bei genauerer
Betrachtung zu demselben Kern, denselben Grundlagen der Freiheit
und der Sicherheit dieser Allianz, die wir verstärken und aufrechterhalten
wollen.
Die NATO zu
schwächen bedeutet Europa zu schwächen, was wiederum uns
alle schwächen würde. Wir und die anderen Bündnisstaaten
sind miteinander verbunden in dem Bestreben nach und der Bewahrung
von etwas Großem und Gutem, etwas, das in der Geschichte seinesgleichen
sucht. Unser größter Trumpf sind immer noch unsere Werte
Freiheit, Demokratie, die Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaat.
Angesichts gemeinsamer Gefahren müssen wir immer noch gemeinsam
Verantwortung übernehmen. Solange wir uns diesen Herausforderungen
stellen, bin ich zuversichtlich, dass wir unsere große Partnerschaft
stärken und dass wir nicht daran scheitern werden.
Übersetzung
Forum (MT)
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