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• Warum die NATO ein stärkeres Europa befürwortet
Sicherheit ist kein Nullsummenspiel, bei dem es einen Gewinner und einen Verlierer gäbe und in dem eine Fortentwicklung der EU automatisch einen Rückschritt für die NATO bedeuten würde. Diese steht einer sicherheitspolitischen Stärkung der Rolle Europas aus spezifisch strategischen Gründen positiv gegenüber. Eine ernsthafte und nachhaltige europäische Sicherheitsidentität ist nicht nur voll und ganz mit aufgeklärten transatlantischen Beziehungen vereinbar, sondern beider Erfolg bedingt sich wechselseitig. ©2001
Lord George ROBERTSON - NATO-Generalsekretär


Eine Europäische Verteidigungs- und Sicherheitsidentität (EVSI) gewinnt zügig an Gestalt. Im Laufe der letzten beiden Jahre hat die Europäische Union ausgesprochen wichtige, sowohl politische als auch institutionelle Vorkehrungen getroffen, um eine wirkliche Krisenbewältigungskapazität herauszubilden. Außerdem knüpfen die NATO und die EU enge Beziehungen und arbeiten an einem Vertrauensverhältnis. Im Vergleich zu den Versuchen in der Vergangenheit, eine stärkere europäische Verteidigung zu errichten, hat die jetzige Entwicklung ein überraschend schnelles Tempo eingeschlagen.

In manchen Augen gibt dieses beschleunigte Entwicklungstempo sogar zu Beunruhigung Anlass. Einige fragen sich, warum die NATO die Bestrebungen der Europäischen Union unterstützen sollte. Warum sollte der Europäischen Union der Rücken gestärkt werden, wo sie doch dadurch auf dem Gebiet der europäischen Sicherheitsbelange nur zu einem Konkurrenten heranwachsen würde?

Diese Fragen treffen allerdings nicht den Kern des Problems. Sicherheit ist kein Spiel, bei dem es einen Gewinner und einen Verlierer gäbe und in dem eine Fortentwicklung der EU automatisch einen Rückschritt für die NATO bedeuten würde. Diese steht einer sicherheitspolitischen Stärkung der Rolle Europas aus spezifisch strategischen Gründen positiv gegenüber. Es sind im wesentlichen drei:

Zum einen ist die europäische Integration so weit fortgeschritten, dass eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - zusammen mit den dafür nötigen militärischen Kapazitäten - schlicht greifbar geworden ist. Niemand macht sich Illusionen über die Zeit und den Aufwand, die nötig sein werden, bevor eine wirkliche GASP konkret Gestalt annimmt, aber die Entwicklung in diese Richtung ist unumkehrbar. Die NATO, die die europäische Integration stets unterstützt hat, muss dieser neuen Realität Rechnung tragen.

Darüber hinaus fällt es zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges immer schwerer, die Gründe zu erklären, warum eine Europäische Union, die in wirtschaftlicher Hinsicht mit den Vereinigten Staaten mithalten kann, seiner Aufgabe nicht voll gerecht wird, wenn es darum geht, regionale Konflikte in ihrer eigenen, unmittelbaren Nachbarschaft zu lösen. Das Ungleichgewicht, das im Zuge der Kosovo-Intervention zutage getreten ist, bei der die Vereinigten Staaten einen ungleich größeren Teil der militärischen Belastung auf sich genommen haben, ist politisch gesehen langfristig nicht tragbar. Die Vereinigten Staaten erwarten eine gerechtere transatlantische Lastenteilung, und Europa muss in seinem eigenen Interesse darauf vorbereitet und dazu bereit sein, sich stärker zu beteiligen.

Außerdem werden auch in Zukunft Krisensituationen in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges entstehen, aber nicht alle Regionalkonflikte werden notwendigerweise die strategischen Interessen der Vereinigten Staaten in gleichem Maße berühren wie die europäischen. Als euroatlantische Gemeinschaft haben wir die Verpflichtung, uns auf Situationen vorzubereiten, in denen die Vereinigten Staaten nicht in vorderster Front stehen wollen. In solchen Fällen müssen die Europäer dazu in der Lage sein, sich selbst der Aufgabe zu stellen, und so organisiert sein, dass sie die politische als auch die militärische Leitung übernehmen können. Wenn wir in Krisenperioden nicht mehr auf die alternativlose Lösung NATO beschränkt sein werden, wird ein großer Fortschritt vollzogen worden sein.

Aus diesen drei Gründen wird die ESVI weniger eine fakultative Bereicherung bedeuten, als vielmehr eine Voraussetzung zu einer ausgeglicheneren transatlantischen Beziehung und damit auch zu einer NATO, die auf einer solideren Grundlage beruhen wird. Wenn von ESVI die Rede ist, geht es nicht um institutionelle Rivalität, sondern um Synenergie, nicht um institutionelle Konkurrenz, sondern um eine Ausweitung unseres Optionsspektrums als Antwort auf Krisen.

Die sich herausbildenden Beziehungen zwischen NATO und EU zeugen von diesen Realitäten. Auch hier möchte ich drei Hauptgründe hervorheben.

Erstens wird es keine unnütze Überschneidung von NATO und Europäischer Union geben. Die NATO ist in kollektiven Sicherheitsbelangen allein zuständig und wird auch - dieser Punkt ist nicht minder wichtig - das bevorzugte Instrument bleiben, wenn eine Zusammenarbeit im Interesse Europas und Nordamerikas liegt. Angesichts der Tatsache, dass alle unsere Länder nur über eine einzige Gesamtheit an Streitkräften verfügen, wäre eine Errichtung einer europäischen "Mini-NATO" neben der bereits bestehenden Organisation unsinnig. Die Lösung besteht vielmehr darin, die existierenden Vorrichtungen flexibler zu gestalten, so dass die Mittel und Kapazitäten der NATO - darunter auch die ganz entscheidenden Aufklärungs- und Logistikkapazitäten der Vereinigten Staaten - bei einer künftigen Operation unter Leitung der EU zum Einsatz kommen können. Deswegen ist die NATO zur Unterstützung der Europäischen Union bereit, indem sie die kollektiven Mittel und Kapazitäten für Einsätze zur Verfügung stellt, an denen die NATO als Organisation militärisch nicht beteiligt ist.

Zweitens werden auch die NATO-Länder, die nicht zur Europäischen Union gehören, die Möglichkeit haben, sich an Einsätzen unter Leitung der EU zu beteiligen. Diese Länder bilden seit Jahrzehnten einen wichtigen Bestandteil der europäischen Sicherheitsformel. Auch gegenwärtig arbeiten sie an der Seite ihrer Partnerländer aus der Europäischen Union, um den Frieden auf dem Balkan zu bewahren. Unter Achtung der Unabhängigkeit des Entscheidungsprozesses der EU sollten sie sich doch zukünftig gleichwohl so umfassend wie möglich an den Missionen unter Leitung der EU beteiligen können. Deswegen arbeiten wir zusammen mit den Alliierten, die nicht der EU angehören, an Konsultations- und Beteiligungsdispositionen. Es müssen unbedingt zufriedenstellende Lösungen für alle Länder gefunden werden, denn die ESVI wird nur dann Erfolg haben, wenn den sicherheitspolitischen Wünschen und Interessen aller beteiligten Parteien entsprochen wird.

Und drittens ist die ESVI im Unterschied zu ihren vorherigen, allzu philosophisch befrachteten, aber hinsichtlich der Resultate mageren Erscheinungsformen heute auf konkrete Kapazitäten hin ausgerichtet. Das "umfassende Ziel", das in der Einrichtung einer schnellen Einsatztruppe mit 60.000 Mann bis zum Jahre 2003 besteht, zeigt, dass die EU begriffen hat, über ein schlichtes institutionelles Gefüge hinausgehen zu müssen. Tatsächlich machen die ersten Anzeichen Mut: einige Mitgliedsländer der EU haben bereits damit begonnen, die Kürzungen in ihrem verteidigungspolitischen Haushalt auszusetzen, und viele von ihnen haben neue Prioritäten gesetzt, die auf den Erwerb der in dem neuen Sicherheitsumfeld erforderlichen Einsatzmittel ausgerichtet sind. Die NATO begrüßt dieses Umdenken zur Ausbildung neuer Kapazitäten mit lebhafter Genugtuung, denn bessere europäische Kapazitäten stehen damit auch der Allianz zur Verfügung. Die ESVI wird Europa stärken, und ein stärkeres Europa bedeutet eine stärkere Allianz.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine ernsthafte und nachhaltige europäische Sicherheitsidentität nicht nur voll und ganz mit aufgeklärten transatlantischen Beziehungen vereinbar ist, sondern beider Erfolg bedingt sich wechselseitig. Folglich ist der einzuschlagende Weg klar, auch wenn wir mit unseren Bemühungen noch längst nicht am Ende stehen: Wir müssen uns auf eine neue transatlantische Ausgangslage zubewegen, die den Realitäten eines neuen Jahrhunderts entspricht.

Übersetzung Forum (MT)



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