Eine Europäische
Verteidigungs- und Sicherheitsidentität (EVSI) gewinnt zügig
an Gestalt. Im Laufe der letzten beiden Jahre hat die Europäische
Union ausgesprochen wichtige, sowohl politische als auch institutionelle
Vorkehrungen getroffen, um eine wirkliche Krisenbewältigungskapazität
herauszubilden. Außerdem knüpfen die NATO und die EU
enge Beziehungen und arbeiten an einem Vertrauensverhältnis.
Im Vergleich zu den Versuchen in der Vergangenheit, eine stärkere
europäische Verteidigung zu errichten, hat die jetzige Entwicklung
ein überraschend schnelles Tempo eingeschlagen.
In manchen
Augen gibt dieses beschleunigte Entwicklungstempo sogar zu Beunruhigung
Anlass. Einige fragen sich, warum die NATO die Bestrebungen der
Europäischen Union unterstützen sollte. Warum sollte der
Europäischen Union der Rücken gestärkt werden, wo
sie doch dadurch auf dem Gebiet der europäischen Sicherheitsbelange
nur zu einem Konkurrenten heranwachsen würde?
Diese Fragen
treffen allerdings nicht den Kern des Problems. Sicherheit ist kein
Spiel, bei dem es einen Gewinner und einen Verlierer gäbe und
in dem eine Fortentwicklung der EU automatisch einen Rückschritt
für die NATO bedeuten würde. Diese steht einer sicherheitspolitischen
Stärkung der Rolle Europas aus spezifisch strategischen Gründen
positiv gegenüber. Es sind im wesentlichen drei:
Zum einen ist
die europäische Integration so weit fortgeschritten, dass eine
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - zusammen mit den
dafür nötigen militärischen Kapazitäten - schlicht
greifbar geworden ist. Niemand macht sich Illusionen über die
Zeit und den Aufwand, die nötig sein werden, bevor eine wirkliche
GASP konkret Gestalt annimmt, aber die Entwicklung in diese Richtung
ist unumkehrbar. Die NATO, die die europäische Integration
stets unterstützt hat, muss dieser neuen Realität Rechnung
tragen.
Darüber
hinaus fällt es zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges immer
schwerer, die Gründe zu erklären, warum eine Europäische
Union, die in wirtschaftlicher Hinsicht mit den Vereinigten Staaten
mithalten kann, seiner Aufgabe nicht voll gerecht wird, wenn es
darum geht, regionale Konflikte in ihrer eigenen, unmittelbaren
Nachbarschaft zu lösen. Das Ungleichgewicht, das im Zuge der
Kosovo-Intervention zutage getreten ist, bei der die Vereinigten
Staaten einen ungleich größeren Teil der militärischen
Belastung auf sich genommen haben, ist politisch gesehen langfristig
nicht tragbar. Die Vereinigten Staaten erwarten eine gerechtere
transatlantische Lastenteilung, und Europa muss in seinem eigenen
Interesse darauf vorbereitet und dazu bereit sein, sich stärker
zu beteiligen.
Außerdem
werden auch in Zukunft Krisensituationen in Europa nach dem Ende
des Kalten Krieges entstehen, aber nicht alle Regionalkonflikte
werden notwendigerweise die strategischen Interessen der Vereinigten
Staaten in gleichem Maße berühren wie die europäischen.
Als euroatlantische Gemeinschaft haben wir die Verpflichtung, uns
auf Situationen vorzubereiten, in denen die Vereinigten Staaten
nicht in vorderster Front stehen wollen. In solchen Fällen
müssen die Europäer dazu in der Lage sein, sich selbst
der Aufgabe zu stellen, und so organisiert sein, dass sie die politische
als auch die militärische Leitung übernehmen können.
Wenn wir in Krisenperioden nicht mehr auf die alternativlose Lösung
NATO beschränkt sein werden, wird ein großer Fortschritt
vollzogen worden sein.
Aus diesen
drei Gründen wird die ESVI weniger eine fakultative Bereicherung
bedeuten, als vielmehr eine Voraussetzung zu einer ausgeglicheneren
transatlantischen Beziehung und damit auch zu einer NATO, die auf
einer solideren Grundlage beruhen wird. Wenn von ESVI die Rede ist,
geht es nicht um institutionelle Rivalität, sondern um Synenergie,
nicht um institutionelle Konkurrenz, sondern um eine Ausweitung
unseres Optionsspektrums als Antwort auf Krisen.
Die sich herausbildenden
Beziehungen zwischen NATO und EU zeugen von diesen Realitäten.
Auch hier möchte ich drei Hauptgründe hervorheben.
Erstens wird
es keine unnütze Überschneidung von NATO und Europäischer
Union geben. Die NATO ist in kollektiven Sicherheitsbelangen allein
zuständig und wird auch - dieser Punkt ist nicht minder wichtig
- das bevorzugte Instrument bleiben, wenn eine Zusammenarbeit im
Interesse Europas und Nordamerikas liegt. Angesichts der Tatsache,
dass alle unsere Länder nur über eine einzige Gesamtheit
an Streitkräften verfügen, wäre eine Errichtung einer
europäischen "Mini-NATO" neben der bereits bestehenden Organisation
unsinnig. Die Lösung besteht vielmehr darin, die existierenden
Vorrichtungen flexibler zu gestalten, so dass die Mittel und Kapazitäten
der NATO - darunter auch die ganz entscheidenden Aufklärungs-
und Logistikkapazitäten der Vereinigten Staaten - bei einer
künftigen Operation unter Leitung der EU zum Einsatz kommen
können. Deswegen ist die NATO zur Unterstützung der Europäischen
Union bereit, indem sie die kollektiven Mittel und Kapazitäten
für Einsätze zur Verfügung stellt, an denen die NATO
als Organisation militärisch nicht beteiligt ist.
Zweitens werden
auch die NATO-Länder, die nicht zur Europäischen Union
gehören, die Möglichkeit haben, sich an Einsätzen
unter Leitung der EU zu beteiligen. Diese Länder bilden seit
Jahrzehnten einen wichtigen Bestandteil der europäischen Sicherheitsformel.
Auch gegenwärtig arbeiten sie an der Seite ihrer Partnerländer
aus der Europäischen Union, um den Frieden auf dem Balkan zu
bewahren. Unter Achtung der Unabhängigkeit des Entscheidungsprozesses
der EU sollten sie sich doch zukünftig gleichwohl so umfassend
wie möglich an den Missionen unter Leitung der EU beteiligen
können. Deswegen arbeiten wir zusammen mit den Alliierten,
die nicht der EU angehören, an Konsultations- und Beteiligungsdispositionen.
Es müssen unbedingt zufriedenstellende Lösungen für
alle Länder gefunden werden, denn die ESVI wird nur dann Erfolg
haben, wenn den sicherheitspolitischen Wünschen und Interessen
aller beteiligten Parteien entsprochen wird.
Und drittens
ist die ESVI im Unterschied zu ihren vorherigen, allzu philosophisch
befrachteten, aber hinsichtlich der Resultate mageren Erscheinungsformen
heute auf konkrete Kapazitäten hin ausgerichtet. Das "umfassende
Ziel", das in der Einrichtung einer schnellen Einsatztruppe mit
60.000 Mann bis zum Jahre 2003 besteht, zeigt, dass die EU begriffen
hat, über ein schlichtes institutionelles Gefüge hinausgehen
zu müssen. Tatsächlich machen die ersten Anzeichen Mut:
einige Mitgliedsländer der EU haben bereits damit begonnen,
die Kürzungen in ihrem verteidigungspolitischen Haushalt auszusetzen,
und viele von ihnen haben neue Prioritäten gesetzt, die auf
den Erwerb der in dem neuen Sicherheitsumfeld erforderlichen Einsatzmittel
ausgerichtet sind. Die NATO begrüßt dieses Umdenken zur
Ausbildung neuer Kapazitäten mit lebhafter Genugtuung, denn
bessere europäische Kapazitäten stehen damit auch der
Allianz zur Verfügung. Die ESVI wird Europa stärken, und
ein stärkeres Europa bedeutet eine stärkere Allianz.
Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass eine ernsthafte und nachhaltige europäische
Sicherheitsidentität nicht nur voll und ganz mit aufgeklärten
transatlantischen Beziehungen vereinbar ist, sondern beider Erfolg
bedingt sich wechselseitig. Folglich ist der einzuschlagende Weg
klar, auch wenn wir mit unseren Bemühungen noch längst
nicht am Ende stehen: Wir müssen uns auf eine neue transatlantische
Ausgangslage zubewegen, die den Realitäten eines neuen Jahrhunderts
entspricht.
Übersetzung
Forum (MT)
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