Zeitschrift
GASP
Zeitschrift Der Herausgeber Synthesen Verträge/ Gesetze Institutionen / Wahlen Literatur Unsere Partner

Startseite
Europa
Gasp - Verteidigung
Recht
Wirtschaft
Kultur
Eintrag
Streichung


• Die gemeinsamen Standpunkte transatlantischer Partnerschaft
Die größte Herausforderung wird die Frage sein, ob die westlichen Demokratien ihr Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft wiederfinden. Der Kalte Krieg mag zu Ende sein, doch Geschichte und Geographie sind deshalb noch lange nicht verschwunden. Ob die atlantische Allianz den neuen Anforderungen gewachsen ist, wird sich in der Art und Weise zeigen, wie sie mit Themen der traditionellen Sicherheit umgeht und wie erfolgreich sie Stabilität in Osteuropa, entlang der europäischen Südgrenzen und im Mittleren Osten fördern kann.
Die Sicherheitsfrage stellt sich dar als eine Versicherung gegenüber einem neuerlichen russischen Imperialismus sowie in Form einer Raketenabwehr und einer neuen europäischen Streitmacht.
©2001
Henry KISSINGER - US-Außenminister a.D. - Präsident der
internationalen Konsultingfirma Kissinger Associates


Das Unbehagen europäischer Medien und Politiker gegenüber der amerikanischen Wahl, begründet mit dem Wunsch nach Kontinuität, stellt im Grunde ein bemerkenswertes Paradox dar: Warum Kontinuität, wenn die transatlantischen Beziehungen in der Vergangenheit alles andere als harmonisch waren?

Unsere Verbündeten, Großbritannien größtenteils ausgenommen, haben sich oft demonstrativ von Sanktionen gegen Kuba, den Iran oder den Irak, und von der amerikanischen Politik gegenüber der Nahostkrise und Taiwan distanziert. Sie haben öffentlich ihren Widerspruch zu den Plänen einer nationalen Raketenabwehr erklärt, u.a. - und ausdrücklich im Namen von ganz Europa - bei einer gemeinsamen Pressekonferenz des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Europäische Union ist dabei, eine Militärstreitmacht aufzustellen, die institutionell von der NATO unabhängig ist. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist eine gemeinsame Politik gegenüber der Sowjetunion individuellen Bemühungen der NATO-Partner um eigene „besondere Beziehungen" zu Moskau gewichen.

Die Differenzen im Bereich der Wirtschaftspolitik sind sogar noch augenscheinlicher. Die USA haben Vergeltungsmaßnahmen gegen Europa in der Bananen- und Rindfleischfrage angedroht, und die Europäische Union droht den USA mit einer Besteuerung amerikanischer Exporte. Die beiden Seiten sind an einem toten Punkt angelangt, wo nicht mehr klar ist, wie oder ob überhaupt, neue multilaterale Handelsabkommen lanciert werden können. Ein weiterer Streit in der Frage der Energiepolitik droht, insbesondere, wenn die Ölpreise hoch bleiben.

Ebenso bemerkenswert ist die wachsende Entfremdung zwischen den Kontinenten. Mehr Amerikaner und Europäer als jemals zuvor bereisen den jeweils anderen Kontinent, doch reisen sie in einem Kokon vorgefasster Meinungen oder beruflicher Beziehungen, ohne sich Wissen über die Geschichte oder die Politik der anderen Seite anzueignen. Andererseits werden die USA in den Massenmedien gleichgesetzt mit Todesstrafe, dem Fehlen einer gesetzlichen Krankenversicherung, einer ungeheuren Zahl von Gefängnisinsassen und anderen vergleichbaren Stereotypen. In solch einer Atmosphäre drängen viele Befürworter einer europäischen Integration auf eine Einheit, mit der man sich von den USA abgrenzen, sich ihnen vielleicht sogar entgegenstellen könnte.

Die Clinton Regierung hat unbeantwortete Fragen hinterlassen: Ist die Atlantische Allianz noch das Zentrum der transatlantischen Beziehungen? Wenn ja, wie lässt sich ihre Aufgabe in einer Welt nach dem Ende des Kalten Krieges definieren? Wenn nicht, was kann an ihre Stelle gesetzt werden, um die transatlantischen Beziehungen zu stützen?

Paradox daran ist, dass die persönlichen Beziehungen zwischen den Regierungschefs zu beiden Seiten des Atlantik während der neunziger Jahre erstaunlich freundschaftlich geblieben sind. Dies war jedoch weniger auf übereinstimmende politische Sichtweisen zurückzuführen als auf gemeinsame persönliche Erfahrungen, da sie die erste Generation von Regierungschefs bildeten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist. Die Gründerväter der Allianz gingen von dem Wohlwollen der amerikanischen Macht und der Bedeutung einer verbündeten Einheit aus. Ihre Söhne und Töchter, die während der Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre groß geworden sind, entwickelten indes ein tiefes Misstrauen gegenüber der amerikanischen Macht. Bestenfalls wollten sie, dass Amerika seine Macht nur für universale, über nationales Interesse hinausgehende Zwecke einsetzt.

Die Gründerväter sahen die Allianz als den Beginn für eine Union von Demokratien. Die Generation der Regierungschefs der 90er Jahre sah die NATO als ein Relikt des Kalten Krieges, wenn nicht als ein Hindernis, ihn zu überwinden. Ihre Ziele bestanden weniger darin, die Allianz zu stärken als „die Trennungslinien aufzuheben". So hat Präsident Clinton in einer Pressekonferenz mit dem russischen Präsidenten Boris Jeltzin im März 1997 „die alte NATO" beschrieben als „im Grunde ein Spiegelbild des Warschauer Paktes", und hat damit ein freiwilliges Bündnis von Demokratien gleichgesetzt mit einem Bündnis, das die Sowjetunion den unterworfenen Ländern aufgezwungen hatte.

Der Schlüssel zu diesem Paradox ist, dass im gesamten Westen Außenpolitik mehr denn je eine Funktion der Innenpolitik geworden ist. Da die Mitte-Links-Regierungen Europas durch die Einführung marktorientierter Wirtschaftsreformen ihre radikalen Flügel enttäuscht haben, wollen sie diese durch eine nationale Sicherheitspolitik, die mit der USA identifiziert werden könnte, nicht noch weiter gegen sich aufbringen. Andererseits kam die innenpolitische Opposition gegen Clintons Außenpolitik hauptsächlich von rechts. Wegen dieser innenpolitischen Differenzen sahen die Regierungschefs Europas keinen Widerspruch zwischen ihrer persönlichen Bewunderung — und Sympathie - für Clinton und einer lautstarken Opposition gegenüber einer Politik, der er sich, wie sie dachten, nicht wirklich entziehen konnte.

So kam es, dass die harmonischsten Begegnungen zwischen den europäischen Regierungschefs und Präsident Clinton auf sogenannten „Dritte-Weg-Treffen" internationaler — überwiegend europäischer — sozialdemokratischer Regierungschefs stattfanden. Es handelte sich dabei um Zusammenkünfte, auf denen Politiker von Mitte-Links-Regierungen sich programmatisch auseinandersetzen, nachdem sie sich in der Reagan-Thatcher-Revolution den Marktgesetzen fügen mussten. Aus diesem Grunde ist der sozialdemokratische Staatschef Portugals zu diesen Treffen eingeladen worden, der konservative Regierungschef Spaniens jedoch nicht; aus diesem Grunde nahm auch der sozialistische Premierminister Frankreichs teil, während der konservative französische Präsident ausgeschlossen war. Indem Clinton an diesen Treffen regelmäßig teilnahm, unterstützte er durch das Prestige der amerikanischen Präsidentschaft einseitig die Sache der Innenpolitik der dort repräsentierten Länder.

Die Machtübernahme durch eine republikanischen Regierung ändert unweigerlich Amerikas Blickwinkel bei den Gesprächen mit Europas Regierungschefs. Künftige Gespräche werden nun weniger auf Persönlichkeiten ausgerichtet sein denn auf die Schaffung eines tragfähigen transatlantischen Dialoges, der auf gemeinsamen, beständigen, nationalen — und nicht Partei- - Interessen beruht. Die bisherige Bilanz des neuen nationalen Sicherheitsteams in Washington macht es sehr wahrscheinlich, dass der Aufgabe, die Allianz wiederzubeleben, höchste Priorität gegeben wird.

Die größte Herausforderung wird die Frage sein, ob die westlichen Demokratien ihr Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft wiederfinden. Der Kalte Krieg mag zu Ende sein, doch Geschichte und Geographie sind deshalb noch lange nicht verschwunden. Ob die atlantische Allianz den neuen Anforderungen gewachsen ist, wird sich in der Art und Weise zeigen, wie sie mit Themen der traditionellen Sicherheit umgeht und wie erfolgreich sie Stabilität in Osteuropa, entlang der europäischen Südgrenzen und im Mittleren Osten fördern kann.

Die Sicherheitsfrage stellt sich dar als eine Versicherung gegenüber einem neuerlichen russischen Imperialismus sowie in Form einer Raketenabwehr und einer neuen europäischen Streitmacht (Euroforce).

Ein neuer transatlantischer Dialog in der Frage der Raketenabwehr ist dringend erforderlich. Kritiker in Europa müssen sich fragen lassen, ob man von einem amerikanischen Präsidenten ernsthaft erwarten kann, dass er sein Volk den Drohungen einer wachsenden Nukleartechnologie ungeschützt ausliefert. Amerikanische Politiker müssen einen Weg finden, die Relevanz ihres Anliegens und ihrer Strategie für europäische Interessen aufzuzeigen. Beide Seiten haben die Verpflichtung, ein Konzept der Abschreckung zu überdenken, das im Falle eines Scheiterns binnen weniger Stunden Millionen und Abermillionen Tote fordern könnte.

Was die europäische Armee betrifft, so ist die Schlüsselfrage nicht, ob Europa eine autonome Stimme haben soll oder nicht, sondern ob die europäische Streitmacht nicht eine Zersplitterung der Ressourcen bedeutet und was Europa überhaupt mit Autonomie meint. Wie können überdies die strategischen Ziele von Euroforce mit den in fast allen europäischen Ländern abnehmenden Verteidigungsbudgets vereinbart werden? Und was bedeutet in der Praxis eine Autonomie, nach der - im EU-Sprachgebrauch - Euroforce nur dort eingreift, wo die „NATO als Ganzes nicht betroffen ist"?

Eine abgesprochene Arbeitsteilung ist vorstellbar, wobei jedoch dafür Sorge getragen werden muss, dass nicht der Eindruck einer allzu weitgehenden Loslösung von Amerika entsteht, was andere Länder nämlich nur dazu einladen würde, Druck auszuüben. Aber was passiert, wenn die EU ohne Übereinstimmung mit den Vereinigten Staaten handelt, das heißt, wenn de facto alle Mitgliedsstaaten der Allianz außer Amerika und Kanada Krieg führten? Würde Euroforce in solch einem Fall auf die NATO-Logistik und die Aufklärungskapazitäten zurückgreifen können, die doch hauptsächlich Amerika gehören?

Außerdem lässt sich die Frage stellen, ob die Amerikaner bei NATO-Zusammenkünften auf Amtskollegen treffen werden, die schon eine kollektive EU-Entscheidung beschlossen haben und damit der NATO Operationen aufzwingen, die im Gegensatz zu ihrer Geschichte stehen. Europäische Regierungschefs, die eine Raketenabwehr in Frage stellen, weil sie zur Abkoppelung amerikanischer Sicherheitsinteressen von Europa führen könnte, sollten vorsichtig vorgehen, damit keine Institutionen entstehen, die dann unweigerlich zu einer politischen Abkoppelung führen werden.

Der entscheidende Prüfstein wird sein, inwieweit es gelingt, politische Übereinstimmung innerhalb der transatlantischen Beziehungen wiederherstellen zu können. Gelingt dies nicht, könnte aus Euroforce die denkbar schlechteste Situation erwachsen: die NATO-Prozesse könnte dadurch behindert und die alliierte Zusammenarbeit beeinträchtigt werden, ohne dass damit eine gesteigerte alliierte militärische Schlagkraft oder signifikante europäische Autonomie einherginge.

Die transatlantische Beziehung sieht sich bedeutenden geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen gegenüber. Im Osten der NATO und der EU enden die innenpolitischen Neuordnungsprozesse im Anschluss an den Zusammenbruch der Sowjetunion, und sei es nur deswegen, weil die Generation, welche die Macht erbte, nunmehr von der Bühne tritt. Chaos (oder russische Herrschaft) droht, wenn die Nationen, die an den Nordatlantik grenzen, dies nicht als ein gemeinsames Problem betrachten und mit einer gemeinsamen Politik darauf reagieren. Es ist von besonderer Wichtigkeit, die Einigkeit bei den Bemühungen zu verbessern, Russland in die internationale Staatengemeinschaft zu integrieren. Obwohl jeder NATO-Partner erklärt, es diene dem gemeinsamen Interesse, ist ein Konsens darüber, was ein gemeinsamen Interesse darstellt, bislang nicht zu erreichen gewesen.

Die Zukunft im Mittelmeerraum und dem Mittleren Osten stellt eine ähnliche Herausforderung dar. Der Druck von Globalisierung und Bevölkerungswachstum könnte dort zu einer Periode des Übergangs und der Unruhe führen, welche das postkommunistische Chaos im Balkan wie ein Kinderspiel aussehen lässt. Die Förderung von Stabilität im Persischen Golf bleibt für beide Seiten des Atlantiks unerlässlich, um den Zugang zu bezahlbarer Energie zu sichern.

Die Gefahr einer wirtschaftlichen Rezession macht deutlich, wie wichtig kooperative Maßnahmen zwischen denjenigen Nationen sind, die weit über die Hälfte der weltweiten Produktivkraft darstellen. Für Europa stellt dies auch ein demographisches Problem dar. In fast allen europäischen Ländern wird die Geburtenrate nicht einmal ausreichen, die momentane Bevölkerungszahl aufrechtzuerhalten, eine Bevölkerungszahl, die schon jetzt nicht ausreicht, um die Nachfrage nach Arbeit zu decken. Der Anteil derjenigen, die durch eine zurückgehende Erwerbsbevölkerung unterstützt werden müssen, wird dramatisch ansteigen: Die Gesamtbevölkerung der meisten europäischen Staaten wird jäh fallen und damit den Druck zur Erleichterung der Einwanderung - mit all ihren politischen, sozialen und kulturellen Folgen - nur noch verstärken.

All diese Aufgaben könnten auf der Tagesordnung eines transatlantischen Dialogs stehen. Durch ihr Vorgehen und größtenteils auch durch ihre Zielsetzungen versucht die Europäische Union jedoch bisher, die Vereinigten Staaten auf Distanz zu halten. Wann immer amerikanische Diplomaten auf Sprecher des supranationalen Europas treffen, müssen sie feststellen, dass ihre Gesprächspartner wenig Spielraum haben, weil Entscheidungen des EU-Ministerrates (dem die Vereinigten Staaten noch nicht einmal als Beobachter angehören) nur geändert werden können, wenn sie den gesamten europäischen Verfahrensprozess durchlaufen. In wirtschaftspolitischer Hinsicht trocknen die traditionellen Kanäle amerikanisch-europäischer Zusammenarbeit langsam aus. Und entsprechende Verfahren werden nun auch für Außen- und Sicherheitspolitik vorgeschlagen. Es muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen den beiden folgenden Polen: Entweder handeln die Vereinigten Staaten so, als ob sie ein Mitglied der EU-Institutionen wären, oder sie werden ausgegrenzt, so dass sie noch nicht einmal an Gesprächen teilnehmen können, die ihre ureigensten Interessen berühren.

Kurz gesagt, was die Allianz braucht, ist nicht so sehr Kontinuität als ein Gespür für die einzuschlagende Richtung. Sind die hier geschilderten Herausforderungen schlicht die Nebeneffekte einer engeren europäischen Integration oder stellen sie eine bewusste (oder unbewusste) Entscheidung Europas dar, eine gesonderte, konkurrierende Zukunft zu schaffen? Von der Antwort auf diese Frage kann die Zukunft von Freiheit und Frieden abhängen.

Übersetzung Forum (MT)



© Alle Rechte vorbehalten.