Zeitschrift
GASP
Zeitschrift Der Herausgeber Synthesen Verträge/ Gesetze Institutionen / Wahlen Literatur Unsere Partner

Startseite
Europa
Gasp - Verteidigung
Recht
Wirtschaft
Kultur
Eintrag
Streichung


• Auf dem Weg zu einem neuen Gleichgewicht
zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ?
Heute bestehen zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg ernst zu nehmende Risiken eines Abkoppelungsprozesses zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Die vorangegangenen transatlantischen Missverständnisse mochten schwerwiegender sein und ernstere Fragen berühren, doch bildete der Kalte Krieg ein festes Bindeglied. Er verlieh einer gewissen amerikanischen Arroganz in aller Augen Legitimität. Es herrschte eine wirkliche Bedrohung, und der dargebotene Schutz war großzügig und effizient. Und so konnte man von Amerika fast alles akzeptieren. Das ist heute nicht länger der Fall. Die transatlantischen Beziehungen müssen sich in Ermangelung der sowjetischen Bedrohung auf einer noch zu schaffenden Grundlage neu ausrichten. © 2001
Dominique MOÏSI - Stellvertretender Direktor des Institut Français
des Relations Internationales
- IFRI (Institut für internationale
Beziehungen) - Chefredakteur der Zeitschrift Politique Etrangère


Sind wir mehr als zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer durch die neu gewählte Regierung von Bush Jr. im Begriff, in die eigentliche Zeit nach dem Kalten Krieg einzutreten? Waren die Clinton-Jahre nichts weiter als ein achtjähriges Intermezzo, eine Klammer oder - schlichter - eine Übergangsphase zwischen zwei Welten? Heute bestehen zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg ernst zu nehmende Risiken eines Abkoppelungsprozesses zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Die vorangegangenen transatlantischen Missverständnisse mochten schwerwiegender sein und ernstere Fragen berühren, doch bildete der Kalte Krieg ein festes Bindeglied und verlieh einer gewissen amerikanischen Arroganz in aller Augen Legitimität. Es herrschte eine wirkliche Bedrohung, und der dargebotene Schutz war großzügig und effizient. Und so konnte man von Amerika fast alles akzeptieren.

Das ist heute nicht länger der Fall. Natürlich ist Amerika mächtiger denn je, doch ist dieses Faktum vielleicht die einzige Konstante zwischen der Welt von gestern und der Welt von heute. Die transatlantischen Beziehungen müssen sich in Ermangelung der sowjetischen Bedrohung auf einer noch zu schaffenden Grundlage neu ausrichten. Die Globalisierung und die von vielen - natürlich vor allem von Franzosen - vorgenommene Gleichsetzung zwischen Amerikanisierung und Globalisierung hat den Bereich, den wir vor nicht allzu langer Zeit noch internationale Beziehungen nannten, ausgeweitet und damit auch die Natur der transatlantischen Missverständnisse. Früher, z.B. während des Vietnamkrieges, waren die Vereinigten Staaten wegen ihres außenpolitischen Verhaltens kritisiert worden. Zur Zeit gibt ihr Wesen selbst - das, was Amerika ist mehr noch als das, was es tut - zu einem wachsenden Antiamerikanismus Anlass. Das gilt unstrittig für Frankreich, aber darüber hinaus auch in anderen europäischen Ländern. Wie kann ein Land, das sich bisweilen als "Licht der Welt" bezeichnet, als demokratisches Vorbild, so wenig Zivilisation besitzen und immer noch die Todesstrafe praktizieren?

Über die widersprüchlichen Interessenlagen hinaus, die zwischen Europa und den Vereinigten Staaten herrschen mögen, werden demnach in der Zukunft wesentliche Unterschiede in der Grundausrichtung bestehen, die umso stärker zutage treten können, als wir nicht mehr durch eine gemeinsame Bedrohung geeint sind und unsere Werte bei grundlegenden Gesellschaftsthemen durchaus divergieren. Wenn Amerika den Ausdruck "In God We Trust", wie er auf seinen Dollarscheinen prangt, wörtlich nimmt und ihm eine dem Puritanismus der Gründungsväter nahestehende Bedeutung gibt, dann kann sich Europa, das dem gemeinsamen Geist der Aufklärung im 18. Jahrhundert deutlich stärker verbunden ist, hinsichtlich der Grundwerte teilweise allein gelassen vorkommen.

Im Hinblick auf die traditionelle Diplomatie, die heute nicht mehr denselben Stellenwert besitzt wie früher, lassen sich die hauptsächlichen transatlantischen Reibungsflächen in fünf Punkten zusammenfassen: das Raketenabwehrsystem, ein verteidigungspolitisches Europa, die NATO-Erweiterung, der Bestand der amerikanischen Truppen auf dem Balkan sowie der internationale Handel. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen für Europa, sich dem Projekt zu einem Anti-Raketen-Schild zu widersetzen, dem die Amerikaner, die seit Pearl-Harbor davon träumen, den natürlichen, ehemals geographisch bedingten Schutz durch modernste und effizienteste Spitzentechnologie zu ersetzen, den allergrößten Wert beimessen. Handelt es sich dabei um eine kostspielige Utopie? Das wird sich zeigen. Viele Europäer könnten jedenfalls der Versuchung erliegen, eine verständnisvolle Zurückhaltung angesichts der "missile defense" gegen die Unterstützung, zumindest aber eine weniger offensichtliche Kritik der Vereinigten Staaten an der Schaffung einer eigenständigen Verteidigungsidentität in Europa einzutauschen. Anders als viele Vertreter der neuen amerikanischen Regierung zu glauben scheinen, bedeutet mehr Europa nicht weniger, sondern ein Mehr an Allianz. Und je größer der Beitrag Europas zu seiner Sicherheit ist, desto weniger leicht wird Amerika den betörenden Klängen des Neoisolationismus nachgeben!

Vergebens würde sich Europa auch einer NATO-Erweiterung um die baltischen Republiken widersetzen, die so offensichtlich dem innigen Wunsch der Beitrittsländer entspricht. Aber wie sollte Amerika dann die Erweiterungslogik der NATO mit der Logik eines einseitigen und vorzeitigen Rückzugs seiner Truppen aus dem Balkan miteinander vereinbaren? Auf diesen Widerspruch verweisen nicht allein die Europäer. Auch in Amerika ist daran im Vorfeld häufig Kritik laut geworden.

Wenn man nun von den Sicherheitsfragen zu den Handelsfragen übergeht, dann unterliegt das Gleichgewicht zwischen Europa und den Vereinigten Staaten einem Wandlungsprozess. Im Hinblick auf den internationalen Handel ist Europa nicht anders als die Vereinigten Staaten eine klassische Supermacht, und Pascal Lamy kann mit seinem Amtspartner Robert Zoellic gleichberechtigt Verhandlungen führen. Die künftige Zielsetzung der Europäer muss darin bestehen, das existierende währungs- und handelspolitische Gleichgewicht auf alle Bereiche zu übertragen. Gegenwärtig scheint dieses Ziel unerreichbar; aber wer weiß? Eines ist jedenfalls gewiss: je gleichberechtigter die transatlantischen Beziehungen sein werden, als desto stabiler und dauerhafter werden sie sich erweisen.

Übersetzung Forum (MT)



© Alle Rechte vorbehalten.