Achtzehn Jahre
nach Ronald Reagans "strategischer Verteidigungsinitiati-ve"
(SDI) von 1983, einer noch unausgereiften Vision, rückt mit
der Bush-Regierung ein erster ernsthafter Versuch über den
Horizont, Nordamerika eine räumlich begrenzte Flugkörperabwehr
zu geben. Die ersten Versuche mit Abfangraketen gegen einschwebende
Flugkörper während der Präsidentschaft Clintons blieben
zwar noch ohne Erfolg für den Bau zuverlässiger Systeme.
Doch der Erfolg ist absehbar. In Peking wie in Moskau rechnet man
damit für die kommenden zehn Jahre. Ein früherer Durchbruch
bei einer konzentrierten Anstrengung wird nicht ausgeschlossen.
Außerdem ist zu erwarten, daß die Haushaltsmittel auf
40 Milliarden Dollar für ein Fünfjahresprogramm erhöht
werden, nachdem zuvor Clinton die Ausgaben von vorgesehenen 36 Milliarden
1993 auf 18 Milliarden reduziert hatte.
In diesem Punkt
ist zu unterscheiden zwischen dem Aufbau einer zentralen strategischen
Flugkörperabwehr ("National Missile Defense", NMD) für
die Vereinigten Staaten, land- und seegestützt (auf Flugabwehr-Kreuzern
des AEGIS-Systems), und einer regionalen Abwehr (Theatre Missile
Defense", TMD) außerhalb Nordamerikas. Diese wäre bestimmt
zur Abschirmung amerikanischer Streitkräfte und Stützpunkte
in Übersee, einschließlich der Vorwärts-Stationierung
solcher beweglichen TMD-Systeme zur Deckung von Lande- und Operationszonen
auf Krisenschauplätzen. Beide Abwehrschirme würden einander
ergänzen, um eine globale Schwerpunktverteidigung gegen Raketenangriffe
geringen Ausmaßes zu errichten. Diese Kombination soll nach
den Berichten der "Hart-Rudman-Kommission", die vom Pentagon mit
der Studie Nationale Sicherheit/21. Jahrhundert" betraut wurde,
die künftige "Nationale Sicherheitsstrategie" Amerikas tragen.
Verteidigungsminister Rumsfeld, selbst ein langjähriger Anwalt
der Raketenabwehr, der gegen die Beibehaltung des Moskauer ABM-Vertrags
von 1972 ist, hat diese Schlussfolgerung im Prinzip akzeptiert.
Sowohl konventionelle
Kriege in Übersee als auch Interventionen zur Krisenbeherrschung
mit Expeditionskorps oder mit Spezialkräften für Polizeiaktionen
sowie humanitäre Aktionen unter bewaffnetem Schutz sollen in
der Raketenabwehr Rückhalt finden. Es handelt sich um eine
strategische Rückversicherung gegen die Bedrohung mit Massenvernichtungsmitteln,
die mit Raketen verschiedener Reichweiten und Zuladung (atomar,
biologisch/ toxisch, chemisch) entweder gegen Amerika selber oder
seine Truppen in Übersee sowie Verbündete möglich
werden könnte.
Es wird damit
deutlich, daß nicht eine stationäre Defensive, etwa auf
den maritimen Vorfeldern einer Kontinentalfestung Nordamerika, sondern
die Abschirmung einer offensiven Strategie zur Vereidigung und Förderung
vitaler nationaler Interessen weltweit das Ziel der kombinierten
Raketenabwehr sein soll: vor allem in Europa, im Mittleren Osten,
in Fernost und in Südostasien, wo Amerikas wertvolle und exponierte
Verbündete, dazu strategische Ressourcen wie Erdöl liegen
und wo das Gros der amerikanischen Streitkräfte in Übersee
stationiert ist. Diese Konzeption schließt Großbritannien,
Grönland (diese beiden Länder besonders für die Frühwarn-Großradaranlagen),
die Stützpunktländer mit Japan, Südkorea, Türkei
und ganz Westeuropa ein.
Auch die Clinton-Regierung
stand, wie der Bericht über die Nationale Sicherheitsstrategie
vom Mai 1997 verdeutlicht, hinter dieser Konzeption amerikanischer
Machtprojektion. Das, was die Hart-Rudman- Berichte "homeland security
capabilities" (also etwa "Heimatschutzfähigkeit") nennt, ist
das Rückgrat der amerikanischen Fähigkeit zur militärisch
abgestützten Weltpolitik, mit dem Engagement von Streitkräften
in Übersee. Dabei war auch von der Fähigkeit die Rede,
größere Kriege mit konventionellen Mitteln zu gewinnen.
Deutlicher
als früher kommt nun zum Ausdruck, daß künftig ein
umfassendes strategisches Instrumentarium angelegt werden soll,
in dem die Kernwaffen tatsächlich nur noch der "ultima ratio"
Minimalabschreckung dienen würden. Konventionelle Streitkräfte
und Spezialtruppen hätten alle Aufgaben flexibler operativer
Strategie unter dem Raketenabwehrschirm zu erfüllen. Getragen
wäre das von einer satellitär gestützten strategischen
Dominanz mit elektronischen Systemen zur Aufklärung, Raumüberwachung,
Störung gegnerischer, Sicherung eigener Fernmeldemittel und
großräumiger Führung der eigenen Kräfte. In
summa: Abschreckung durch rechtzeitige Vorwärts-Stationierung
von Truppen oder Flotteneinheiten in gefährdeten Krisengebieten,
Konfliktbeherrschung durch schnelles Eingreifen, Gegenproliferation
zur Beseitigung von Massenvernichtungsmitteln, notfalls Niederwerfung
und Entwaffnung von Angreifern gegen andere Länder unter amerikanischem
Schutz.
Zu diesem Zweck
braucht die amerikanische Globalstrategie Partner in allen Weltregionen,
die bereit sind, mitzuwirken. Sie würden dafür auch gegen
ABC-Drohungen abgeschirmt und könnten auf amerikanische Waffenhilfe
rechnen, wenn sie bedroht werden. Schon die Clinton-Regierung hatte
begonnen, um Kooperation beim Aufbau einer regionalen Flugkörperabwehr
zu werben: In Europa haben sich Italien und Deutschland schon durch
Abkommen mit Washington zur Weiterentwicklung der Flugabwehr in
eine taktische Flugkörperabwehr bereit erklärt, dazu die
Türkei und in Fernost Taiwan für den kooperativen Aufbau
von Abwehrsystemen. Mit Israel besteht ein Abkommen, Ägypten
ist es angeboten, mit Japan sind Verhandlungen über bestimmte
technische Komponenten für Kriegsschiffe aufgenommen. Ohne
eine nationale Raketenabwehr für die Vereinigten Staaten selbst
(in die Kanada eingefügt würde) fehlte der notwendige
Rückhalt.
Die europäischen
Nato-Partner werden die Frage beantworten müssen, warum Amerika
gegen Raketenbedrohung mit ABC-Massenvernichtungsmitteln ungeschützt
bleiben sollte, während es anderen Ländern militärisch
zu Hilfe kommt oder diese durch Truppen abschirmt. Der Moskauer
ABM-Vertrag von 1972 steht den amerikanischen Plänen entgegen,
kann aber "strategische Stabilität" gegen die Entwicklung
von Raketen für Kernwaffen "substrategischer" Reichweiten nicht
bewahren. Für die Lösung der Probleme mit derzeit 32 Staaten,
die Raketen besitzen oder entwickeln können, ist er als bilateraler
Vertrag ohnehin nicht geeignet.
Im europäischen
Interesse läge es darum, gemeinsam mit Amerika auf Rußland
einzuwirken, dem Aufbau einer kooperativen Raketenabwehr zur gemeinsamen
Sicherheit zuzustimmen. In Moskau hat das Umdenken hinter der schroffen
Verweigerungsfassade schon begonnen. Die Europäer werden die
alten Schützengräben des politischen Krieges mit Washington
über das SDI-Projekt von 1983 verlassen und die Frage der Rüstungskontrolle
im Licht der neuen Realität betrachten müssen.
Dieser Beitrag
basiert auf einem Artikel in der FAZ vom 23.Januar 2001
Veröffentlichungen
- "Deutschland als europäische Macht" - Bouvier,
1996.
- "Zeitenwende
in Europa" - DVA, 1990.
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