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• Begründung eines neuen Atlantizismus
Von Partnerschaft zu euroatlantischer Gemeinschaft
Trotz des bestehenden eklatanten Machtgefälles brauchen auch die USA internationale Partner und Verbündete, um eigene Interessen und Werte durchsetzen und bestehende Probleme in ihrem Sinne zu lösen. Das ist ihnen nur zusammen mit Europa möglich. Die aus gemeinsamen Wurzeln gewachsenen Werte und Interessen verbinden Europa und Amerika wie kaum zwei andere Weltregionen. Die transatlantische Partnerschaft lässt sich für die USA durch keine andere strategische Partnerschaft ersetzen. © 2001
Karsten D. VOIGT - Mitglied des Bundestag


Europa und Amerika sind heute durch Interessen, Kultur, Wirtschaft und moderne Kommunikationsmittel enger denn je miteinander verbunden. Die zunehmende Nähe eröffnet neue Chancen, lässt aber auch neue Reibungsflächen entstehen. Letztere sind jedoch unvermeidliche Begleiterscheinungen des transatlantischen Erfolgs.

Europa und Amerika haben im vergangenen Jahrzehnt sowohl sich selbst als auch ihre jeweilige Stellung im internationalen System stark verändert. Die USA sind die einzig verbliebene Weltmacht und haben erstmals in der Geschichte keine ebenbürtigen Gegner. Sie sind weltweit der einzige Staat, der zu dauerhafter globaler Projektion militärischer Macht in der Lage ist. Sie besitzen die leistungsfähigste Volkswirtschaft der Erde. Nur die Vereinigten Staaten sind in der Lage, eigene Normen und Standards (aktuellstes Beispiel ist das Internet) weltweit durchzusetzen. Kulturell besteht bei vielen Europäern das alte Überlegenheitsgefühl gegenüber den USA zwar fort, berechtigt ist es aber schon lange nicht mehr. Nicht nur für die Massengesellschaft setzen die USA seit langem weltweit die Maßstäbe. Auch bei Forschung und Lehre, im Film oder in der zeitgenössischen Kunst dominieren sie. Ihre globale Rolle begründet sich auf einer historisch einmaligen Synthese von wirtschaftlicher Stärke, weltweiter kultureller Meinungsführerschaft und militärischer Überlegenheit. Im amerikanischen Selbstgefühl gibt es derzeit weniger Grund denn je, andere Maßstäbe als die eigenen zur Richtschnur weltweiten Handelns zu nehmen.

Aber auch Europa hat sich verändert. Es ist dabei, sich in einen einheitlich auftretenden Akteur der Weltpolitik zu verwandeln, der zwar insbesondere im militärischen Bereich bei weitem nicht so mächtig sein wird wie die USA, aber immerhin das Potenzial hat — vor allem in der Wirtschafts-, Handels- und Währungspolitik —, in der gleichen Spielklasse anzutreten. Parallel zu den USA führt in Europa die Beschäftigung der Europäer mit innen- bzw. europapolitischen Problemen (Vertiefung und Erweiterung der Union) zu einem gewissen Grad dazu, die Aufmerksamkeit für außenpolitische Fragen zu verdrängen und für die europäische Außenpolitik immer stärker eigene Maßstäbe heranzuziehen.

Die Erweiterung der EU um Schweden, Finnland und Österreich sowie um das Gebiet der ehemaligen DDR wie auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit inzwischen 13 weiteren Kandidaten wird dazu führen, dass die EU — abgesehen von den europäischen Mitgliedern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) — mit Recht für Europa als Ganzes sprechen können wird. Die Vertiefung der Integration, u.a. durch Einbeziehung zusätzlicher Politikbereiche und die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen haben die Handlungsfähigkeit der EU insbesondere nach innen gestärkt. Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts 1993 und die Einführung des Euro 1999 haben Europa schon jetzt in Wirtschafts- und Währungsfragen zu einem nicht nur theoretisch gleichberechtigten, sondern auch praktisch annähernd gleichmächtigen und deshalb zu Recht zunehmend selbstbewussten Partner der USA werden lassen.

Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ist eine ähnliche Entwicklung auf absehbare Zeit nicht möglich. Doch tragen die Fortschritte der letzten Jahre auch auf diesem Gebiet zu rationaleren und effektiveren europäischen Entscheidungsprozessen bei. Die Entschlossenheit der Europäer, hier mehr zu tun, war die zwangsläufige Konsequenz aus der schmerzhaft empfundenen europäischen Schwäche, die ihnen während der Militäraktionen in Bosnien und im Kosovo klar vor Augen geführt wurde. Sie liegt aber auch in der Logik des europäischen Einigungsprozesses.

Die EU wird mit dem Vertrag von Amsterdam und den Beschlüssen von Köln und Helsinki auch im Bereich der kollektiven Sicherheit zu einem eigenständigeren Akteur. Das war nur möglich, weil erstens die Balkan-Krisen gezeigt haben, dass jenseits der von der NATO weiter abgedeckten Aufgabe der kollektiven Verteidigung eine gemeinsame Sicherheitspolitik in Europa notwendig wurde, und weil zweitens in der EU die bündnisfreien Mitgliedstaaten ihr sicherheitspolitisches Selbstverständnis so umdefinierten, dass sie die "Petersberg-Aufgaben" der EU mittragen konnten.

Innerhalb Europas haben sich auch Selbstverständnis und Rolle Deutschlands geändert. Heute ist das vereinigte Deutschland ausschließlich von Freunden umgeben und fühlt sich aktuell nicht mehr von außen bedroht. Seine Streitkräfte sind drastisch reduziert, die auf seinem Territorium stationierten fremden Truppen ganz oder überwiegend abgezogen. Deutschland braucht auf absehbare Zeit die transatlantische Partnerschaft nicht mehr, um sich, wie früher, vor äußerer Bedrohung zu schützen. Statt dessen braucht es sie, um gemeinsam mit den USA Demokratie, Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand in ganz Europa, auch über die gegenwärtigen Grenzen von NATO und EU hinaus, zu sichern. Anders ausgedrückt: Deutschland ist nicht mehr Konsument, sondern Produzent von Stabilität und Sicherheit in Europa.

Gegenseitige Interessen

Trotz des bestehenden eklatanten Machtgefälles brauchen auch die USA internationale Partner und Verbündete, um eigene Interessen und Werte durchsetzen und bestehende Probleme in ihrem Sinne zu lösen. Das ist ihnen nur zusammen mit Europa möglich. Die aus gemeinsamen Wurzeln gewachsenen Werte und Interessen verbinden Europa und Amerika wie kaum zwei andere Weltregionen. Die transatlantische Partnerschaft lässt sich für die USA durch keine andere strategische Partnerschaft ersetzen.

Weltweit geht es für die USA um die Eindämmung sicherheitspolitischer Risiken im weiteren Sinne, insbesondere durch Zusammenarbeit bei der Verhinderung der weiteren Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen, aber auch bei Umweltgefahren, internationalem Terrorismus oder organisiertem Drogenhandel. Es geht den USA ferner um die Sicherung regionaler Stabilität und die Stärkung demokratischer Strukturen, z. B. auf dem Balkan, in den Staaten der GUS, im Nahen Osten, die Eindämmung der von den USA so genannten "rogue states", um die weltweite Durchsetzung von Marktwirtschaft und freiem Welthandel. Und auf der Ebene der Werte haben die USA die Universalisierung ihrer eigenen Vorstellungen von persönlicher Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zum Ziel.

Ein gutes transatlantisches Verhältnis — einschließlich einer fortdauernden amerikanischen Präsenz in Europa — liegt auch im Interesse der Europäer, insbesondere der Deutschen. Die Dominanz der USA im Bereich der Sicherheitspolitik wird auf unabsehbare Zeit bestehen bleiben — selbst nach erfolgreicher Einführung einer gemeinsamen ESVP. Die Stärkung der EU in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird von Deutschland unterstützt, nicht, um Europa von den USA abzukoppeln, sondern um Europa fähig für eine Partnerschaft zu erhalten. In der Frage der kollektiven Verteidigung — weiterhin das Herzstück der NATO und des amerikanischen Engagements in Europa — besteht heute nur noch die Notwendigkeit zur Abdeckung eines Restrisikos. Darüber hinaus dient die Präsenz der USA in Europa als zusätzlicher Schutz vor dem Wiederaufkommen innereuropäischer Rivalitäten.

Die aktuelle Dynamik für gemeinsame sicherheitspolitische Aktionen Europas und Amerikas entsteht derzeit primär aus Fragen der regionalen Stabilisierung, der Krisenprävention und Krisenbewältigung, der Stabilisierung durch politische und wirtschaftliche Integration und der multilateralen Kooperation. Dabei geht es darum, ob und wie die USA und Europa im Rahmen von NATO, EU, UN und OSZE gemeinsam auf regionale Krisen und Konflikte in Europa und an dessen Peripherie reagieren. Es geht darum, gemeinsame Strategien zur multilateralen Einbindung und Integration Mittel-, Ost- und Südosteuropas zu entwickeln.

Die deutschen Interessen sind in diesem Bereich vielleicht sogar noch ausgeprägter als die manch anderer europäischer Staaten: Die Stabilisierung von Demokratie und Wirtschaft östlich der Grenze zur NATO und EU von 1989 und die internationale sowie multilaterale Einbindung dieser Staaten in die bestehenden Strukturen sind für Deutschland lebenswichtig. Es ist kein Zufall, dass die USA und Deutschland die treibenden Kräfte bei der Osterweiterung der NATO und der Gründung des Russland-NATO-Rates waren, genauso wie sie heute Advokaten einer zügigen Osterweiterung der EU sind.

Die Wirtschaftsstrukturen auf beiden Seiten des Atlantiks ergänzen sich. Die wechselseitige wirtschaftliche Verflechtung nimmt zu, insbesondere bei den Handels- und Kapitalströmen. Globale Konzerne sind heute in Wirklichkeit meist in ihrem Kern euroatlantische Unternehmen. Europa insgesamt und nicht etwa Asien ist größter Investor, Arbeitgeber und — abgesehen von Kanada — auch größter Handelspartner der USA. Jeder zwölfte amerikanische Arbeitnehmer arbeitet in einem europäisch geführten Unternehmen. Umgekehrt beschäftigen amerikanische Unternehmen über drei Millionen europäische Arbeitnehmer. Bei großen euroatlantischen Firmen wie DaimlerChrysler kann man durchaus von einer neuen Qualität der Wirtschaftsbeziehungen sprechen, die sich politisch und kulturell auswirken wird. Im Wirtschaftsbereich driften Europa und Amerika — trotz bestehender Interessenkonflikte — ganz sicher nicht auseinander, sondern kommen aufeinander zu. Damit wird die Wirtschaft, trotz gelegentlicher Konflikte, immer mehr zu einem verbindenden transatlantischen Faktor.

Die kulturelle Affinität zwischen beiden Räumen besteht weiter. Amerika und Europa besitzen ein gemeinsames Wertefundament und sind geschichtlich wie strukturell vergleichbare Zivilgesellschaften. Sie haben auch ein sehr ähnliches Verständnis von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat und ein Interesse am weltweiten Export dieser Werte.

Transatlantische Konflikte

Eine grundsätzliche transatlantische Differenz besteht allerdings im Grundprinzip, nach dem Amerika bzw. Europa ihre internationalen Beziehungen definieren — multilateral, isolationistisch oder unilateral. Im Rahmen dieser Modelle findet in den USA derzeit eine außenpolitische Diskussion statt, die eine historische Debatte zwischen alten außenpolitischen Schulen erneut aufgreift: zwischen den Anhängern Hamiltons, Jeffersons und Jacksons.

Klar ist, dass das Ziel außenpolitischen Handelns der USA immer die weltweite Durchsetzung amerikanischer Werte und Interessen bleibt. Die außenpolitische Vorgehensweise, mit der dieses Ziel erreicht wird, ist dabei variabel. In der amerikanischen Außenpolitik hat deshalb eine Mischung aus selektivem Multilateralismus und gelegentlicher Neigung zu unilateralem Handeln an Boden gewonnen. Das Leitmotiv lautet: "America first". Vorrangig die USA selbst entscheiden darüber, wann, mit welchen Mitteln und mit Hilfe welcher Institutionen von den USA selbst definierten Werten und Interessen mit universalem Anspruch zu universalem Durchbruch verholfen wird.

Dieser Ansatz findet insbesondere in Kreisen seine Unterstützung, die der republikanischen Partei angehören, gelegentlich auch bei Mitgliedern der Demokraten. Er ist nicht unbedingt inneramerikanischer Konsens, denn auch in Amerika gibt es überzeugte Befürworter des Multilateralismus. Aber die Auffassung, dass Amerika, wenn es die nationalen Interessen erfordern, legitimerweise seine Macht auch ohne Unterstützung oder gar ohne Zustimmung seiner Partner einsetzen kann, hat nach 1989 mehr Anhänger gewonnen. Das Bewusstsein einzigartiger moralischer und militärischer Überlegenheit verstärkt diesen Reflex.

In Europa hat sich dagegen — seit 1945 — der Multilateralismus als bevorzugte außenpolitische Handlungsform durchgesetzt. Besonders deutlich kommt das im europäischen Integrationsprozess und der Einstellung der Europäer zu kollektiver Sicherheit und Verteidigung zum Ausdruck. Das gilt insbesondere auch für Deutschland, das auf Grund seiner Geschichte und geographischen Lage den Multilateralismus zur unverzichtbaren außenpolitischen Norm erhoben hat. Europa hat aus seiner Geschichte die Lehre gezogen, dass nur die multilaterale Einbindung von Macht und die multilaterale Kanalisierung von Interessenkonflikten zwischen Staaten zu dauerhafter regionaler Stabilität führen und allen beteiligten Staaten ein echtes Gefühl der Sicherheit verschaffen kann.

Es gibt eine ganze Anzahl von Themen, an denen man diesen europäisch-amerikanischen Gegensatz in der Wahl der außenpolitischen Strategie derzeit ablesen kann: die amerikanische UN-Politik, die Ablehnung des CTBT-Vertrags durch den amerikanischen Senat, die amerikanische Diskussion zum ABM-Vertrag, zur Nationalen Raketenabwehr (NMD), zum Internationalen Strafgerichtshof, zur Landminenkonvention oder die Behandlung von Klimakonvention und Kyoto-Protokoll.

Auch im engeren Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestehen transatlantische Auffassungsunterschiede. Die Differenzen zu Fragen der Lastenteilung sind keine neue Erscheinung. Die Regierung und vor allem der amerikanische Kongress halten den europäischen Beitrag für zu gering und mahnen eine Aufstockung der europäischen Verteidigungshaushalte und eine Stärkung der operativen europäischen Verteidigungsfähigkeiten an. Es gibt auch unterschiedliche transatlantische Sichtweisen zur Finalität der ESVP.

Dabei dürfen inneramerikanische Unterschiede (z.B. zwischen Kongress und Regierung) und innereuropäische Unterschiede (meist nationalstaatlich, manchmal auch parteipolitisch bedingt) nicht übersehen werden. Während manche in der amerikanischen Regierung — insbesondere mit Blick auf Frankreich — die ESVP misstrauisch beäugen, gibt es auch Forderungen an die Europäer, vor allem aus den Reihen des Kongresses, endlich echtes "burden-sharing" zu betreiben, das Krisenmanagement in Europa stärker in eigene Hände zu nehmen und nicht im Krisenfalle immer nur nach "American leadership" zu rufen. Denn die gleichen Europäer, die eine größere Autonomie Europas gegenüber den USA fordern, verlangen, wenn es ernst wird, auch die Verteidigung Europas durch die USA. Und die gleichen Amerikaner, von denen wir häufig vermuten, dass sie Vorbehalte gegenüber der ESVP haben, sind zugleich oft dieselben, die die Europäer auffordern, sich mehr an gemeinsamen Operationen in und um Europa zu beteiligen oder europäische Krisen sogar allein in die Hand zu nehmen. Dies zeigt: die Unterschiede in der Analyse bestehen oft nicht zwischen Europa und Amerika, sondern innerhalb der Partner selbst.

Auch das Verhältnis zu Russland wird in Zukunft ein Test für die transatlantische Partnerschaft sein. Die Interessen sind weitgehend deckungsgleich, aber es werden in einzelnen Bereichen unterschiedliche Sichtweisen deutlich: Der Blick der USA richtet sich stärker auf russische Nuklearwaffen und Energieressourcen; Europa sieht in Russland zunächst den großen Nachbarn und blickt deshalb stärker auf seine regionale Politik und Einbindung in innereuropäische Strukturen und Wertenormen. Der Erfolg der Demokratie in Russland aber und seine Einbeziehung in ein System multilateraler Verpflichtungen ist ein gemeinsames Interesse.

Gerade im Wirtschaftsbereich kommen Europäer und Amerikaner einander näher. Aber durch die wachsende Nähe entstehen auch neue Reibungsflächen. Diskrepanzen wie der Bananenstreit, beim Marktzugang für Stahl, Textilien oder vielen landwirtschaftlichen Produkten, im Telekommunikationsbereich oder Streitigkeiten zwischen Boeing und Airbus, wie sie bei eng verflochtenen Volkswirtschaften zwangsläufig auftreten, sind rein wirtschaftlicher Art. Bei ihnen lassen sich von den Regierungen meist Kompromisse aushandeln, die von beiden Seiten und auch in Öffentlichkeit und Parlamenten als fair empfunden werden.

Zu einer anderen Spielart transatlantischer Rivalität kommt es, wenn es darum geht, welche Seite sich jeweils bei der Etablierung internationaler Normen durchsetzen kann. Denn derjenige, der sich mit den eigenen technologischen Normen durchsetzt, sichert sich einen wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern. Dies ist zumindest ein Element, das bei den transatlantischen Rangeleien um die technischen Standards bei der nächsten Generation von Mobiltelefonen oder im Bereich des "e-commerce" eine Rolle spielt. Für die transatlantischen Beziehungen sind auch diese Rivalitäten meist unproblematisch, weil sie sich im Rahmen des gemeinsamen marktwirtschaftlichen Regelwerks abspielen.

Bei Fragen von hormonbehandeltem Fleisch, genveränderten Organismen, des Lärm- oder des Datenschutzes stoßen nicht nur unterschiedliche ökonomische Interessen aufeinander, sondern auch unterschiedliche gesellschaftliche Wertehierarchien. Das ist problematisch, denn die Existenz einer Wertegemeinschaft, wie sie im nordatlantischen Raum unbestritten besteht, verbürgt keine gleichgerichteten Einstellungen zu allen Wertefragen. Somit liegt in transatlantischen Streitfragen, bei denen sich ökonomische Fragen mit Wertfragen oder, anders ausgedrückt, Wert- mit Mehrwertfragen verbinden, ein beachtliches Konfliktpotenzial.

Auch in rein gesellschaftlich definierten Fragen abweichender Wertehierarchien, bei denen wirtschaftliche Erwägungen kaum eine Rolle spielen, kommt es zum Aufbrechen von Problemen, die zur Zeit eines gemeinsamen ideologischen Gegners verborgen geblieben waren: In den vergangenen Jahren haben die USA aus ihrem Verständnis von Religionsfreiheit heraus die Behandlung der Scientology-Sekte durch Deutschland kritisiert. Deutschland hat dem widersprochen. Einen ähnlichen Konflikt gibt es in Bezug auf das Internet zwischen der amerikanischen Priorität der Informationsfreiheit und europäischen Bestrebungen nach einem internationalen Verbot der Verbreitung von Kinderpornographie und Rassismus oder in der Frage des (aus deutscher Sicht) illegalen Versands rechtsradikalen Propagandamaterials aus den USA nach Deutschland.

Ungelöst ist auch der Konflikt um die Todesstrafe. In ihren Rechtsnormen haben sich alle europäischen Staaten auf ihre Ablehnung verpflichtet, während gegenläufig hierzu die Zahl der amerikanischen Bundesstaaten, die die Todesstrafe anwenden, zugenommen hat. In Europa gibt es zahlreiche Befürworter und in den USA viele Gegner der Todesstrafe. Aber insbesondere für eine Hinrichtung von Minderjährigen und geistig Behinderten gibt es bei den Eliten Europas überhaupt kein Verständnis. Hinrichtungen in den USA verletzen das Werteempfinden der Europäer noch mehr als Hinrichtungen in anderen Staaten, weil Europäer und Amerikaner zurecht von der Wertegemeinschaft zwischen einem demokratischen Europa und den demokratischen USA überzeugt sind.

Grundsätzliche Divergenzen gibt es schließlich in der Frage des Sozialstaats. Amerikaner tendieren dazu, europäische Sozialstrukturen für nicht mit modernen Wirtschaftskonzepten vereinbar zu halten. Europäer halten dagegen ihr sozialpolitisches Sicherheitsnetz und ihre egalitären Elemente im Bildungssystem bei aller Reformbedürftigkeit für unverzichtbare demokratische Errungenschaften und im Prinzip auch für Produktivfaktoren und nicht etwa für eine wirtschaftliche Belastung. Die zunehmende Verflechtung der Volkswirtschaften beiderseits des Atlantiks führt daher dazu, dass externe Effekte des Wirtschaftsmodells der jeweils anderen Seite als wettbewerbsverzerrend, als Handelshemmnis oder als Angriff auf die eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik empfunden werden.

Neuer Atlantizismus

Objektiv betrachtet nehmen unsere Gegensätze nicht zu. Sie werden wegen der zunehmenden transatlantischen Verflechtung aber bewusster und schmerzhafter wahrgenommen. Die Probleme, die es gibt, sind kein Ausdruck eines Auseinanderdriftens, sondern einer wachsenden Nähe beider Seiten des Atlantiks. Die europäische und die amerikanische Gesellschaft sind heute so eng miteinander verbunden, dass diese Beziehungen vielfach keinen außenpolitischen, sondern fast schon einen quasiinnenpolitischen Charakter angenommen haben. Wirtschafts-, gesellschafts- und kulturpolitische Diskussionen und Entscheidungen in den USA sind Gegenstand innenpolitischer Debatten in Europa. Diese Bedeutung der amerikanischen Innenpolitik als zum Teil kontroverser Bezugspunkt für innenpolitische Debatten und Entscheidungen in Europa wird auch bei Fortschritten in der europäischen Integration nicht abnehmen.

Innerhalb unserer Gesellschaft entscheiden wir bei Konflikten zwischen unterschiedlichen Prioritäten durch Wahlen, parlamentarische Mehrheiten oder Gerichtsentscheide. Diese institutionellen Verfahren sind nicht oder nur begrenzt anwendbar, um die eben erwähnten Konflikte im euroatlantischen Verhältnis zu lösen. Um so wichtiger ist es, dass wir über diese Konflikte noch intensiver als bisher miteinander reden und dass auf diese Weise nicht nur unsere Volkswirtschaften, sondern auch unsere Gesellschaften Strukturen entwickeln können, die das geregelte Austragen von Konflikten möglich machen. An diesem Dialog sollten Politiker zwar beteiligt sein. Entscheidend aber ist, dass er auch auf der Ebene der Kultur, der Wirtschaft und der Nichtregierungsorganisationen geführt wird.

Es gibt keine ernsthaften Anzeichen für einen Kulturbruch zwischen Europa und den USA. Als stabile Demokratien, die mit ihren Partnern auf vielen Ebenen verbunden sind, gibt es allen Anlass, dass wir in den euroatlantischen, einschließlich der deutsch-amerikanischen, Beziehungen primär die gemeinsamen Chancen und Perspektiven und weniger die in jeder engen Partnerschaft unvermeidlichen Probleme und Konflikte sehen. Insofern ist die Feststellung berechtigt, dass die Schwierigkeiten, denen wir uns gegenwärtig im europäisch-amerikanischen Verhältnis gegenübersehen, den Übergang einer früher vom Ost-West-Gegensatz geprägten transatlantischen Parterschaft zu einer neuen euroatlantischen Gemeinschaft markieren, die global zu einem wichtigen, wenn nicht sogar zum wichtigsten Faktor demokratischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität werden könnte: Wir nehmen Abschied vom alten und sind Zeugen der Geburtswehen eines neuen Atlantizismus.



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