Europa und Amerika
sind heute durch Interessen, Kultur, Wirtschaft und moderne Kommunikationsmittel
enger denn je miteinander verbunden. Die zunehmende Nähe eröffnet
neue Chancen, lässt aber auch neue Reibungsflächen entstehen.
Letztere sind jedoch unvermeidliche Begleiterscheinungen des transatlantischen
Erfolgs.
Europa und
Amerika haben im vergangenen Jahrzehnt sowohl sich selbst als auch
ihre jeweilige Stellung im internationalen System stark verändert.
Die USA sind die einzig verbliebene Weltmacht und haben erstmals
in der Geschichte keine ebenbürtigen Gegner. Sie sind weltweit
der einzige Staat, der zu dauerhafter globaler Projektion militärischer
Macht in der Lage ist. Sie besitzen die leistungsfähigste Volkswirtschaft
der Erde. Nur die Vereinigten Staaten sind in der Lage, eigene Normen
und Standards (aktuellstes Beispiel ist das Internet) weltweit durchzusetzen.
Kulturell besteht bei vielen Europäern das alte Überlegenheitsgefühl
gegenüber den USA zwar fort, berechtigt ist es aber schon lange
nicht mehr. Nicht nur für die Massengesellschaft setzen die
USA seit langem weltweit die Maßstäbe. Auch bei Forschung
und Lehre, im Film oder in der zeitgenössischen Kunst dominieren
sie. Ihre globale Rolle begründet sich auf einer historisch
einmaligen Synthese von wirtschaftlicher Stärke, weltweiter
kultureller Meinungsführerschaft und militärischer Überlegenheit.
Im amerikanischen Selbstgefühl gibt es derzeit weniger Grund
denn je, andere Maßstäbe als die eigenen zur Richtschnur
weltweiten Handelns zu nehmen.
Aber auch Europa
hat sich verändert. Es ist dabei, sich in einen einheitlich
auftretenden Akteur der Weltpolitik zu verwandeln, der zwar insbesondere
im militärischen Bereich bei weitem nicht so mächtig sein
wird wie die USA, aber immerhin das Potenzial hat vor allem
in der Wirtschafts-, Handels- und Währungspolitik , in
der gleichen Spielklasse anzutreten. Parallel zu den USA führt
in Europa die Beschäftigung der Europäer mit innen- bzw.
europapolitischen Problemen (Vertiefung und Erweiterung der Union)
zu einem gewissen Grad dazu, die Aufmerksamkeit für außenpolitische
Fragen zu verdrängen und für die europäische Außenpolitik
immer stärker eigene Maßstäbe heranzuziehen.
Die Erweiterung
der EU um Schweden, Finnland und Österreich sowie um das Gebiet
der ehemaligen DDR wie auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit inzwischen 13 weiteren Kandidaten wird dazu führen, dass
die EU abgesehen von den europäischen Mitgliedern der
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) mit Recht für
Europa als Ganzes sprechen können wird. Die Vertiefung der
Integration, u.a. durch Einbeziehung zusätzlicher Politikbereiche
und die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen haben die Handlungsfähigkeit
der EU insbesondere nach innen gestärkt. Die Vollendung des
europäischen Binnenmarkts 1993 und die Einführung des
Euro 1999 haben Europa schon jetzt in Wirtschafts- und Währungsfragen
zu einem nicht nur theoretisch gleichberechtigten, sondern auch
praktisch annähernd gleichmächtigen und deshalb zu Recht
zunehmend selbstbewussten Partner der USA werden lassen.
Im Bereich
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ist
eine ähnliche Entwicklung auf absehbare Zeit nicht möglich.
Doch tragen die Fortschritte der letzten Jahre auch auf diesem Gebiet
zu rationaleren und effektiveren europäischen Entscheidungsprozessen
bei. Die Entschlossenheit der Europäer, hier mehr zu tun, war
die zwangsläufige Konsequenz aus der schmerzhaft empfundenen
europäischen Schwäche, die ihnen während der Militäraktionen
in Bosnien und im Kosovo klar vor Augen geführt wurde. Sie
liegt aber auch in der Logik des europäischen Einigungsprozesses.
Die EU wird
mit dem Vertrag von Amsterdam und den Beschlüssen von Köln
und Helsinki auch im Bereich der kollektiven Sicherheit zu einem
eigenständigeren Akteur. Das war nur möglich, weil erstens
die Balkan-Krisen gezeigt haben, dass jenseits der von der NATO
weiter abgedeckten Aufgabe der kollektiven Verteidigung eine gemeinsame
Sicherheitspolitik in Europa notwendig wurde, und weil zweitens
in der EU die bündnisfreien Mitgliedstaaten ihr sicherheitspolitisches
Selbstverständnis so umdefinierten, dass sie die "Petersberg-Aufgaben"
der EU mittragen konnten.
Innerhalb Europas
haben sich auch Selbstverständnis und Rolle Deutschlands geändert.
Heute ist das vereinigte Deutschland ausschließlich von Freunden
umgeben und fühlt sich aktuell nicht mehr von außen bedroht.
Seine Streitkräfte sind drastisch reduziert, die auf seinem
Territorium stationierten fremden Truppen ganz oder überwiegend
abgezogen. Deutschland braucht auf absehbare Zeit die transatlantische
Partnerschaft nicht mehr, um sich, wie früher, vor äußerer
Bedrohung zu schützen. Statt dessen braucht es sie, um gemeinsam
mit den USA Demokratie, Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand
in ganz Europa, auch über die gegenwärtigen Grenzen von
NATO und EU hinaus, zu sichern. Anders ausgedrückt: Deutschland
ist nicht mehr Konsument, sondern Produzent von Stabilität
und Sicherheit in Europa.
Gegenseitige
Interessen
Trotz des bestehenden
eklatanten Machtgefälles brauchen auch die USA internationale
Partner und Verbündete, um eigene Interessen und Werte durchsetzen
und bestehende Probleme in ihrem Sinne zu lösen. Das ist ihnen
nur zusammen mit Europa möglich. Die aus gemeinsamen Wurzeln
gewachsenen Werte und Interessen verbinden Europa und Amerika wie
kaum zwei andere Weltregionen. Die transatlantische Partnerschaft
lässt sich für die USA durch keine andere strategische
Partnerschaft ersetzen.
Weltweit geht
es für die USA um die Eindämmung sicherheitspolitischer
Risiken im weiteren Sinne, insbesondere durch Zusammenarbeit bei
der Verhinderung der weiteren Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
und Trägersystemen, aber auch bei Umweltgefahren, internationalem
Terrorismus oder organisiertem Drogenhandel. Es geht den USA ferner
um die Sicherung regionaler Stabilität und die Stärkung
demokratischer Strukturen, z. B. auf dem Balkan, in den Staaten
der GUS, im Nahen Osten, die Eindämmung der von den USA so
genannten "rogue states", um die weltweite Durchsetzung von Marktwirtschaft
und freiem Welthandel. Und auf der Ebene der Werte haben die USA
die Universalisierung ihrer eigenen Vorstellungen von persönlicher
Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zum Ziel.
Ein gutes transatlantisches
Verhältnis einschließlich einer fortdauernden
amerikanischen Präsenz in Europa liegt auch im Interesse
der Europäer, insbesondere der Deutschen. Die Dominanz der
USA im Bereich der Sicherheitspolitik wird auf unabsehbare Zeit
bestehen bleiben selbst nach erfolgreicher Einführung
einer gemeinsamen ESVP. Die Stärkung der EU in der Sicherheits-
und Verteidigungspolitik wird von Deutschland unterstützt,
nicht, um Europa von den USA abzukoppeln, sondern um Europa fähig
für eine Partnerschaft zu erhalten. In der Frage der kollektiven
Verteidigung weiterhin das Herzstück der NATO und des
amerikanischen Engagements in Europa besteht heute nur noch
die Notwendigkeit zur Abdeckung eines Restrisikos. Darüber
hinaus dient die Präsenz der USA in Europa als zusätzlicher
Schutz vor dem Wiederaufkommen innereuropäischer Rivalitäten.
Die aktuelle
Dynamik für gemeinsame sicherheitspolitische Aktionen Europas
und Amerikas entsteht derzeit primär aus Fragen der regionalen
Stabilisierung, der Krisenprävention und Krisenbewältigung,
der Stabilisierung durch politische und wirtschaftliche Integration
und der multilateralen Kooperation. Dabei geht es darum, ob und
wie die USA und Europa im Rahmen von NATO, EU, UN und OSZE gemeinsam
auf regionale Krisen und Konflikte in Europa und an dessen Peripherie
reagieren. Es geht darum, gemeinsame Strategien zur multilateralen
Einbindung und Integration Mittel-, Ost- und Südosteuropas
zu entwickeln.
Die deutschen
Interessen sind in diesem Bereich vielleicht sogar noch ausgeprägter
als die manch anderer europäischer Staaten: Die Stabilisierung
von Demokratie und Wirtschaft östlich der Grenze zur NATO und
EU von 1989 und die internationale sowie multilaterale Einbindung
dieser Staaten in die bestehenden Strukturen sind für Deutschland
lebenswichtig. Es ist kein Zufall, dass die USA und Deutschland
die treibenden Kräfte bei der Osterweiterung der NATO und der
Gründung des Russland-NATO-Rates waren, genauso wie sie heute
Advokaten einer zügigen Osterweiterung der EU sind.
Die Wirtschaftsstrukturen
auf beiden Seiten des Atlantiks ergänzen sich. Die wechselseitige
wirtschaftliche Verflechtung nimmt zu, insbesondere bei den Handels-
und Kapitalströmen. Globale Konzerne sind heute in Wirklichkeit
meist in ihrem Kern euroatlantische Unternehmen. Europa insgesamt
und nicht etwa Asien ist größter Investor, Arbeitgeber
und abgesehen von Kanada auch größter Handelspartner
der USA. Jeder zwölfte amerikanische Arbeitnehmer arbeitet
in einem europäisch geführten Unternehmen. Umgekehrt beschäftigen
amerikanische Unternehmen über drei Millionen europäische
Arbeitnehmer. Bei großen euroatlantischen Firmen wie DaimlerChrysler
kann man durchaus von einer neuen Qualität der Wirtschaftsbeziehungen
sprechen, die sich politisch und kulturell auswirken wird. Im Wirtschaftsbereich
driften Europa und Amerika trotz bestehender Interessenkonflikte
ganz sicher nicht auseinander, sondern kommen aufeinander
zu. Damit wird die Wirtschaft, trotz gelegentlicher Konflikte, immer
mehr zu einem verbindenden transatlantischen Faktor.
Die kulturelle
Affinität zwischen beiden Räumen besteht weiter. Amerika
und Europa besitzen ein gemeinsames Wertefundament und sind geschichtlich
wie strukturell vergleichbare Zivilgesellschaften. Sie haben auch
ein sehr ähnliches Verständnis von Demokratie, Menschenrechten
und Rechtsstaat und ein Interesse am weltweiten Export dieser Werte.
Transatlantische
Konflikte
Eine grundsätzliche
transatlantische Differenz besteht allerdings im Grundprinzip, nach
dem Amerika bzw. Europa ihre internationalen Beziehungen definieren
multilateral, isolationistisch oder unilateral. Im Rahmen
dieser Modelle findet in den USA derzeit eine außenpolitische
Diskussion statt, die eine historische Debatte zwischen alten außenpolitischen
Schulen erneut aufgreift: zwischen den Anhängern Hamiltons,
Jeffersons und Jacksons.
Klar ist, dass
das Ziel außenpolitischen Handelns der USA immer die weltweite
Durchsetzung amerikanischer Werte und Interessen bleibt. Die außenpolitische
Vorgehensweise, mit der dieses Ziel erreicht wird, ist dabei variabel.
In der amerikanischen Außenpolitik hat deshalb eine Mischung
aus selektivem Multilateralismus und gelegentlicher Neigung zu unilateralem
Handeln an Boden gewonnen. Das Leitmotiv lautet: "America first".
Vorrangig die USA selbst entscheiden darüber, wann, mit welchen
Mitteln und mit Hilfe welcher Institutionen von den USA selbst definierten
Werten und Interessen mit universalem Anspruch zu universalem Durchbruch
verholfen wird.
Dieser Ansatz
findet insbesondere in Kreisen seine Unterstützung, die der
republikanischen Partei angehören, gelegentlich auch bei Mitgliedern
der Demokraten. Er ist nicht unbedingt inneramerikanischer Konsens,
denn auch in Amerika gibt es überzeugte Befürworter des
Multilateralismus. Aber die Auffassung, dass Amerika, wenn es die
nationalen Interessen erfordern, legitimerweise seine Macht auch
ohne Unterstützung oder gar ohne Zustimmung seiner Partner
einsetzen kann, hat nach 1989 mehr Anhänger gewonnen. Das Bewusstsein
einzigartiger moralischer und militärischer Überlegenheit
verstärkt diesen Reflex.
In Europa hat
sich dagegen seit 1945 der Multilateralismus als bevorzugte
außenpolitische Handlungsform durchgesetzt. Besonders deutlich
kommt das im europäischen Integrationsprozess und der Einstellung
der Europäer zu kollektiver Sicherheit und Verteidigung zum
Ausdruck. Das gilt insbesondere auch für Deutschland, das auf
Grund seiner Geschichte und geographischen Lage den Multilateralismus
zur unverzichtbaren außenpolitischen Norm erhoben hat. Europa
hat aus seiner Geschichte die Lehre gezogen, dass nur die multilaterale
Einbindung von Macht und die multilaterale Kanalisierung von Interessenkonflikten
zwischen Staaten zu dauerhafter regionaler Stabilität führen
und allen beteiligten Staaten ein echtes Gefühl der Sicherheit
verschaffen kann.
Es gibt eine
ganze Anzahl von Themen, an denen man diesen europäisch-amerikanischen
Gegensatz in der Wahl der außenpolitischen Strategie derzeit
ablesen kann: die amerikanische UN-Politik, die Ablehnung des CTBT-Vertrags
durch den amerikanischen Senat, die amerikanische Diskussion zum
ABM-Vertrag, zur Nationalen Raketenabwehr (NMD), zum Internationalen
Strafgerichtshof, zur Landminenkonvention oder die Behandlung von
Klimakonvention und Kyoto-Protokoll.
Auch im engeren
Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestehen transatlantische
Auffassungsunterschiede. Die Differenzen zu Fragen der Lastenteilung
sind keine neue Erscheinung. Die Regierung und vor allem der amerikanische
Kongress halten den europäischen Beitrag für zu gering
und mahnen eine Aufstockung der europäischen Verteidigungshaushalte
und eine Stärkung der operativen europäischen Verteidigungsfähigkeiten
an. Es gibt auch unterschiedliche transatlantische Sichtweisen zur
Finalität der ESVP.
Dabei dürfen
inneramerikanische Unterschiede (z.B. zwischen Kongress und Regierung)
und innereuropäische Unterschiede (meist nationalstaatlich,
manchmal auch parteipolitisch bedingt) nicht übersehen werden.
Während manche in der amerikanischen Regierung insbesondere
mit Blick auf Frankreich die ESVP misstrauisch beäugen,
gibt es auch Forderungen an die Europäer, vor allem aus den
Reihen des Kongresses, endlich echtes "burden-sharing" zu betreiben,
das Krisenmanagement in Europa stärker in eigene Hände
zu nehmen und nicht im Krisenfalle immer nur nach "American leadership"
zu rufen. Denn die gleichen Europäer, die eine größere
Autonomie Europas gegenüber den USA fordern, verlangen, wenn
es ernst wird, auch die Verteidigung Europas durch die USA. Und
die gleichen Amerikaner, von denen wir häufig vermuten, dass
sie Vorbehalte gegenüber der ESVP haben, sind zugleich oft
dieselben, die die Europäer auffordern, sich mehr an gemeinsamen
Operationen in und um Europa zu beteiligen oder europäische
Krisen sogar allein in die Hand zu nehmen. Dies zeigt: die Unterschiede
in der Analyse bestehen oft nicht zwischen Europa und Amerika, sondern
innerhalb der Partner selbst.
Auch das Verhältnis
zu Russland wird in Zukunft ein Test für die transatlantische
Partnerschaft sein. Die Interessen sind weitgehend deckungsgleich,
aber es werden in einzelnen Bereichen unterschiedliche Sichtweisen
deutlich: Der Blick der USA richtet sich stärker auf russische
Nuklearwaffen und Energieressourcen; Europa sieht in Russland zunächst
den großen Nachbarn und blickt deshalb stärker auf seine
regionale Politik und Einbindung in innereuropäische Strukturen
und Wertenormen. Der Erfolg der Demokratie in Russland aber und
seine Einbeziehung in ein System multilateraler Verpflichtungen
ist ein gemeinsames Interesse.
Gerade im Wirtschaftsbereich
kommen Europäer und Amerikaner einander näher. Aber durch
die wachsende Nähe entstehen auch neue Reibungsflächen.
Diskrepanzen wie der Bananenstreit, beim Marktzugang für Stahl,
Textilien oder vielen landwirtschaftlichen Produkten, im Telekommunikationsbereich
oder Streitigkeiten zwischen Boeing und Airbus, wie sie bei eng
verflochtenen Volkswirtschaften zwangsläufig auftreten, sind
rein wirtschaftlicher Art. Bei ihnen lassen sich von den Regierungen
meist Kompromisse aushandeln, die von beiden Seiten und auch in
Öffentlichkeit und Parlamenten als fair empfunden werden.
Zu einer anderen
Spielart transatlantischer Rivalität kommt es, wenn es darum
geht, welche Seite sich jeweils bei der Etablierung internationaler
Normen durchsetzen kann. Denn derjenige, der sich mit den eigenen
technologischen Normen durchsetzt, sichert sich einen wirtschaftlichen
Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern. Dies ist zumindest ein
Element, das bei den transatlantischen Rangeleien um die technischen
Standards bei der nächsten Generation von Mobiltelefonen oder
im Bereich des "e-commerce" eine Rolle spielt. Für die transatlantischen
Beziehungen sind auch diese Rivalitäten meist unproblematisch,
weil sie sich im Rahmen des gemeinsamen marktwirtschaftlichen Regelwerks
abspielen.
Bei Fragen
von hormonbehandeltem Fleisch, genveränderten Organismen, des
Lärm- oder des Datenschutzes stoßen nicht nur unterschiedliche
ökonomische Interessen aufeinander, sondern auch unterschiedliche
gesellschaftliche Wertehierarchien. Das ist problematisch, denn
die Existenz einer Wertegemeinschaft, wie sie im nordatlantischen
Raum unbestritten besteht, verbürgt keine gleichgerichteten
Einstellungen zu allen Wertefragen. Somit liegt in transatlantischen
Streitfragen, bei denen sich ökonomische Fragen mit Wertfragen
oder, anders ausgedrückt, Wert- mit Mehrwertfragen verbinden,
ein beachtliches Konfliktpotenzial.
Auch in rein
gesellschaftlich definierten Fragen abweichender Wertehierarchien,
bei denen wirtschaftliche Erwägungen kaum eine Rolle spielen,
kommt es zum Aufbrechen von Problemen, die zur Zeit eines gemeinsamen
ideologischen Gegners verborgen geblieben waren: In den vergangenen
Jahren haben die USA aus ihrem Verständnis von Religionsfreiheit
heraus die Behandlung der Scientology-Sekte durch Deutschland kritisiert.
Deutschland hat dem widersprochen. Einen ähnlichen Konflikt
gibt es in Bezug auf das Internet zwischen der amerikanischen Priorität
der Informationsfreiheit und europäischen Bestrebungen nach
einem internationalen Verbot der Verbreitung von Kinderpornographie
und Rassismus oder in der Frage des (aus deutscher Sicht) illegalen
Versands rechtsradikalen Propagandamaterials aus den USA nach Deutschland.
Ungelöst
ist auch der Konflikt um die Todesstrafe. In ihren Rechtsnormen
haben sich alle europäischen Staaten auf ihre Ablehnung verpflichtet,
während gegenläufig hierzu die Zahl der amerikanischen
Bundesstaaten, die die Todesstrafe anwenden, zugenommen hat. In
Europa gibt es zahlreiche Befürworter und in den USA viele
Gegner der Todesstrafe. Aber insbesondere für eine Hinrichtung
von Minderjährigen und geistig Behinderten gibt es bei den
Eliten Europas überhaupt kein Verständnis. Hinrichtungen
in den USA verletzen das Werteempfinden der Europäer noch mehr
als Hinrichtungen in anderen Staaten, weil Europäer und Amerikaner
zurecht von der Wertegemeinschaft zwischen einem demokratischen
Europa und den demokratischen USA überzeugt sind.
Grundsätzliche
Divergenzen gibt es schließlich in der Frage des Sozialstaats.
Amerikaner tendieren dazu, europäische Sozialstrukturen für
nicht mit modernen Wirtschaftskonzepten vereinbar zu halten. Europäer
halten dagegen ihr sozialpolitisches Sicherheitsnetz und ihre egalitären
Elemente im Bildungssystem bei aller Reformbedürftigkeit für
unverzichtbare demokratische Errungenschaften und im Prinzip auch
für Produktivfaktoren und nicht etwa für eine wirtschaftliche
Belastung. Die zunehmende Verflechtung der Volkswirtschaften beiderseits
des Atlantiks führt daher dazu, dass externe Effekte des Wirtschaftsmodells
der jeweils anderen Seite als wettbewerbsverzerrend, als Handelshemmnis
oder als Angriff auf die eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik empfunden
werden.
Neuer Atlantizismus
Objektiv betrachtet
nehmen unsere Gegensätze nicht zu. Sie werden wegen der zunehmenden
transatlantischen Verflechtung aber bewusster und schmerzhafter
wahrgenommen. Die Probleme, die es gibt, sind kein Ausdruck eines
Auseinanderdriftens, sondern einer wachsenden Nähe beider Seiten
des Atlantiks. Die europäische und die amerikanische Gesellschaft
sind heute so eng miteinander verbunden, dass diese Beziehungen
vielfach keinen außenpolitischen, sondern fast schon einen
quasiinnenpolitischen Charakter angenommen haben. Wirtschafts-,
gesellschafts- und kulturpolitische Diskussionen und Entscheidungen
in den USA sind Gegenstand innenpolitischer Debatten in Europa.
Diese Bedeutung der amerikanischen Innenpolitik als zum Teil kontroverser
Bezugspunkt für innenpolitische Debatten und Entscheidungen
in Europa wird auch bei Fortschritten in der europäischen Integration
nicht abnehmen.
Innerhalb unserer
Gesellschaft entscheiden wir bei Konflikten zwischen unterschiedlichen
Prioritäten durch Wahlen, parlamentarische Mehrheiten oder
Gerichtsentscheide. Diese institutionellen Verfahren sind nicht
oder nur begrenzt anwendbar, um die eben erwähnten Konflikte
im euroatlantischen Verhältnis zu lösen. Um so wichtiger
ist es, dass wir über diese Konflikte noch intensiver als bisher
miteinander reden und dass auf diese Weise nicht nur unsere Volkswirtschaften,
sondern auch unsere Gesellschaften Strukturen entwickeln können,
die das geregelte Austragen von Konflikten möglich machen.
An diesem Dialog sollten Politiker zwar beteiligt sein. Entscheidend
aber ist, dass er auch auf der Ebene der Kultur, der Wirtschaft
und der Nichtregierungsorganisationen geführt wird.
Es gibt keine
ernsthaften Anzeichen für einen Kulturbruch zwischen Europa
und den USA. Als stabile Demokratien, die mit ihren Partnern auf
vielen Ebenen verbunden sind, gibt es allen Anlass, dass wir in
den euroatlantischen, einschließlich der deutsch-amerikanischen,
Beziehungen primär die gemeinsamen Chancen und Perspektiven
und weniger die in jeder engen Partnerschaft unvermeidlichen Probleme
und Konflikte sehen. Insofern ist die Feststellung berechtigt, dass
die Schwierigkeiten, denen wir uns gegenwärtig im europäisch-amerikanischen
Verhältnis gegenübersehen, den Übergang einer früher
vom Ost-West-Gegensatz geprägten transatlantischen Parterschaft
zu einer neuen euroatlantischen Gemeinschaft markieren, die global
zu einem wichtigen, wenn nicht sogar zum wichtigsten Faktor demokratischer
Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität werden könnte:
Wir nehmen Abschied vom alten und sind Zeugen der Geburtswehen eines
neuen Atlantizismus.
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