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• Die Osterweiterung der Europäischeb Union
Wohl zu bedenken sind die Auswirkungen der Osterweiterung auf den Zusammenhalt der Bevölkerungen, auf eine grenzüberschreitende innere Verbundenheit der Menschen, eine Solidarität, welche für Minderheiten eine Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen überhaupt erst erträglich macht. Ein übereinstimmendes Konzept hinsichtlich einer Fortentwicklung der EU gibt es auf Gemeinschaftsebene nicht. Die EU muss festsetzen, worauf der europäische Integrationsprozess realistischerweise zusteuern soll. Bildet die Erweiterung nicht einen Schritt in Richtung auf eine sehr ungewisse Zukunft? © 1999
Prof. Wernhard MÖSCHEL - Prof. an des Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni. Tübingen


Konflikte und Ziele

1. Die anstehende Vergrösserung der EU um sechs bzw. elf weitere Staaten ist in ihrem Gewicht mit den bisherigen Erweiterungen - 1973 Dänemark, Grossbritannien, Irland, 1981 Griechenland, 1986 Spanien, Portugal und 1995 Finnland, Österreich und Schweden - kaum vergleichbar. Für die Beitrittskandidaten auf der einen Seite handelt es sich um eine säkulare Weichenstellung; in Bezug auf die MOE-Staaten hat man treffend von deren "Rückkehr nach Europa" gesprochen. Die gegenwärtige Fünfzehnergemeinschaft auf der anderen Seite wird sich am Ende des Prozesses, ob sie das nun will oder nicht, qualitativ verändert haben. Es ist keine Übertreibung, wenn man diese Erweiterung als Schicksalsfrage für den Fortgang der europäischen Integration einstuft.

2. Von der Ausnahme Griechenlands abgesehen, einer wenig geglückten Ausnahme, hat sich in der Vergangenheit die Frage der Beitrittsfähigkeit neu aufzunehmender Länder nicht gestellt. Bei den MOE-Staaten, in vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft mehr oder weniger ruiniert, wird dies zur Schlüsselvoraussetzung eines Beitritts. Die auf einer Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU am 21. und 22. Juni 1993 in Kopenhagen aufgestellten Kriterien betonen somit auch zu Recht folgende Voraussetzungen: institutionelle Stabilität der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung, eine funktionsfähige Marktwirtschaft, Übernahme der Verpflichtungen und Zielsetzungen der EU.

Um eine erste Vorstellung von den Grössenordnungen zu geben: Die sechs Länder, mit denen sofort konkrete Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, werden innerhalb der EU zu einem Bevölkerungszuwachs von 17% führen. Das gemeinsame Bruttosozialprodukt wird sich nur um 3% erhöhen. Stellt man auf die insgesamt elf Kandidaten ab, so lauten die entsprechenden Zahlen 25% und 5%. Mit Ausnahme Zyperns werden sämtliche Beitrittskandidaten zu den sogenannten Nettoempfängern innerhalb der EU gehören. Auf Seiten der aufnehmenden Fünfzehnergemeinschaft kann es ohne entsprechende Anpassungsmassnahmen leicht zu Überforderungen kommen. Dies gilt namentlich für die ausgabenwirksame Agrarpolitik - sie umfasst etwa die Hälfte des EU-Haushaltes - und für die Strukturpolitik in ihren verschiedenen Ausprägungen.

3. Selbst Grundfreiheiten der EU werden zum Problem. Dies gilt namentlich für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Angesichts einer weitgehenden Homogenität in der bisherigen Fünfzehnergemeinschaft war es hier nicht zu substantiellen Wanderungsbewegungen gekommen. Das bestehende Wohlstandsgefälle nach Osten wird dagegen eine ganz andere Perspektive eröffnen. Migrationserfahrungen im Verhältnis Deutschland-Polen aus der Zeit um die Jahrhundertwende weisen in eine gleiche Richtung. Der Vertrag von Amsterdam hat überdies die Schengener Zusammenarbeit in den "acquis communautaire" übernommen. Bei einer vollzogenen Mitgliedschaft werden die MOE-Staaten den Aussenschutz der EU-Grenzen garantieren müssen. Welche Probleme hier entstehen können, wird am Beispiel des EWG-Gründungsmitgliedes Italien deutlich. Es gewährte Wirtschaftsflüchtlingen bislang eine Frist von vierzehn Tagen zum Verlassen des Landes. Faktisch bedeutete dies: Sie wurden in andere EU-Mitgliedstaaten, vornehmlich nach Deutschland, durchgewunken. Obendrein liess sich solcher Praxis ein humanitäres Mäntelchen umhängen. Beide Aspekte, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und die Sicherheit der EU-Aussengrenzen, werden für eine Akzeptanz der Osterweiterung in den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten ausschlaggebende Bedeutung haben.

4. Die Institutionen der EU waren zugeschnitten auf die ursprüngliche Sechsergemeinschaft. Strukturbestimmend waren weniger eine hierarchische demokratische Legitimation nach dem Muster klassischer Nationalstaaten als eine Balance zwischen Gemeinschaftsinteresse und Interessen von Mitgliedsländern - hierin wurzelt die besondere Rolle der EU-Kommission - und ein Ausgleich zwischen den grösseren und den kleineren Mitgliedstaaten in einem ebenso komplizierten wie differenzierten System von Stimmengewichtungen. Nach einer Aufnahme von elf Kandidaten wird aus der Fünfzehnergemeinschaft eine Gemeinschaft von sechsundzwanzig Mitgliedstaaten. Die Anzahl der Menschen wird nahezu auf eine halbe Milliarde anwachsen. Arbeitsfähigkeit der Organe und Handlungsfähigkeit der EU werden herausgefordert. Wer einer "Vertiefung" der EU das Wort redet, etwa echte EU-Zuständigkeiten in den Bereichen Aussen- und Sicherheitspolitik begründen will, wird leicht einen Konflikt zwischen solcher Vertiefung einerseits und Erweiterung der EU andererseits annehmen wollen. Ja, es stellt sich die Verfassungsfrage der EU in dem Sinne, worauf der europäische Integrationsprozess realistisch zusteuern soll. Stabilisiert die Osterweiterung unausweichlich ein Konzept eines Europas der Vaterländer oder der Regierungen, weitgehend nach britischen und auch französischen Vorstellungen? Ist sie nicht mindestens ein Schritt ins völlig Ungewisse?

5. Wohl zu bedenken sind schliesslich die Auswirkungen der Osterweiterung auf den Zusammenhalt der Bevölkerungen, auf eine grenzüberschreitende innere Verbundenheit der Menschen, eine Solidarität, welche für Minderheiten eine Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen überhaupt erst erträglich macht. Von alledem kann schon in der gegenwärtigen Fünfzehnergemeinschaft nicht die Rede sein. Dem entspricht es, dass es eine europäische öffentliche Meinung, welche politische Entscheidungen begleitet und kontrolliert, sie der "Wahrheit" soweit als möglich annähert (J. St. Mill), auch nicht in Ansätzen gibt. Die europäischen Verträge haben die kulturell-mentale Dimension des Integrationsprozesses, vielleicht unvermeidlicherweise, erst völlig und heute immer noch weitgehend ausgeblendet. Ein Anwachsen der EU um elf weitere Mitgliedstaaten würde ein entsprechendes Bemühen vermutlich erschweren, wenn nicht sinnlos machen. Die Sprachenfrage wirft ein Schlaglicht: In der Fünfzehnergemeinschaft werden elf verschiedene Sprachen gesprochen; in der Gemeinschaft der Sechsundzwanzig werden es zweiundzwanzig sein. Ernest Renan hat Europa einmal dahin gekennzeichnet, dass es "geboren wurde aus dem griechischen Wunder, gross wurde mit der griechisch-lateinischen Kultur, eine Renaissance erlebte und christlich ist." Aus moderner Sicht würde man wohl noch ergänzen um das Vermächtnis der Aufklärung und um das darin wurzelnde Konzept einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Bei einer Vollmitgliedschaft zum Beispiel der Türkei, die gegenwärtig nicht ansteht, aber im Sinne einer diskriminierungsfreien Anwendung der Kopenhagener Kriterien ins Auge gefasst ist, wird man von Überlegungen, die europäische Integration auf ein solches historisch-kulturelles Fundament zu gründen, Abschied nehmen müssen.

6. Ein übereinstimmendes Konzept hinsichtlich einer Fortentwicklung der EU gibt es auf Gemeinschaftsebene nicht. Das Bemühen in der Regierungskonferenz von Amsterdam, institutionelle Anpassungen der EU vor Beginn des Erweiterungsprozesses zu erreichen, ist im wesentlichen gescheitert. Mit Ablauf des Jahres 1999 steht ferner eine Prüfung der Finanzverfassung der EU an, nämlich eine Fortentwicklung des sogenannten Eigenmittelbeschlusses des Rates der EU. Die Bundesrepublik Deutschland bemüht sich in diesem Zusammenhang, die ausgeprägte Nettozahlerrolle des Landes zurückzuführen. Hinzu treten die Herausforderungen, welche sich mit der Verwirklichung der Europäischen Währungsunion verbinden. Angesichts dieser Umstände mag es erstaunen, dass der Europäische Rat und die von ihm repräsentierten politischen Kräfte sich auf dem Luxemburger Gipfel überhaupt auf konkrete Beitrittsverhandlungen in Richtung Osten haben verständigen können. Es hängt dies mit dominanten Interessenlagen der Beteiligten zusammen. Einige bilden Konstanten innerhalb des europäischen Integrationsprozesses insgesamt. Andere sind stärker länderspezifisch definiert.

Konstante Interessenlagen

7. Zu den zentralen Konstanten gehört das sogenannte Friedensargument. Hiermit ist die Überlegung bezeichnet, eine Integration von Nationalstaaten schliesse das Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen ihnen endgültig aus. Es lässt sich ferner in der Spielart verstehen, es gelte eine Rückkehr zu den Rivalitäten der Nationalstaaten, zu Gleichgewichtspolitik und Allianzbildung nach dem Muster des 19. Jahrhunderts zu verhindern. Integration mit ihrer Idee der "Kontrolle aller durch alle" ist demgegenüber das vorzugswürdige Paradigma. Bei einer Erweiterung der EU in Richtung Osten wird dieses Friedensargument besonders greifbar: Es finden sich dort nahezu durchgängig Minderheitenprobleme und entsprechende Konfliktpotentiale. So leben zum Beispiel mehr Ungarn in den benachbarten Staaten, als dies für Deutschland im Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland während der staatlichen Trennung zutraf. Was die Pariser Vorortverträge von 1919 nicht bewältigten, in den fünfundvierzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg unter der sowjetischen Diktatur ruhiggestellt war, erhielte innerhalb einer erweiterten EU die Chance zu einem ebenso friedlichen wie dauerhaften Ausgleich.

8. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung steht eine Überlegung ökonomischer Effizienz. Man kann vom Binnenmarktargument sprechen. Es ist unstreitig, dass die Errichtung eines Binnenmarktes in dem Sinne, Hindernisse für die freie Bewegung von Gütern und Produktionsfaktoren zu beseitigen, handelsschaffende und in diesem Ausmass wohlfahrtssteigernde Wirkungen hat. Im Kern verbessert sich die Arbeitsteilung. Doch sind drei Warntafeln zu errichten:

- In Richtung Osten kann dies nur eine langfristige Perspektive sein. Der westeuropäische Steuerzahler wird zunächst Milliardentransfers aufzubringen haben.

- Vorausgesetzt ist weiter, dass bei einer Osterweiterung der EU vorhandene Defekte, wie z.B. die europäische Agrarpolitik, nicht einfach auf die Beitrittsstaaten ausgedehnt werden und in ihrem Umfang dann auch noch zunehmen.

- Der Strukturwandel in einzelnen Branchen wird sich bei einer Öffnung der Märkte nach Osten weiter verschärfen. Schutzmassnahmen, wie sie in den gegenwärtigen sogenannten Europaverträgen mit den Beitrittskandidaten noch vorhanden sind, werden zu irgendeinem Zeitpunkt entfallen. Auch die Märkte für abhängige Arbeit, namentlich in Deutschland, werden betroffen sein.

9. In den letzten Jahren hat ein imperiales Argument Konturen erlangt: Europa solle seine Kräfte bündeln, um die globalen Herausforderungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert bestehen zu können. Es müsse "den Willen haben, eine Weltmacht zu werden" (François-Poncet). Die Kommission spricht in ihrer Agenda 2000 davon, die wirtschaftliche und geopolitische Lage verleihe der EU genügend Gewicht, um in einer multipolaren Welt eine wichtige Rolle zu spielen. Sicherheits-, aussenhandels- und umweltpolitische Komponenten stehen dabei im Vordergrund. Es mag offenbleiben, wie realistisch solche Konzepte sind. Bezüglich der Osterweiterung sind zwei Vorbehalte mitzudenken:

- Dies kann wiederum allenfalls auf lange Sicht gültig sein.

- Vorausgesetzt ist dabei eine Lösung der institutionellen Probleme innerhalb der EU.

Sonst könnte die Osterweiterung die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft zusätzlich beeinträchtigen.

10. Eine Konstante in der gesamten Nachkriegsentwicklung ist schliesslich ein Bemühen, Deutschland über die europäische Integration einzubinden, es in "eine Art Käfig zu nehmen" (A. Grosser). Man kann vom Deutschen-Argument sprechen. Im Zusammenhang der Osterweiterung tritt es in der Spielart auf, Deutschland als das wahrscheinlich einzige Land, welches dazu in der Lage wäre, an einer eigenständigen Osteuropa-Politik zu hindern. Dies muss deutschen Interessen nicht unbedingt widersprechen, insbesondere nicht, wenn potentielle Abhängigkeiten des Ostens nicht über Deutschland, sondern über die EU geführt werden. Nur ein flagellantischer Übereifer sollte auf deutscher Seite vermieden werden. Dies müsste die Selbstachtung des Landes in Frage stellen.

Länderspezifische Aspekte

11. Die deutsche Politik, die seit Jahren auf eine Osterweiterung der EU gedrängt hat, besitzt ein spezifisches Interesse, die europäische Armutsgrenze, die gegenwärtig an der deutsch-polnischen Grenze liegt, möglichst weit nach Osten zu verschieben. Es ist ähnlich wie beim Konzept der sicheren Drittstaaten innerhalb der Asylpolitik: Die Vorstellung, auch im Osten von einem Kranz prosperierender, mit Deutschland institutionell verbundener Staaten umgeben zu sein, wird als eine säkulare Chance innerhalb der wechselvollen deutschen Geschichte verstanden. Überlegungen, die man vielleicht als nostalgisch-romantisierend bewerten mag, scheinen hinzuzutreten: Mit dem ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe Europas in diesem Jahrhundert (G. F. Kennan), wurden die Weichen in eine falsche Richtung gestellt. Dies führte zu jenen entsetzlichen Verwerfungen, die das 20. Jahrhundert in Europa prägten. Diese lassen sich nicht rückgängig machen; doch gelte es heute, an dem damals versäumten Punkt weiterzumachen, nämlich im Sinne einer zweiten Chance ein friedlich geeintes Gesamteuropa zu verwirklichen.

Gegenläufig sind finanzielle Interessen des Landes. Deutschland, ohnehin mit Abstand der grösste Nettozahler innerhalb der EU, riskiert, dass ihm weitgehend eine mit der Osterweiterung verknüpfte Zahllast zugeschoben wird. Dies droht umso mehr, als das Land sich gleichzeitig gegen eine durchgreifende Reformierung der europäischen Agrarpolitik als des dominanten Ausgabenbereichs der Gemeinschaft sperrt.

12. Die französische Politik setzte ursprünglich auf ein Konzept der konzentrischen Kreise: Das überkommene Kerneuropa als inneren Ring, umgeben von den Staaten des EWR, und schliesslich von einem dritten Ring assoziierter Länder. Das Konzept zielte in der Substanz darauf, Beitrittsaspiranten möglichst fernzuhalten. Es fand schon innerhalb der EU keine Unterstützung, nicht zuletzt wegen des damit verbundenen Hegemonialanspruches der französischen Politik. Ein solcher hätte sich im kleinen Kreis des Kerneuropas eher verwirklichen lassen als innerhalb einer Vielzahl von EU-Mitgliedstaaten. Unklar ist, in welchem Ausmass der Wechsel von der sozialistischen Präsidentschaft Mitterrand auf Chirac mit möglicherweise altgaullistischen Vorstellungen ("Europa vom Atlantik bis zum Ural") zur Richtungsänderung der französischen Politik beigetragen hat. Gelegentlich wird die Ernsthaftigkeit dieser Änderung in Frage gestellt. Ein Indiz für eine unverändert auf Beitrittsverzögerung zielende Politik soll etwa eine jüngste Initiative u.a. Frankreichs sein, wonach vor Beginn der Osterweiterung erst eine "substantielle Reform der EU-Institutionen" erfolgen müsse. Doch kann dies lediglich Ausdruck einer schlichten Einsicht sein: Clubregeln lassen sich leichter vor einem Eintritt neuer Mitglieder ändern als danach. Unstreitig ist dagegen ein Interesse der französischen Politik, Deutschland vor einer eigenständigen Osteuropa-Politik zu "bewahren".

13. Grossbritannien, unabhängig davon, ob von den Konservativen oder von Labour regiert, hat eine Osterweiterung immer energisch befürwortet. Die Vorstellung ist: Dies nähert die EU unausweichlich dem Konzept einer "gehobenen Freihandelszone" an, diejenige Konzeption, die man jenseits des Kanals für realistisch und wünschenswert zugleich hält. Den drei nordeuropäischen EU-Mitgliedstaaten liegt besonders an einer möglichst raschen Aufnahme nicht nur Estlands, sondern auch der anderen baltischen Staaten. Sie sehen darin eine aus ihrer Sicht wünschenswerte Nordverschiebung der EU unter Betonung des Integrationsraums Ostsee. Auf griechisches Drängen geht die Zusage einer raschen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Zypern zurück. Man verspricht sich dort eine Überwindung der gegenwärtigen Teilung der Insel, wenngleich niemand bis heute ein realistisches Konzept hat benennen können. Spanien und Portugal bestehen darauf, dass eine Osterweiterung der EU nicht zu Lasten der Südstaaten gehe. Mindestens sei eine klare Haushaltsordnung mit dauerhaft geregelten Finanzhilfen zugunsten der gegenwärtig schwächeren Länder geboten (Griechenland, Portugal, Spanien). Spanien selbst ist gegenwärtig der weitaus grösste Nettoempfänger von EU-Mitteln. 1997 waren es rund 12 Milliarden DM.

14. Russland als der dominante Nachfolgestaat der früheren Sowjetunion ist zwar ein entschiedener Gegner der Osterweiterung der NATO, hat aber keine Bedenken gegen eine Ausdehnung der EU nach Osten. Das militärische Potential der EU, das gegenwärtig ohnehin kein gemeinschaftliches ist, wird von Russland offenbar sehr viel weniger ernst genommen als das US-amerikanische. Es hängt dies weiter mit einer Neuorientierung der russischen Aussenpolitik zusammen. Die Optionen eines Juniorpartners der USA oder eines selbständigen Anziehungszentrums für Dritte ausserhalb des Westens wurden verworfen zugunsten einer stärkeren Annäherung an Europa bei gleichzeitiger Selbständigkeit auf anderen Feldern (China, Südasien, Naher Osten). Man spricht von der Primakow-Doktrin. Auf dieser Linie ist das im Juni 1994 unterzeichnete Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland im Dezember 1997 in Kraft getreten. Nach Auffassung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl bietet es die Perspektive, dass Russland später den Status eines assoziierten Teilnehmers der EU erreichen könne.

15. Die USA unterstützen eine Osterweiterung der EU mit allem Nachdruck. Obwohl gegenwärtig die einzige reale Weltmacht, ist das Land doch auf Verbündete angewiesen, sei es aus Gründen der eigenen Innenpolitik, sei es aus Gründen der Aussenpolitik. Bei letzterem ist nur an die zahlreichen internationalen Plattformen nach Art der UNO zu erinnern. Aus dieser Sicht ist ein stabiles Europa sozusagen der natürliche Partner jenseits des Atlantiks. Auch Aspekte eines burden sharing spielen dabei eine wichtige Rolle. Das Drängen der amerikanischen Politik geht in die Richtung, dass sich die EU weniger kulturell-historisch als geopolitisch bzw. machtpolitisch definiert. Dies macht die USA zu einem entschiedenen Befürworter einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU. Man wird auf dieser Linie mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass eines Tages auch ein EU-Beitritt des Staates Israel zur politischen Option wird.

16. Insgesamt haben die hier skizzierten Interessenlagen in ihrer Summe dazu geführt, dass die Osterweiterung der EU konkret auf die politische Agenda des Jahres 1998 genommen wurde. Überraschend ist dabei am ehesten: Es geht nur noch um die politische Option der Vollmitgliedschaft. Über andere Integrationskonzepte, eine Osterweiterung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), die Gründung einer Freihandelszone zwischen der EU einerseits und den Beitrittsaspiranten andererseits, sogenannte EFTA-Lösung, und eine blosse Anbindung mittel- und osteuropäischer Länder durch Assoziierungsabkommen, ist die Entwicklung, wie es scheint, hinweggegangen. Schwer prognostizierbar ist die Dauer der Verhandlungsprozesse. Bei einigen, weniger problematischen Fällen ist von einem Abschluss der Verhandlungen im Jahre 2002 die Rede. Was eine Erweiterung um insgesamt 11 Mitgliedstaaten anbelangt, erscheint frühestens das Jahr 2010 als realistisch. Das schliesst nicht aus, dass Übergangsfristen in Einzelbereichen noch länger dauern können.


Veröffentlichungen
(unter anderem…)

- Kronberger Kreis, Osterweiterung der Europäischen Union, Bad Homburg 1998.
- Einflüsse der europäischen auf die deutsche Wirtschaftsordnung, Jena 1998
- Mit Marktwirtschaft aus der Krise. Landsberg 1997.
- Verordnete Verschwendung ? Für eine neue Agrarordnung (Kronberger Kreis), Stuttgart 1985.
- Mehr Mut zum Markt: Handlungsaufforderungen, Stuttgart 1984.
- Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Köln 1.Auflage 1983.
- Das Wirtschaftsrecht der Banken, Frankfurt 1972.



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