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Amerika und Europa in einer Zeit globaler Herausforderungen
Ein politisch voll integriertes Europa wird kein Nachbau der Vereinigten Staaten von Amerika sein, sondern eine völlig neue Erfahrung, für die es in der Geschichte keine Vorbilder gibt. Wie wird Amerika mit diesem neuen Europa umgehen? Das ist die spannende Frage, die für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen entscheidend sein wird. Die EU hat sich für den Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ehrgeizige Ziele gesetzt. Ihre Verwirklichung wird zweifellos auch Auswirkungen auf die Nato haben, und zwar positive, weil der europäische Pfeiler gestärkt wird. © 2001
Joschka FISCHER - Bundesminister des Äußeren


Europa verändert sich, und zwar ziemlich radikal und fundamental. Der alte Kontinent hat sich bereits in den vergangenen zehn Jahren dramatisch verändert, bedingt durch das Ende des Kalten Krieges und die Teilung Europas. Er wird sich in den vor uns liegenden Jahren durch die Osterweiterung und die Vollendung der politischen Union der EU noch weitaus dramatischer verändern. An die Stelle der vielen kleinen und mittleren europäischen Mächte, die den europäischen Pfeiler des transatlantischen Bündnisses in den vergangenen Jahrzehnten gebildet haben, wird eine zunehmend nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch integrierte Europäische Union treten.

Wie wird Amerika mit diesem neuen Europa umgehen? Das ist die spannende Frage, die für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen entscheidend sein wird. Es ist aus Sicht Amerikas gewiß nicht einfach, mit einem Europa umzugehen, das sich heute gerade anschickt, in die Phase der "Federalist Papers" einzutreten, gerade also am Beginn einer Verfassungsdebatte steht, wie sie die USA vor mehr als 200 Jahren auf dem Weg von der "Confederation" zur "Union" geführt haben. Es wird jedoch wichtig sein, die zentralen Unterschiede in der Entstehungsgeschichte der USA und des integrierten Europas nicht zu übersehen. In Europa versuchen souveräne Nationalstaaten mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Geschichten zu einem gemeinsamen politischen Subjekt zusammenzufinden, und d.h. die Rolle der Nationalstaaten, der einzelnen Mitgliedsstaaten wird immer eine wesentlich andere sein, als die der Bundesstaaten in den USA. Ein politisch voll integriertes Europa wird also kein Nachbau der Vereinigten Staaten von Amerika sein, sondern eine völlig neue Erfahrung, für das es in der Geschichte keine Vorbilder gibt. Auch das zeigt den fast revolutionär zu nennenden Charakter des europäischen Einigungsprozesses.

Dieses kühne Unterfangen hätte ohne die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa, ohne das glaubwürdige Interesse der USA an einem freien, demokratischen Europa unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts niemals gelingen können. Unter dem Schild amerikanischer Sicherheitsgarantien und einer großzügigen Hilfe zum Wiederaufbau hat die europäische Integration überhaupt erst Fuß fassen können. Die europäische Präsenz des "großen Bruders" von der anderen Seite des Atlantik hat das gegenseitige Mißtrauen der westeuropäischen Nationalstaaten in Schach gehalten, Deutschland dauerhaft eingebunden und diese Idee der europäischen Integration im Kalten Krieg überhaupt erst wachsen lassen.

Die amerikanische Grundentscheidung, in Europa zu bleiben, hat sich an der Frontlinie des Kalten Krieges, im geteilten Deutschland und vor allem in Berlin, immer wieder bewähren müssen und immer wieder bewährt. Die USA sind bis heute in Europa präsent, sie sind eine "europäische Macht". Das ist bis heute ein Glücksfall für Europa und insbesondere für Deutschland.

Denn für Deutschland hat dies eine doppelte Bedeutung. Wir verdanken unsere Rückkehr in die Staatengemeinschaft nach Krieg und Holocaust und die Lösung der "deutschen Frage" vierzig Jahre später jenen bereits erwähnten zwei politischen Entscheidungen historischer Tragweite außerhalb Deutschlands, die sich gegenseitig positiv verstärkt haben: dem dauerhaften amerikanischen Engagement in Europa seit den Tagen von Harry Truman und George C. Marshall und dem europäischen Integrationsprozeß. Die Lehre daraus besteht für uns bis heute in einer Staatsraison, die gleichermaßen auf enge Beziehungen mit den USA und mit Frankreich baut. Wann immer Deutschland sich aufgefordert sah, zwischen diesen beiden Partnern zu wählen — ich erinnere nur an die hitzigen Debatten um den Elysee-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich 1963 — hat es dieser Versuchung erfolgreich widerstanden. Wir haben es vermocht, diese doppelte Bindung aufrecht zu erhalten und parallel auszubauen, auch wenn klar ist, daß die Vollendung der europäischen Integration für uns eine überragende Bedeutung besitzt

Das ist deshalb von so grundlegender politischer Bedeutung, weil diese doppelte Verankerung Deutschlands prekäre geographische Mittellage, seine mangelnde Einbindung und damit die Gefährdung hegemonialer Versuchungen aufgelöst hat. Darum ist die amerikanische Präsenz in Europa und die enge Bindung zwischen unseren Kontinenten für Deutschland auch in Zukunft so unverzichtbar. Denn neben einer dann entstehenden Sicherheitslücke in Europa würde ein Rückzug Amerikas Deutschland in Europa in eine Rolle zwingen, die es weder ausfüllen kann noch will. Auch wenn sich die Europäische Union immer stärker zu einem selbstbewußten, eigenständigen politischen Akteur entwickelt: ihre innere Stabilität ruht auch künftig zu einem entscheidenden Teil auf dem fortdauernden amerikanischen Engagement.

Die EU hat sich für den Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Stärkung europäischer Kapazitäten für die Krisenbewältigung — übrigens auch und gerade die zivile Krisenbewältigung - ehrgeizige Ziele gesetzt. Ihre Verwirklichung wird zweifellos auch Auswirkungen auf die Nato haben, und zwar positive, weil der europäische Pfeiler gestärkt wird. Ein europäischer Meinungsbildungsprozeß unter dem Dach der EU, der den Amerikanern in seiner Komplexität angesichts ihres eigenen "inter-agency-process" nicht völlig fremd sein wird, wird eines Tages auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Realität werden. Die USA haben in dieser Hinsicht dennoch keine Sorge nötig. Unsere kollektive Verteidigung ist und bleibt Sache der NATO, das hat der Europäische Rat von Helsinki im Dezember 1999 unmissverständlich klargestellt. Mehr als das: Europas Sicherheit und Stabilität ist auch künftig nur mit den USA als Partner zu gewährleisten. Europa braucht die transatlantische Rückversicherung schon aus geopolitischen Gründen.

Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt in der Konsequenz des europäischen Einigungsprozesses — aber sie wird zugleich durch die Chancen einer neuen Lastenteilung die transatlantische Sicherheitspartnerschaft stärken und weiterentwickeln.

Bei aller Bedeutung darf die Frage der europäischen Friedensordnung nicht auf diese Diskussion verengt werden. Die strategische Entscheidung zur Erweiterung der Europäischen Union ist Grundlage einer umfassenden Stabilitätspolitik, deren Bedeutung für den europäischen Kontinent kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Die Europäische Union ist in der Tat aus den Fesseln des Kalten Krieges herausgewachsen. Die Standards der Union strahlen auf die Nachbarstaaten aus und haben schon viele, in der Vergangenheit blutig ausgetragene Konflikte auflösen können. Für die Entwicklung der Zivilgesellschaften in den Beitrittsländern, für die Angleichung von Wettbewerbs-, Umwelt- und Sozialstandards wendet die EU jährlich Milliardensummen auf — gut investierte Mittel für eine langfristig angelegte, präventive Sicherheits- und Friedenspolitik, die auf die innere Stabilität dieser Staaten und Gesellschaften sogar noch stärker und nachhaltiger Einfluss nimmt als die NATO-Öffnung.

Die Begründungen für das amerikanische Interesse an einem starken und geeinten Europa waren immer und sind bis heute Wandlungen unterworfen. Die geopolitisch motivierte Sicherung der "strategischen Gegenküste" in Europa ist bis heute für die USA wichtig, die Suche nach Verbündeten im Wettstreit der Systeme während des Ost-West-Konflikts hingegen macht der Suche nach einem Partner für die politische Gestaltung der Globalisierung Platz. Aber auch in unseren Wirtschaftsbeziehungen, die so häufig Konfliktschlagzeilen produzieren, gibt es nicht nur ein stabiles, sondern ein wachsendes gegenseitiges Interesse.

Natürlich sind europäische und amerikanische Firmen auf vielen Märkten Konkurrenten. Natürlich gibt es scharfen Wettbewerb, der nicht immer ohne Konflikte und manchen rauhen Ton stattfindet. Zugleich aber gilt: Die "materielle" Basis der europäisch-amerikanischen Partnerschaft wird täglich breiter. Der europäisch-amerikanische Güter- und Investitionsaustausch erreicht mehr als eine Milliarde Dollar täglich. Der Staat Kalifornien exportiert mehr nach Europa als nach Asien. Europäische Firmen sind in 41 der 50 Bundesstaaten der ausländische Investor Nr. 1. Die gegenseitige Integration unserer Volkswirtschaften durch Fusionen, Direktinvestitionen und die Zusammenarbeit von Unternehmer-, Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitnehmerverbänden ist beeindruckend. Die High-tech-Industrien, deren Produkte und Dienstleistungen unsere Gesellschaften in Zukunft prägen werden, kennen keine nationalen Optionen mehr.

Wir sollten diese integrative Kraft unserer Wirtschaftsverflechtungen stärker nutzen. Der transatlantische Markt wird schon heute immer stärker durch die Unternehmen und die Technologieentwicklung gestaltet. Deshalb dürfen wir — gerade in einer Zeit, in der sich unsere Volkswirtschaften im Aufbruch befinden - eine transatlantische Freihandelszone als politische Zielvorstellung nicht aus den Augen verlieren. Wir werden sonst der tatsächlichen Entwicklung hinterherlaufen.

Die Globalisierung mit all ihren Chancen und Herausforderungen bedeutet eine qualitativ neue Herausforderung an die Politik. Ob "new economy", die Entschlüsselung des Humangenoms, inter-nationale Finanz- und Währungskrisen, Klimawandel und Um-weltzerstörung, oder die gefährliche Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen: Eine erneuerte transatlantische Partnerschaft, die über die — unverändert wichtige - europäisch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft hinausgreift, hat die Chance, zu einem entscheidenden Strukturelement der inter-nationalen Politik im Zeitalter der Globalisierung zu werden.

Die Debatte um die Globalisierung ist nicht in erster Linie eine Debatte über ökonomische Effizienz, sondern eher über Werte, Verantwortung und Demokratisierung. Die großen Probleme der Länder im Transformationsprozeß, ob in China, Russland, den krisengeschüttelten Volkswirtschaften Asiens oder in Lateinamerika und Afrika, liegen darin, dass eine nachhaltige ökonomische und soziale Entwicklung heute mehr denn je auf der Kreativität und damit auf der Freiheit der Bürger aufbaut. Freiheit setzt einen funktionierenden Rechtsstaat voraus, eine offene Gesellschaft - und genau deshalb ist die Frage der "Herrschaft des Rechts" von einer modernen, auf Wissen und Technologie basierenden Marktwirtschaft nicht zu trennen. Funktionierender Rechtsstaat und eine auf individueller Freiheit gründende Zivilgesellschaft sind die wichtigsten Produktivitätsvoraussetzungen einer modernen Volkswirtschaft, und genau darin liegen die großen Schwierigkeiten so vieler Transformations- und Schwellenländer.

Angesichts dieser neuen, zusätzlichen Dimension der transatlan-tischen Partnerschaft kann man die Konflikte, die immer wieder als Symptom der Entfremdung, als "continental drift" gedeutet werden, im wesentlichen in zwei Kategorien fassen: solche, die Ausdruck einer stetig wachsenden Nähe und Verflechtung sind, praktisch Reibungsflächen einer "transatlantischen Gemeinschaft" — Handelskonflikte, Umgang mit der Todesstrafe oder mit religiösen Sekten; andererseits solche Konflikte, die sich um die Frage des richtigen Umgangs mit den neuen, globalen Herausforderungen drehen — Internationaler Strafgerichtshof, National Missile Defense, nuklearer Teststoppvertrag, oder die Politik gegenüber Staaten wie etwa dem Iran. Hier liegt die größte Herausforderung für die Zukunft unserer Beziehungen, hier liegt der größte Abstimmungs- und Diskussions-bedarf. Hier liegt aber auch das größte Interesse an gegenseitiger Zusammenarbeit, der größte potentielle transatlantische Mehrwert. Ob uns diese Erneuerung unserer Partnerschaft gelingt, hängt von den richtigen politischen Entscheidungen auf beiden Seiten des Atlantik ab. Die Chancen sind allemal gegeben. Aber wir sollten uns auch über die Hindernisse klar sein.

Aus deutscher Sicht ist eine multilateral orientierte Politik der vielversprechendste, sogar der einzig erfolgversprechende Ansatz, um die Globalisierung erfolgreich gestalten zu können. Sicherlich ist der Multilateralismus für Deutschland ein politischer Imperativ, der sich aus unserer Geschichte ergibt, zum anderen aber ist er die notwendige Konsequenz aus dem Charakter der Aufgaben, die vor uns liegen. Funktionierende Regelungen zur Bewältigung globaler Herausforderungen lassen sich nur auf der Basis eines breiten Konsenses errichten. Deutschland und seine europäischen Partner sehen deshalb in den Vereinten Nationen ein unverzichtbares und in seiner Bedeutung noch zunehmendes Instrument für die Gestaltung der Globalisierung. Eine schwache, in ihrer Entscheidungsfähigkeit gelähmte VN macht uns alle zu Verlierern, arm und reich, und gefährdet unser aller Sicherheit. Denn auch für die Vereinigten Staaten gilt: US engagement is a necessary, but not a sufficient condition for solving problems on a global scale that affect American security and prosperity. Wir verfolgen deshalb mit Sorge alle Stimmen in den Vereinigten Staaten, die einem unilateralen Handeln Amerikas das Wort reden.

Nehmen Sie [nur] die Frage, wie wir die enormen ethischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Gentechnik bewältigen können — einer Technologie, die großartige Chancen für Medizin und Landwirtschaft eröffnet. Ich weiss, dass sich das Kennedy-Institut dieser Universität in einem internationalen Dialog auch mit deutschen Universitäten mit genau diesen Fragen beschäftigt. Ich weiß, dass es nicht leicht sein wird, eine gemeinsame Basis für eine völkerrechtliche Konvention zu finden, die verbindliche Standards definiert, die der Forschung Raum gibt und unsere Gesellschaften vor Mißbrauch schützt. Aber haben wir eine Alternative? Alle nationalen Versuche würden zu kurz greifen.

Ein Gleichklang der Politik zwischen Amerika und Europa gerade in Fragen, die über unser bilaterales Verhältnis hinausgehen, kann aber keine Selbstverständlichkeit sein, sondern nur das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen. Unsere gemeinsame Wertebasis bedeutet aber keineswegs immer einen Wertekonsens oder auch nur die gleiche Wertehierarchie — denken Sie etwa an die Todesstrafe. Das Management einer neuen Agenda und das Management unserer politischen und gesellschaftlichen Unterschiede sind daher zwei Seiten einer Medaille. In dem Maße, in dem unsere Partnerschaft über das Projekt der europäischen Friedensordnung hinausreicht, wird sie auch komplexer und vielschichtiger. Das bedeutet für beide Seiten die Notwendigkeit, mehr in dieser Partnerschaft zu investieren: mehr Abstimmung, mehr politische, aber auch mehr kulturelle Ressourcen und mehr Austausch von Menschen und Ideen.

Wie gelingt uns die Schaffung neuer, tragfähiger Netzwerke, wie es dieses Center sein kann, um eine produktive transatlantische Lerngemeinschaft zu fördern? Welche neuen Strukturen brauchen wir, um unsere komlexere Partnerschaft, um gerade die Zusammenarbeit in globalen Fragen zu organisieren? Ist die "Neue Transatlantische Agenda" ein ausreichender und effizienter Rahmen für unsere Zusammenarbeit? Brauchen wir auf mittlere Sicht womöglich eine "neue Atlantik-Charta", die dem Zusammenwachsen unserer Volkswirtschaften und Zivilgesellschaften und den neuen Aufgaben Rechnung trägt? All diese Fragen werden wir mit der neuen US-Administration aufgreifen und zu diskutieren haben.

Unser Ziel als Europäer ist klar: Wir wollen am Ende der vor uns liegenden Dekade eine wirtschaftlich und politisch integrierte Europäische Union, die Europa innere Stabilität gibt und als Partner der USA einen substantiellen Beitrag zu einer gerechteren und friedlicheren Welt leistet. Wir wollen eine enge Partnerschaft mit einer fortdauernden amerikanischen Präsenz in Europa.

Die Einigung Europas und die europäisch-amerikanische Partnerschaft sind nicht alternative, sondern komplementäre und kumulative Prozesse. Mehr Europa ist die Vorausetzung für die transatlantische Partnerschaft der Zukunft.



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