Europa verändert
sich, und zwar ziemlich radikal und fundamental. Der alte Kontinent
hat sich bereits in den vergangenen zehn Jahren dramatisch verändert,
bedingt durch das Ende des Kalten Krieges und die Teilung Europas.
Er wird sich in den vor uns liegenden Jahren durch die Osterweiterung
und die Vollendung der politischen Union der EU noch weitaus dramatischer
verändern. An die Stelle der vielen kleinen und mittleren europäischen
Mächte, die den europäischen Pfeiler des transatlantischen
Bündnisses in den vergangenen Jahrzehnten gebildet haben, wird
eine zunehmend nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch
integrierte Europäische Union treten.
Wie wird Amerika
mit diesem neuen Europa umgehen? Das ist die spannende Frage, die
für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen entscheidend
sein wird. Es ist aus Sicht Amerikas gewiß nicht einfach,
mit einem Europa umzugehen, das sich heute gerade anschickt, in
die Phase der "Federalist Papers" einzutreten, gerade
also am Beginn einer Verfassungsdebatte steht, wie sie die USA vor
mehr als 200 Jahren auf dem Weg von der "Confederation"
zur "Union" geführt haben. Es wird jedoch wichtig
sein, die zentralen Unterschiede in der Entstehungsgeschichte der
USA und des integrierten Europas nicht zu übersehen. In Europa
versuchen souveräne Nationalstaaten mit unterschiedlichen Sprachen,
Kulturen und Geschichten zu einem gemeinsamen politischen Subjekt
zusammenzufinden, und d.h. die Rolle der Nationalstaaten, der einzelnen
Mitgliedsstaaten wird immer eine wesentlich andere sein, als die
der Bundesstaaten in den USA. Ein politisch voll integriertes Europa
wird also kein Nachbau der Vereinigten Staaten von Amerika sein,
sondern eine völlig neue Erfahrung, für das es in der
Geschichte keine Vorbilder gibt. Auch das zeigt den fast revolutionär
zu nennenden Charakter des europäischen Einigungsprozesses.
Dieses kühne
Unterfangen hätte ohne die Präsenz der Vereinigten Staaten
in Europa, ohne das glaubwürdige Interesse der USA an einem
freien, demokratischen Europa unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts
niemals gelingen können. Unter dem Schild amerikanischer Sicherheitsgarantien
und einer großzügigen Hilfe zum Wiederaufbau hat die
europäische Integration überhaupt erst Fuß fassen
können. Die europäische Präsenz des "großen
Bruders" von der anderen Seite des Atlantik hat das gegenseitige
Mißtrauen der westeuropäischen Nationalstaaten in Schach
gehalten, Deutschland dauerhaft eingebunden und diese Idee der europäischen
Integration im Kalten Krieg überhaupt erst wachsen lassen.
Die amerikanische
Grundentscheidung, in Europa zu bleiben, hat sich an der Frontlinie
des Kalten Krieges, im geteilten Deutschland und vor allem in Berlin,
immer wieder bewähren müssen und immer wieder bewährt.
Die USA sind bis heute in Europa präsent, sie sind eine "europäische
Macht". Das ist bis heute ein Glücksfall für Europa
und insbesondere für Deutschland.
Denn für
Deutschland hat dies eine doppelte Bedeutung. Wir verdanken unsere
Rückkehr in die Staatengemeinschaft nach Krieg und Holocaust
und die Lösung der "deutschen Frage" vierzig Jahre
später jenen bereits erwähnten zwei politischen Entscheidungen
historischer Tragweite außerhalb Deutschlands, die sich gegenseitig
positiv verstärkt haben: dem dauerhaften amerikanischen Engagement
in Europa seit den Tagen von Harry Truman und George C. Marshall
und dem europäischen Integrationsprozeß. Die Lehre daraus
besteht für uns bis heute in einer Staatsraison, die gleichermaßen
auf enge Beziehungen mit den USA und mit Frankreich baut. Wann immer
Deutschland sich aufgefordert sah, zwischen diesen beiden Partnern
zu wählen ich erinnere nur an die hitzigen Debatten
um den Elysee-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich 1963
hat es dieser Versuchung erfolgreich widerstanden. Wir haben es
vermocht, diese doppelte Bindung aufrecht zu erhalten und parallel
auszubauen, auch wenn klar ist, daß die Vollendung der europäischen
Integration für uns eine überragende Bedeutung besitzt
Das ist deshalb
von so grundlegender politischer Bedeutung, weil diese doppelte
Verankerung Deutschlands prekäre geographische Mittellage,
seine mangelnde Einbindung und damit die Gefährdung hegemonialer
Versuchungen aufgelöst hat. Darum ist die amerikanische Präsenz
in Europa und die enge Bindung zwischen unseren Kontinenten für
Deutschland auch in Zukunft so unverzichtbar. Denn neben einer dann
entstehenden Sicherheitslücke in Europa würde ein Rückzug
Amerikas Deutschland in Europa in eine Rolle zwingen, die es weder
ausfüllen kann noch will. Auch wenn sich die Europäische
Union immer stärker zu einem selbstbewußten, eigenständigen
politischen Akteur entwickelt: ihre innere Stabilität ruht
auch künftig zu einem entscheidenden Teil auf dem fortdauernden
amerikanischen Engagement.
Die EU hat
sich für den Aufbau einer europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik und die Stärkung europäischer Kapazitäten
für die Krisenbewältigung übrigens auch und
gerade die zivile Krisenbewältigung - ehrgeizige Ziele gesetzt.
Ihre Verwirklichung wird zweifellos auch Auswirkungen auf die Nato
haben, und zwar positive, weil der europäische Pfeiler gestärkt
wird. Ein europäischer Meinungsbildungsprozeß unter dem
Dach der EU, der den Amerikanern in seiner Komplexität angesichts
ihres eigenen "inter-agency-process" nicht völlig
fremd sein wird, wird eines Tages auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Realität werden. Die USA haben in dieser Hinsicht dennoch keine
Sorge nötig. Unsere kollektive Verteidigung ist und bleibt
Sache der NATO, das hat der Europäische Rat von Helsinki im
Dezember 1999 unmissverständlich klargestellt. Mehr als das:
Europas Sicherheit und Stabilität ist auch künftig nur
mit den USA als Partner zu gewährleisten. Europa braucht die
transatlantische Rückversicherung schon aus geopolitischen
Gründen.
Die europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt in der Konsequenz des
europäischen Einigungsprozesses aber sie wird zugleich
durch die Chancen einer neuen Lastenteilung die transatlantische
Sicherheitspartnerschaft stärken und weiterentwickeln.
Bei aller Bedeutung
darf die Frage der europäischen Friedensordnung nicht auf diese
Diskussion verengt werden. Die strategische Entscheidung zur Erweiterung
der Europäischen Union ist Grundlage einer umfassenden Stabilitätspolitik,
deren Bedeutung für den europäischen Kontinent kaum hoch
genug eingeschätzt werden kann. Die Europäische Union
ist in der Tat aus den Fesseln des Kalten Krieges herausgewachsen.
Die Standards der Union strahlen auf die Nachbarstaaten aus und
haben schon viele, in der Vergangenheit blutig ausgetragene Konflikte
auflösen können. Für die Entwicklung der Zivilgesellschaften
in den Beitrittsländern, für die Angleichung von Wettbewerbs-,
Umwelt- und Sozialstandards wendet die EU jährlich Milliardensummen
auf gut investierte Mittel für eine langfristig angelegte,
präventive Sicherheits- und Friedenspolitik, die auf die innere
Stabilität dieser Staaten und Gesellschaften sogar noch stärker
und nachhaltiger Einfluss nimmt als die NATO-Öffnung.
Die Begründungen
für das amerikanische Interesse an einem starken und geeinten
Europa waren immer und sind bis heute Wandlungen unterworfen. Die
geopolitisch motivierte Sicherung der "strategischen Gegenküste"
in Europa ist bis heute für die USA wichtig, die Suche nach
Verbündeten im Wettstreit der Systeme während des Ost-West-Konflikts
hingegen macht der Suche nach einem Partner für die politische
Gestaltung der Globalisierung Platz. Aber auch in unseren Wirtschaftsbeziehungen,
die so häufig Konfliktschlagzeilen produzieren, gibt es nicht
nur ein stabiles, sondern ein wachsendes gegenseitiges Interesse.
Natürlich
sind europäische und amerikanische Firmen auf vielen Märkten
Konkurrenten. Natürlich gibt es scharfen Wettbewerb, der nicht
immer ohne Konflikte und manchen rauhen Ton stattfindet. Zugleich
aber gilt: Die "materielle" Basis der europäisch-amerikanischen
Partnerschaft wird täglich breiter. Der europäisch-amerikanische
Güter- und Investitionsaustausch erreicht mehr als eine Milliarde
Dollar täglich. Der Staat Kalifornien exportiert mehr nach
Europa als nach Asien. Europäische Firmen sind in 41 der 50
Bundesstaaten der ausländische Investor Nr. 1. Die gegenseitige
Integration unserer Volkswirtschaften durch Fusionen, Direktinvestitionen
und die Zusammenarbeit von Unternehmer-, Verbraucher-, Umwelt- und
Arbeitnehmerverbänden ist beeindruckend. Die High-tech-Industrien,
deren Produkte und Dienstleistungen unsere Gesellschaften in Zukunft
prägen werden, kennen keine nationalen Optionen mehr.
Wir sollten
diese integrative Kraft unserer Wirtschaftsverflechtungen stärker
nutzen. Der transatlantische Markt wird schon heute immer stärker
durch die Unternehmen und die Technologieentwicklung gestaltet.
Deshalb dürfen wir gerade in einer Zeit, in der sich
unsere Volkswirtschaften im Aufbruch befinden - eine transatlantische
Freihandelszone als politische Zielvorstellung nicht aus den Augen
verlieren. Wir werden sonst der tatsächlichen Entwicklung hinterherlaufen.
Die Globalisierung
mit all ihren Chancen und Herausforderungen bedeutet eine qualitativ
neue Herausforderung an die Politik. Ob "new economy",
die Entschlüsselung des Humangenoms, inter-nationale Finanz-
und Währungskrisen, Klimawandel und Um-weltzerstörung,
oder die gefährliche Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen:
Eine erneuerte transatlantische Partnerschaft, die über die
unverändert wichtige - europäisch-amerikanische
Sicherheitspartnerschaft hinausgreift, hat die Chance, zu einem
entscheidenden Strukturelement der inter-nationalen Politik im Zeitalter
der Globalisierung zu werden.
Die Debatte
um die Globalisierung ist nicht in erster Linie eine Debatte über
ökonomische Effizienz, sondern eher über Werte, Verantwortung
und Demokratisierung. Die großen Probleme der Länder
im Transformationsprozeß, ob in China, Russland, den krisengeschüttelten
Volkswirtschaften Asiens oder in Lateinamerika und Afrika, liegen
darin, dass eine nachhaltige ökonomische und soziale Entwicklung
heute mehr denn je auf der Kreativität und damit auf der Freiheit
der Bürger aufbaut. Freiheit setzt einen funktionierenden Rechtsstaat
voraus, eine offene Gesellschaft - und genau deshalb ist die Frage
der "Herrschaft des Rechts" von einer modernen, auf Wissen
und Technologie basierenden Marktwirtschaft nicht zu trennen. Funktionierender
Rechtsstaat und eine auf individueller Freiheit gründende Zivilgesellschaft
sind die wichtigsten Produktivitätsvoraussetzungen einer modernen
Volkswirtschaft, und genau darin liegen die großen Schwierigkeiten
so vieler Transformations- und Schwellenländer.
Angesichts
dieser neuen, zusätzlichen Dimension der transatlan-tischen
Partnerschaft kann man die Konflikte, die immer wieder als Symptom
der Entfremdung, als "continental drift" gedeutet werden,
im wesentlichen in zwei Kategorien fassen: solche, die Ausdruck
einer stetig wachsenden Nähe und Verflechtung sind, praktisch
Reibungsflächen einer "transatlantischen Gemeinschaft"
Handelskonflikte, Umgang mit der Todesstrafe oder mit religiösen
Sekten; andererseits solche Konflikte, die sich um die Frage des
richtigen Umgangs mit den neuen, globalen Herausforderungen drehen
Internationaler Strafgerichtshof, National Missile Defense,
nuklearer Teststoppvertrag, oder die Politik gegenüber Staaten
wie etwa dem Iran. Hier liegt die größte Herausforderung
für die Zukunft unserer Beziehungen, hier liegt der größte
Abstimmungs- und Diskussions-bedarf. Hier liegt aber auch das größte
Interesse an gegenseitiger Zusammenarbeit, der größte
potentielle transatlantische Mehrwert. Ob uns diese Erneuerung unserer
Partnerschaft gelingt, hängt von den richtigen politischen
Entscheidungen auf beiden Seiten des Atlantik ab. Die Chancen sind
allemal gegeben. Aber wir sollten uns auch über die Hindernisse
klar sein.
Aus deutscher
Sicht ist eine multilateral orientierte Politik der vielversprechendste,
sogar der einzig erfolgversprechende Ansatz, um die Globalisierung
erfolgreich gestalten zu können. Sicherlich ist der Multilateralismus
für Deutschland ein politischer Imperativ, der sich aus unserer
Geschichte ergibt, zum anderen aber ist er die notwendige Konsequenz
aus dem Charakter der Aufgaben, die vor uns liegen. Funktionierende
Regelungen zur Bewältigung globaler Herausforderungen lassen
sich nur auf der Basis eines breiten Konsenses errichten. Deutschland
und seine europäischen Partner sehen deshalb in den Vereinten
Nationen ein unverzichtbares und in seiner Bedeutung noch zunehmendes
Instrument für die Gestaltung der Globalisierung. Eine schwache,
in ihrer Entscheidungsfähigkeit gelähmte VN macht uns
alle zu Verlierern, arm und reich, und gefährdet unser aller
Sicherheit. Denn auch für die Vereinigten Staaten gilt: US
engagement is a necessary, but not a sufficient condition for solving
problems on a global scale that affect American security and prosperity.
Wir verfolgen deshalb mit Sorge alle Stimmen in den Vereinigten
Staaten, die einem unilateralen Handeln Amerikas das Wort reden.
Nehmen Sie
[nur] die Frage, wie wir die enormen ethischen und gesellschaftlichen
Herausforderungen der Gentechnik bewältigen können
einer Technologie, die großartige Chancen für Medizin
und Landwirtschaft eröffnet. Ich weiss, dass sich das Kennedy-Institut
dieser Universität in einem internationalen Dialog auch mit
deutschen Universitäten mit genau diesen Fragen beschäftigt.
Ich weiß, dass es nicht leicht sein wird, eine gemeinsame
Basis für eine völkerrechtliche Konvention zu finden,
die verbindliche Standards definiert, die der Forschung Raum gibt
und unsere Gesellschaften vor Mißbrauch schützt. Aber
haben wir eine Alternative? Alle nationalen Versuche würden
zu kurz greifen.
Ein Gleichklang
der Politik zwischen Amerika und Europa gerade in Fragen, die über
unser bilaterales Verhältnis hinausgehen, kann aber keine Selbstverständlichkeit
sein, sondern nur das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen. Unsere
gemeinsame Wertebasis bedeutet aber keineswegs immer einen Wertekonsens
oder auch nur die gleiche Wertehierarchie denken Sie etwa
an die Todesstrafe. Das Management einer neuen Agenda und das Management
unserer politischen und gesellschaftlichen Unterschiede sind daher
zwei Seiten einer Medaille. In dem Maße, in dem unsere Partnerschaft
über das Projekt der europäischen Friedensordnung hinausreicht,
wird sie auch komplexer und vielschichtiger. Das bedeutet für
beide Seiten die Notwendigkeit, mehr in dieser Partnerschaft zu
investieren: mehr Abstimmung, mehr politische, aber auch mehr kulturelle
Ressourcen und mehr Austausch von Menschen und Ideen.
Wie gelingt
uns die Schaffung neuer, tragfähiger Netzwerke, wie es dieses
Center sein kann, um eine produktive transatlantische Lerngemeinschaft
zu fördern? Welche neuen Strukturen brauchen wir, um unsere
komlexere Partnerschaft, um gerade die Zusammenarbeit in globalen
Fragen zu organisieren? Ist die "Neue Transatlantische Agenda"
ein ausreichender und effizienter Rahmen für unsere Zusammenarbeit?
Brauchen wir auf mittlere Sicht womöglich eine "neue Atlantik-Charta",
die dem Zusammenwachsen unserer Volkswirtschaften und Zivilgesellschaften
und den neuen Aufgaben Rechnung trägt? All diese Fragen werden
wir mit der neuen US-Administration aufgreifen und zu diskutieren
haben.
Unser Ziel
als Europäer ist klar: Wir wollen am Ende der vor uns liegenden
Dekade eine wirtschaftlich und politisch integrierte Europäische
Union, die Europa innere Stabilität gibt und als Partner der
USA einen substantiellen Beitrag zu einer gerechteren und friedlicheren
Welt leistet. Wir wollen eine enge Partnerschaft mit einer fortdauernden
amerikanischen Präsenz in Europa.
Die Einigung
Europas und die europäisch-amerikanische Partnerschaft sind
nicht alternative, sondern komplementäre und kumulative Prozesse.
Mehr Europa ist die Vorausetzung für die transatlantische Partnerschaft
der Zukunft.
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