Die transatlantische
Allianz ist für Amerika weltweit die wichtigste internationale
Partnerschaft. Sie bildet das Sprungbrett für das Engagement
der Vereinigten Staaten in der Welt, ermöglicht Amerika, in
Eurasien - der zentralen internationalen Machtarena - die entscheidende
Rolle des Schlichters zu spielen und führt auf allen Schlüsselebenen
der Macht und der Einflussnahme zu einer weltweit dominierenden
Koalition. Amerika und Europa dienen sowohl als internationale Stabilitätsachse
und als Motor der Weltwirtschaft wie auch als Nexus des weltweiten
geistigen Kapitals und technologischer Innovation. Nicht minder
wichtig ist, dass beide die Heimstätte der weltweit erfolgreichsten
Demokratien bilden. Wie die Beziehungen zwischen den Vereinigten
Staaten und Europa gestaltet werden, muss deswegen für Washington
höchste Priorität besitzen.
Auf längere
Sicht würde das Entstehen eines politisch wirklich geeinten
Europas eine grundlegende Wandlung der Machtverteilung in der Welt
zur Folge haben, deren Konsequenzen so weitreichend wären,
wie die Auswirkungen, die sich aus dem Zusammenbruch des sowjetischen
Imperiums und der daraus resultierenden weltweiten Vormachtstellung
Amerikas ergeben haben. Der Einfluss eines solchen Europas auf die
amerikanische Position in der Welt und auf das Mächtegleichgewicht
in Eurasien wäre enorm, was unweigerlich schwerwiegende transatlantische
Spannungen in beide Richtungen nach sich ziehen würde. Gegenwärtig
ist keine der beiden Seiten gut gerüstet, um einer virtuell
derart bedeutenden Veränderung zu begegnen. Ganz allgemein
verstehen die Amerikaner den europäischen Wunsch nach einer
Aufwertung ihrer Stellung in der Beziehung nicht ganz, und es fehlt
ihnen an einer klaren Vorstellung von der Vielfalt der europäischen
Sichtweise bezüglich der Vereinigten Staaten. Oftmals sind
sich die Europäer hingegen nicht im Klaren über die Spontaneität
und die Ehrlichkeit des amerikanischen Engagements gegenüber
Europa und lassen sich bei der Wahrnehmung des amerikanischen Wunsches,
die Allianz zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu bekräftigen,
von einem europäischen Hang leiten, in allem eine machiavellistische
Doppeldeutigkeit zu sehen.
Gleichwohl
muss darauf hingewiesen werden, dass das Schlüsselwort des
voranstehenden Abschnittes bezüglich eines wirklich geeinten
Europas "würde" ist. Der Weg zu einer Europäischen Union
mit eigenem politischen Gewicht und politischer Einheit ist nicht
vorgezeichnet. Das Entstehen eines solchen Europas hängt von
der Tiefe seiner politischen Integration, von der Breite seiner
Erweiterung und von dem Entwicklungsniveau seiner künftigen,
eigenen militärischen und politischen Identität ab. In
all diesen Punkten sind die entscheidenden Schritte erst noch zu
leisten.
Gegenwärtig
ist Europa - trotz seiner ökonomischen Stärke, seiner
fortgeschrittenen ökonomischen und währungspolitischen
Integration und der beständigen Gültigkeit der transatlantischen
Freundschaft - de facto ein militärisches Protektorat der Vereinigten
Staaten. Diese Situation erzeugt naturgemäß Spannungen
und Unmut, zumal die direkte Gefahr für Europa, die eine solche
Abhängigkeit erträglich machte, offensichtlich geschwunden
ist. Fest steht allerdings nicht nur, dass das Bündnis zwischen
Amerika und Europa ein Bündnis zwischen Ungleichen ist, sondern
auch, dass das bestehende Machtungleichgewicht sich sehr wahrscheinlich
weiterhin zu Amerikas Gunsten verschieben wird.
Dieses Ungleichgewicht
lässt sich sowohl auf die beispiellose Stärke des amerikanischen
Wirtschaftswachstums zurückführen als auch auf die technologischen
Innovationen in solch komplexen und diversen Gebieten wie der Bio-
und Informationstechnologie, in denen Amerika eine Vorreiterrolle
hat. Darüber hinaus erweitert die technologische Revolution
im Militärbereich unter amerikanischer Führung nicht nur
die militärische Reichweite der Vereinigten Staaten, sondern
verändert auch das Wesen und den Gebrauch militärischer
Macht als solcher. Aller kollektiver Anstrengungen von Seiten der
europäischen Staaten zum Trotz ist es höchst unwahrscheinlich,
dass Europa die militärische Lücke zu Amerika in absehbarer
Zeit wird schließen können.
Daher werden
die Vereinigten Staaten voraussichtlich die einzig wahre Weltmacht
für mindestens eine weitere Generation bleiben. Und das bedeutet
wiederum, dass Amerika im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts aller
Voraussicht nach auch der tonangebende Partner im transatlantischen
Bündnis bleiben wird. Infolgedessen wird die transatlantische
Debatte nicht so sehr fundamentale Änderungen im Wesen der
Partnerschaft, sondern die Auswirkungen voraussichtlicher Trends
und ihre entsprechenden, aber eher marginalen Anpassungen betreffen.
Man braucht allerdings wohl kaum hinzuzufügen, dass selbst
stufenweise Anpassungen Konflikte hervorrufen können, die besser
vermieden werden sollten, wenn die Partnerschaft zwischen den Vereinigten
Staaten und Europa weiterhin konstruktiv und wahrhaft kooperativ
sein soll.
Ein grundlegendes
historisches Missverständnis begründet den fortdauernden
Dialog zwischen Amerika und Europa, verkompliziert ihn allerdings
gleichzeitig. Beide Seiten denken automatisch an Amerika, wenn sie
von einem geeinten Europa träumen. Den Europäern schweben
dabei die beeindruckenden Dimensionen des amerikanischen Kontinents
und seine Stellung in der Welt vor, und in Augenblicken der Begeisterung
malen sie sich ein künftiges Europa als eine weltweite Supermacht
aus, die mit Amerika auf einer Stufe stünde. Wenn die Amerikaner
gelegentlich - wenngleich skeptisch - die künftige Einheit
Europas begrüßen, dann beziehen sie sich automatisch
auf ihre eigene historische Erfahrung. Diese Sichtweise sorgt bei
manchen Verantwortlichen der amerikanischen Außenpolitik für
Unwohlsein, weil damit zwangsläufig die Vermutung einhergeht,
dass Europa, wenn es denn "geeint" sein wird, gegenüber Amerika
gleichberechtigt sei und potenziell zu seinem Rivalen werde.
Die europäischen
Staatsmänner kommen im Laufe des europäischen Einigungsprozesses
immer wieder auf die amerikanische Geschichte zu sprechen (einer
von ihnen erklärte mir vor kurzem, dass die Europäische
Union dieser Tage sich irgendwo zwischen 1776 und 1789 befinde).
Und dennoch sind sich die meisten verantwortlichen Politiker in
Europa durchaus dessen bewusst, dass es der Europäischen Union
sowohl an der ideologischen Begeisterung als auch an der bürgerschaftlichen
Loyalität gebricht, die nicht nur die Begründer der amerikanischen
Verfassung als auch - gerade darin besteht der ausschlaggebende
Test der politischen Beteiligung - jene beseelte, die für die
Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien das letzte Opfer
zu bringen bereit waren. Gegenwärtig und auf absehbare Zeit
verhält es sich schlicht so, dass kein "Europäer" dazu
bereit wäre, für "Europa" sein Leben zu lassen.
Wenn Europa
erst integriert ist, wird es infolgedessen sowohl hinsichtlich seiner
Gestalt als auch seinem Wesen nach etwas gänzlich Neues in
der Geschichte der politischen Gebilde darstellen. Ungeachtet dessen,
dass Europa für sich genommen weltweit zu den bedeutendsten
Wirtschaften zählt, wird es sich zweifellos auch institutionell
verfestigen. Insofern wird ihm allerdings die emotionale und idealistische
Identifikation abgehen, die die Vereinigten Staaten bei ihrem Entstehen
hervorgerufen haben. Diese Identifikation kam in einem transzendentalen
Konzept politischer Freiheit zum Ausdruck, das zu universeller Gültigkeit
ausgerufen wurde und das sowohl die philosophische Grundlage als
auch das politisch attraktive Leuchtsignal für einen neu entstandenen
Nationalstaat lieferte. Das Engagement der Staatsgründer und
derjenigen, die später dazu stießen und darin aufgingen,
hatte nahezu etwas Religiöses. Kurzum: Die amerikanische Revolution
schuf eine neue Art Nationalismus, der gegenüber allem offen
war, einen Nationalismus mit universellem Antlitz.
In der Präambel
der US-amerikanischen Verfassung kommt die Eigentümlichkeit
des amerikanischen Engagements für die nationale Einheit und
die Freiheit zum Ausdruck:
We, the people
of the United States, in order to form a more perfect Union, establish
justice, insure domestic tranquillity, provide for the common defense,
promote the general welfare, and secure the blessings of liberty
to ourselves and our posterity, do ordain and establish
Keinerlei Ähnlichkeit
mit den Trommelschlägen der europäischen Nationen auf
dem Weg zu einem gemeinsamen Europa. Es ist auffällig, dass
die Römischen Verträge - der historische Schwur von sechs
europäischen Nationen aus dem Jahre 1957, "die Grundlagen für
einen immer festeren Zusammenschluss zu schaffen" - den Akzent schon
eingangs auf die Garantie eines "wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts"
legt, auf eine "stete Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen",
eine "Beseitigung der bestehenden Hindernisse" auf dem Weg zu einem
"ausgewogenen Handelsverkehr und redlichen Wettbewerb" und auf eine
"fortschreitende Beseitigung der Beschränkungen im zwischenstaatlichen
Wirtschaftsverkehr". Es handelt sich um ein bewundernswert pragmatisches,
allerdings eben auch nüchternes Dokument.
Den grundlegenden
Unterschied zwischen Amerika und Europa hervorzuheben, bedeutet
nicht, die historische Bedeutung des europäischen Unterfangens
abzuwerten, noch geht es darum, die Aufrichtigkeit derjenigen Europäer
anzuzweifeln, die sich an der Errichtung einer neuen Architektur
beteiligen. Es muss allerdings festgestellt werden, dass die Motivation,
die das Projekt Europa definiert, im Laufe der Zeit zu einer Motivation
des Nutzens und des Praktischen geworden ist. Der ursprüngliche
Impuls für eine europäische Einigung war idealistischerer
Natur. Europas "Gründungsväter" der späten 1940er
und frühen 1950er Jahre waren erfüllt von einer transnationalen
politischen Überzeugung und von der Entschlossenheit beseelt,
ein für allemal mit den nationalistischen Konflikten Schluss
zu machen, die zweimal im Verlauf des Jahrhunderts die europäische
Zivilisation an den Rand der Zerstörung gebracht hatten. Sie
fürchteten auch, dass ein durch die europäischen Auseinandersetzungen
enttäuschtes Amerika die europäischen Nationen schlicht
der zweiten großen historischen Option überlassen könnte,
die den östlichen Teil der Trennungslinie "von Stettin nach
Triest" - auf die ihr eigene schmutzige Weise - "einte".
Die Europäer
von heute nehmen Europa in einer pragmatischeren Weise Ernst, obwohl
manche - wie bereits erwähnt - von einer politischen Gestalt
träumen, die Amerika herausfordern könnte. Französische
Spitzenpolitiker, die bisweilen unfähig sind, ihren übergroßen
Neid auf Amerikas Weltmachtstellung zu verbergen, sehen in Europa
die Möglichkeit, die vergangene Größe Frankreichs
wiederzuerlangen. Die Deutschen haben in Europa ihre eigene Wiedereingliederung
gesucht. Die skeptischeren Briten sind letztlich zu dem Schluss
gekommen, dass es zu einer Art Europa kommen würde und dass
sie dazu gehören müssen, wenn sie ihr eigenes besonderes
Verhältnis zu Amerika mit einer genuinen Bedeutung erfüllen
wollen. Andere Völker des Kontinents - darunter auch die vor
wenigen Jahren befreiten Völker Mitteleuropas - wünschen
sich ebenfalls, Europäer zu werden, weil sie den Standpunkt
vertreten, dass Teil von Europa zu sein, ein Mehr an Sicherheit,
Wohlstand und Freiheit bedeutet. Keine dieser Motivationen ist unwürdig.
Sie sind allesamt historisch gerechtfertigt und verdienen die Achtung
Amerikas.
Nichtsdestotrotz
unterscheidet sich eine pragmatische von einer patriotischen Haltung
sowohl dem Wesen nach als auch im Hinblick auf die Folgewirkungen.
Ein Gemeinwesen, dem ein Nutzwert beigemessen wird, unterscheidet
sich zwangsläufig von einem Gemeinwesen, das auf einer Überzeugung
aufbaut. Trotzdem kann natürlich auch ein nutzenorientiertes
Gemeinwesen für Loyalität sorgen und ein Gemeinschaftsgefühl
wecken. Wahrscheinlich ist es allerdings weniger ehrgeizig, in politischer
Hinsicht weniger entschlossen und vor allem dem Idealismus und der
persönlichen Opferbereitschaft weniger zugetan. Trotz einiger
größenbedingter Ähnlichkeiten unterscheidet sich
das Europa, das gerade im Entstehen begriffen ist, somit also in
politischer Hinsicht vermutlich recht deutlich von Amerika: ein
Hybridgebilde bestehend aus einem riesigen transnationalen Unternehmen,
dem zuzugehören klug, nützlich und sogar angenehm ist,
und aus einem konföderalen Staat, der im Laufe der Zeit vielleicht
auch die genuine Loyalität seiner bis dahin distinktiven Gemeinschaften
gewinnen wird. Kurz gesagt: Das nutzenorientierte Gemeinwesen Europas
wird weniger sein als eine Art Vereinigten Staaten von Europa, allerdings
mehr als nur eine Art EU-AG.
In Wahrheit
ist für niemanden und für keinen Staat die Vermutung abwertend,
dass das entstehende Europa international voraussichtlich eher einer
größeren Schweiz entsprechen wird als den Vereinigten
Staaten. Die Schweizer Verfassung - die den Streitigkeiten zwischen
den Gemeinschaften ein Ende setzte - betont, dass die ethnisch unterschiedenen
Schweizer Kantone sich dazu entschlossen haben, "[ihren] Bund zu
erneuern", dass sie entschlossen seien, "in gegenseitiger Rücksichtnahme
und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben ", und geht dann
dazu über, die praktischen Ziele der Konföderation zu
bestimmen. Im Ausland bestand der Hauptschwerpunkt des internationalen
Engagements der Schweiz in den wichtigen Bereichen des internationalen
Finanz- und Handelsgeschäfts, wohingegen sie es vermieden hat,
sich in die globalen politisch-philosophischen Konflikte dieses
Jahrhunderts einzuschalten.
Integration,
nicht Vereinigung
In jedem Fall
scheint der Schluss zulässig, dass "Europa" auf absehbare Zeit
kein "Amerika" werden wird, genau genommen: werden kann. Wenn die
Implikationen dieses Faktums zu beiden Seiten des Atlantiks erst
einmal verarbeitet worden sind, sollte sich der Dialog zwischen
den Vereinigten Staaten und Europa eigentlich entspannen, selbst
wenn die Europäer mit den Dilemmata im Zusammenhang mit ihrem
gleichzeitigen Bemühen um Integration, Expansion und eine ansatzweise
Militarisierung konfrontiert sind und selbst wenn die Amerikaner
sich an ein neues, europäisches politisches Gemeinwesen, das
zwangsläufig entstehen wird, gewöhnen müssen.
Die Vereinigung
mehrerer Völker erfolgt normalerweise als das Ergebnis einer
äußeren Notwendigkeit, eines gemeinsamen ideologischen
Engagements, einer Vorherrschaft durch das mächtigste Volk
oder eine Kombination aus all diesen Faktoren. In der ersten Phase
des Europäischen Einheitsstrebens waren alle drei Faktoren,
allerdings in unterschiedlichem Maße, im Spiel. Die Sowjetunion
bildete eine wirkliche Bedrohung; der europäische Idealismus
nährte sich aus der noch frischen Erinnerung an den Zweiten
Weltkrieg; und Frankreich, das das Gefühl moralischer Verletzlichkeit
Westdeutschlands ausnutzte, konnte so Deutschlands wachsendes Wirtschaftspotenzial
zu eigenen politischen Zwecken umlenken. Gegen Ende des Jahrhunderts
haben diese Impulse sichtbar nachgelassen. Folglich wurde die europäische
"Integration" - zu weiten Teilen ein Prozess der Regelangleichung
- zur Aternativdefinition der Einheit. Auch wenn die Integration
allerdings einen durchaus sinnvollen Weg zur Erzielung einer effektiven
Fusion darstellt, bleibt eine solche Fusion doch weit hinter einer
in emotionaler Hinsicht aussagekräftigen Partnerschaft zurück.
Tatsache ist,
dass eine bürokratisch ausgerichtete Integration schlicht und
ergreifend den politischen Willen zu einer genuinen Einheit nicht
zutage fördern kann. Sie ist weder dazu in der Lage, die Phantasie
zu beflügeln (trotz der gelegentlichen rhetorischen Floskeln
über Europa auf einer Stufe mit Amerika) noch den Todesmut
zu wecken, der einen Nationalstaat, der Feindseligkeiten ausgesetzt
ist, am Leben erhalten kann. Der 80.000 Seiten umfassende und in
31 Politikfeldsektoren aufgeteilte acquis communautaire - den ein
neu in die Europäische Union aufgenommener Mitgliedstaat ratifizieren
muss - wird aller Wahrscheinlichkeit nach für den durchschnittlichen
Europäer nicht den notwendigen Nährwert enthalten, um
eine politisch kräftige Loyalität zu befördern. Gleichwohl
sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass angesichts der
fehlenden drei anderen Möglichkeiten, eine Einheit zu erzielen,
die Integration augenblicklich nicht nur notwendig ist, sondern
auch den einzigen Weg darstellt, auf dem Europa zu einer "Einheit"
voranschreiten kann.
Die Diskrepanz
zwischen "Vereinigung" und "Integration" wiederum erklärt,
warum die Integration zwangsläufig langsam erfolgt und warum
es, wenn sie in der ein oder anderen Form beschleunigt würde,
sogar zu einer neuerlichen Spaltung Europas kommen könnte.
Jeder Versuch, den politischen Einigungsprozess zu beschleunigen,
würde nämlich voraussichtlich die internen Spannungen
zwischen den tonangebenden Staaten innerhalb der Union verstärken,
weil jeder einzelne Staat auf dem kritischen Gebiet der Außenpolitik
immer noch auf die Bewahrung seiner Souveränität pocht.
In dieser Hinsicht kann auch der Antiamerikanismus als Einheitsmotor
- selbst wenn er im rhetorischen Gewand der "Multipolarität"
daherkommt - keine einigende Kraft darstellen, wie es der Antisowjetismus
ehemals war, weil die meisten Europäer dem nicht zustimmen.
Außerdem betrachtet im Anschluss an die Wiedervereinigung
Deutschlands außerhalb von Paris niemand mehr in Europa Frankreich
als den heimlichen Antreiber des neuen Europas. Andererseits wünscht
sich auch niemand, dass Deutschland zur führenden Nation in
Europa aufsteigt.
Trotzdem ist
Integration nicht nur ein langwieriger Prozess. Vielmehr erhöht
jeder erfolgreiche Schritt auch die Komplexität des Unterfangens.
Integration bedeutet im Grunde ein schrittweises und in hohem Maße
ausbalanciertes Fortschreiten auf dem Weg zu einer Vertiefung der
Interdependenz zwischen den konstitutiven Einheiten. Deren Interdependenzverdichtung
ist allerdings nicht mit einer einheitstiftenden politischen Leidenschaft
erfüllt, die der Anspruch auf eine eigene globale Unabhängigkeit
erfordert. Das könnte eventuell eintreten, wenn die Europäer
dazu übergingen, sich selbst in politischer Hinsicht als Europäer
zu sehen, während sie bezüglich ihrer linguistischen und
kulturellen Besonderheiten beispielsweise Deutsche oder Franzosen
blieben.
Horizontale
Expansion
Aufgrund der
zögerlichen Fortschritte Europas scheint unterdessen eine externe
Expansion zu einer partiellen Kompensation des schleppenden internen
Integrationstempos zu werden. Europa wird sich vergrößern,
allerdings eher horizontal denn vertikal, insofern beide Bewegungen
unter praktischen Gesichtspunkten nicht gleichzeitig bedeutende
Fortschritte machen können. Dieses schmerzvolle Faktum ist
ein heikler Punkt für die überzeugten Europäer. Als
Jacques Delors zu Anfang des Jahres 2000 ohne Umschweife einzugestehen
wagte, dass, "insofern das Tempo [der Erweiterung] zweifelsohne
erhöht wurde,
wir somit Gefahr laufen, den Grundriss"
der europäischen Integration zu "verwässern", mit dem
Ergebnis, dass "wir uns unweigerlich von einem politischen Europa,
so wie es von den europäischen Gründungsvätern definiert
worden war, entfernen", wurde er fast unmittelbar darauf von einem
Landsmann und EU-Kommissar, Michel Barnier, öffentlich zurecht
gewiesen.
Die Kommissare
in Brüssel hoffen darauf, dass die bürokratische Straffung
und institutionelle Erneuerung den Integrationsprozess stärken
werden. Beflügelt von dem bescheidenen Erfolg des Euro - trotz
einiger apokalyptischer Vorhersagen von Seiten vor allem amerikanischer
und britischer Kritiker - hat Brüssel im Vorgriff auf die umfassende
Vergrößerung mit der seit langem bestehenden Regierungskonferenz
zur europäischen Institutionenreform einen Schritt vorwärts
gemacht. Aber selbst die stärksten Befürworter der Erweiterung
geben zu, dass eine politisch signifikante Integration sich eine
Zeitlang bestenfalls auf den inneren Kern der EU wird beschränken
müssen, wodurch vermutlich ein Europa - wie es heißt
- "unterschiedlicher Geschwindigkeiten und variabler Geometrie"
begründet würde. Aber selbst wenn dies eintreten sollte,
ist es zweifelhaft, ob diese Formel den Grundkonflikt zwischen Integration
und Expansion lösen wird, insofern nämlich die Entwicklung
einer gemeinsamen Außenpolitik betroffen ist. Ein derart gestaltetes
Europa würde eine Zweiteilung in Mitglieder der ersten und
der zweiten Klasse bedeuten, wobei letztere gegen jede wichtige
außenpolitische Entscheidung Einspruch erheben würden,
die in ihrem Namen von einem Direktorium angeblich authentischerer
europäischer Staaten getroffen worden wären.
In jedem Fall
verspricht auch die Erweiterung zu einer zunehmend kraftaufwändigen
und komplizierten Aufgabe zu werden. Mit rund 200 Arbeitsgruppen,
die sich auf die langwierigen Verhandlungsprozesse bezüglich
der Beitrittsmodalitäten von rund einem Dutzend neuer Beitrittskandidaten
vorbereiten, wird die Vergrößerung vermutlich sowohl
aufgrund der ihr innewohnenden Komplexität als auch wegen des
fehlenden Willens der EU-Mitgliedstaaten an Tempo verlieren. Die
Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten bis zum Jahre 2004
wird nämlich immer problematischer. Auf längere Sicht
jedoch kann die Expansion nicht vermieden werden. Ein amputiertes
Europa kann kein wahres Europa sein. Eine geopolitische Leere zwischen
Europa und Russland wäre gefährlich. Abgesehen davon würde
ein alterndes Westeuropa wirtschaftlich und gesellschaftlich zu
stagnieren beginnen. Deswegen ist es nicht weiter verwunderlich,
dass einige führende europäische Planungsstäbe damit
begonnen haben, sich für ein Europa mit nahezu 25 oder gar
40 Mitglieder bis zum Jahre 2020 stark zu machen - ein Europa, das
geographisch und kulturell ein Ganzes bilden würde, das sich
politisch dann allerdings sicherlich aufgelöst hätte.
Eine Frage
der Muskelkraft
So wird also
voraussichtlich weder auf dem Wege der Integration noch durch die
Erweiterung das authentisch-europäische Europa entstehen, von
dem einige Europäer träumen und vor dem sich manche Amerikaner
fürchten. In der Tat fühlt eine wachsende Zahl von Europäern,
dass die Kombination zwischen Euro und Integration mit einer langsamen
Vergrößerung nur eine wirtschaftliche Souveränität
befördern kann. Das politische Bewusstsein, dass das nicht
alles sei, veranlasste die drei führenden europäischen
Staaten - Frankreich, Großbritannien und Deutschland - dazu,
im Jahre 1999 ihre Bemühungen zusammenzulegen, um glaubwürdige
europäische Militärkapazitäten ins Leben zu rufen,
und das noch bevor überhaupt ein integriertes Europa entstanden
wäre, das eine eigene Außenpolitik definiert hätte.
Die angestrebten europäischen Militärstreitkräfte
sollen dazu dienen, der GASP mehr Kraft zu verleihen, die von dem
neuen Amt des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik Anstöße erfahren soll.
Der Vorschlag
einer gemeinsamen schnellen Eingreiftruppe, die bis zum Jahre 2003
einsatzfähig sein soll, wird der erste spürbare Ausdruck
eines politischen Europas sein. Im Unterschied zu dem bereits bestehenden,
allerdings weitestgehend symbolischen "Eurocorps" - das sich aus
Franzosen, Deutschen, Spaniern und anderen Rekruten zusammensetzt
und das weder über Mobilität noch über Militärkapazitäten
verfügt - sollen die geplanten Streitkräfte im Einsatzfall
auf der Basis der im Vorfeld dazu eingerichteten Kampfeinheiten
zusammengerufen werden, ihre Zahl soll bei bis zu 60.000 und binnen
60 Tagen einsatzfähigen Soldaten liegen, und sie sollen sich
auf einem Kampfschauplatz "in oder in der Nähe Europas" zumindest
ein Jahr lang halten können. In der Tat würden zahlreichen
europäischen Schätzungen zufolge solche Streitkräfte
einem Truppenverband mit 150 bis 300 Kampfflugzeugen entsprechen,
15 Kampfschiffen, strategischen Transportkapazitäten und dem
erforderlichen C3I (command, control, communications and intelligence).
Die europäischen Militärexperten müssen eine beschleunigte
Prüfung des Bestands der verfügbaren europäischen
Kampfmittel durchführen, so dass die Streitkräfte zur
Friedenserhaltung oder sogar in - weiter nicht spezifizierten -
begrenzten Gefechtsoperationen eingesetzt werden können. Deren
Einrichtung würde die Geburtsstunde einer eigenen Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) bedeuten, die
außerhalb der NATO zu militärischem Handeln befähigen
würde.
Dennoch muss
die Europäische Verteidigungsinitiative - die auf das aufrichtige
Gefühl von Europas militärischen Unzulänglichkeiten
zurückgeht, die im Kosovo-Krieg zutage getreten waren, und
die von den französischen Ambitionen angespornt, aber von den
britischen und deutschen Neigungen, die Amerikaner zu beruhigen,
gedämpft wurde - erst noch drei grundlegende Prüfungen
bestehen: Wird sich die Eingreiftruppe als schnell einsatzbar, als
militärisch operationell und logistisch von Dauer erweisen?
Europa verfügt über die Mittel, solche Streitkräfte
zu begründen. Die Frage ist nur, ob sie dazu auch den Willen
hat.
Im Augenblick
ist noch Skepsis angebracht. Die Verantwortlichen der Verteidigungspolitik
in Europa haben die Ansicht vertreten, dass die Eingreiftruppe ohne
zusätzliche Ausgaben mittels einer gezielten Umverteilung der
bestehenden verteidigungspolitischen Haushaltsposten zusammengestellt
werden könne - eine Aussage, die dem gesunden Menschenverstand
widerspricht. Für ernst zu nehmende europäische Kommentatoren
ist es offensichtlich, dass die geplanten Einsatzkräfte Verbesserungen
in den Bereichen der zentralen Logistikkontrolle, der gemeinsamen
Militärdepots und vermutlich auch einige gemeinsame Manöver
voraussetzt. Dadurch würden allerdings zusätzliche Kosten
entstehen, ganz unabhängig von dem grundlegenderen Bedarf an
angemessenen Aufklärungs- und Spionagekapazitäten sowie
an einer kompetitiveren und besser konsolidierten europäischen
Verteidigungsindustrie. In den letzten Jahren ist demgegenüber
allerdings der Gesamtanteil der europäischen Verteidigungshaushalte
sowie der Entwicklungs- und Forschungsbudgets in diesem Bereich
in Wahrheit gesunken, wobei die europäischen Verteidigungsausgaben
seit 1992 in bereinigten Zahlen um rund 22% gefallen sind.
Kritisch daran
ist, dass die politische Sparsamkeit die militärische Ernsthaftigkeit
des Projekts unterläuft. Wie Daniel Vernet in Le Monde im September
1999 schrieb, müssten die Europäer, damit die europäische
Eingreiftruppe gebildet wird, "ganz genau wissen, was sie wollen,
(politisch sensible und finanziell aufwendige) verteidigungspolitische
Umstrukturierungsprogramme definieren und letztlich die haushaltspolitischen
Ressourcen zuweisen, um ihren Zielvorstellungen gerecht werden zu
können." Darüber hinaus muss ein Rotationspool rund 180.000
kampfbereite europäische Soldaten umfassen, um Streitkräfte
in Höhe von 60.000 Mann länger als ein Jahr auf dem Gefechtsfeld
zu belassen. Das ist nicht der Fall.
Eine zusätzliche
Komplikation, die noch mehr Zweifel an der Glaubwürdigkeit
des Projektvorschlags aufkommen lässt, besteht darin, dass
einige europäische Staaten Mitglieder der EU, nicht aber der
NATO (die "neutralen" Staaten) sind, andere hingegen Mitglieder
der NATO, nicht aber der EU (Amerikas "Trojanische Pferde", will
man einigen Förderern Europas Glauben schenken). Ihre künftige
Beziehung zu der ESVI ist deswegen auch unklar, und in jedem Fall
wird es die Lage unweigerlich verkomplizieren. Darüber hinaus
- vielleicht der wichtigste Punkt überhaupt - könnte das
Zusammenspiel der geplanten Eingreiftruppe mit den bestehenden NATO-Strukturen
in operationeller Hinsicht störend und in politischer Hinsicht
spaltend wirken.
In letzter
Konsequenz ist das wahrscheinlichste Ergebnis der ESVI, dass die
geplante Eingreiftruppe weder zu einem Konkurrenten der NATO noch
zu dem seit langem vermissten europäischen Pfeiler für
eine ausgewogenere Allianz führen wird. Auch wenn die Europäer
vermutlich ihre eigene militärische Planung und gemeinsamen
Kommandostrukturen - vor allem nach der anstehenden Übernahme
der Westeuropäischen Union durch die EU - ein wenig verstärken
werden, so ist doch ein stückweises Entstehen verbesserter
europäischer Kapazitäten in den nächsten fünf
Jahren wahrscheinlicher, um für friedensbewahrende Einsätze
außerhalb der NATO auf nicht allzu gewaltsamen Konfliktschauplätzen
in Europa (aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Balkan) zu sorgen.
Der sogenannte europäische Pfeiler wird nämlich weniger
aus Stahl und Beton bestehen denn aus Papiermaché. Folglich
ist Europa weit davon entfernt, zu einer kompletten Weltmacht zu
werden. So schmerzhaft es auch für diejenigen sein mag, die
gerne ein politisch starkes Europa sehen würden, es fehlt den
meisten Europäern doch auch weiterhin nicht nur an der Bereitschaft,
für die europäische Sicherheit zu sterben, sondern sogar,
für sie zu bezahlen.
US-Politiker
sollten bei ihrer Europa-Politik ein simples Gebot im Auge behalten:
Mache nicht das Ideal zum Feind des Guten! Aus Washingtons Sicht
bestünde das Ideal in einem politisch geeinten Europa, das
ein engagiertes Mitglied der NATO wäre, das also einen ebenso
hohen Verteidigungshaushalt hätte wie die Vereinigten Staaten,
das seine Mittel aber fast völlig in den Dienst der Verbesserung
der NATO-Kapazitäten stellen würde; in einem Europa, das
NATO-Interventionen "out of area" zustimmen würde, um Amerika
global zu entlasten, und das sich Amerikas geopolitischen Interessen
in angrenzenden Regionen, insbesondere Russland und dem Mittleren
Osten, verpflichtet fühlen und sich bei internationalen Handels-
und Finanzfragen als entgegenkommend erweisen würde.
Das Gute ist
ein Europa, das ökonomisch eine stärkere Konkurrenz darstellt,
das beständig die europäischen Interdependenzprozesse
ausweitet, dessen politisch-militärische Unabhängigkeit
jedoch mit dieser Entwicklung nicht Schritt hält, und das seine
eigenen Interessen darin erkennt, dass Amerika an der Peripherie
Eurasiens militärisch präsent ist, selbst wenn es sich
gleichzeitig über seine relative Abhängigkeit ärgert
und zögerlich eine allmähliche Emanzipation anstrebt.
US-Politiker
sollten erkennen, dass das Gute" im Grunde vitalen amerikanischen
Interessen dient. Sie sollten bedenken, dass Initiativen wie die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität ein
Ausdruck der europäischen Suche nach Selbstachtung sind, und
dass Ermahnungen - eine Litanei von Verboten, die sowohl aus dem
Außen- als auch aus dem Verteidigungsministerium kommen -
lediglich europäischen Unmut steigern und die Deutschen und
die Briten in die Arme der Franzosen treiben können. Außerdem
kann amerikanischer Widerstand gegenüber diesen Bemühungen
dazu führen, dass einige europäische Staaten zu der -
falschen - Überzeugung gelangen, dass die NATO wichtiger für
die US-amerikanische als für die europäische Sicherheit
ist. Und schließlich - ausgehend von den Realitäten europäischer
Politik - sind die Probleme, vor die die Europäische Sicherheits-
und Verteidigungsidentität die NATO steht, prozessualer und
nicht prinzipieller Natur. Und Probleme prozessualer Natur werden
sicherlich nicht dadurch leichter gelöst, indem man sie zu
Prinzipienfragen stilisiert.
Daher sind
dramatische Warnungen vor einer "Entkoppelung" kontraproduktiv.
Sie haben einen theologischen Beigeschmack und verwandeln Meinungsverschiedenheiten,
die ausgeglichen werden können, zu Divergenzen, die doktrinäre
Auseinandersetzungen zur Folge haben. Sie erinnern an frühere
Auseinandersetzungen innerhalb der NATO, die zu nichts Gutem führten
- sei es das erfolglose Projekt einer Multilateralen Nuklearstreitmacht
der frühen 60er Jahre, das nur das französische Nuklearprogramm
beschleunigte, oder sei es die jüngste, kurze Erschütterung
von 1999, als von Amerika betriebene Bemühungen, die NATO zu
einer Art globalem Bündnis (out of area") umzugestalten,
mit dem Ausbruch des Kosovo-Krieges ein schnelles Ende fanden. Solche
Streitigkeiten schmälern und beeinträchtigen eine grundlegende
Wirklichkeit: Die NATO mit seiner wahrhaft bemerkenswerten Erfolgsgeschichte
mag alles andere als perfekt sein, sie muss aber auch nicht in spektakulärer
Weise generalüberholt werden.
Wir sollten
hier innehalten und fragen: Selbst wenn es die neue Europäische
Streitmacht im Jahr 2003 geben sollte, wo und wie könnte sie
denn überhaupt eigenverantwortlich agieren? Unter welchen Bedingungen
könnte sie entschlossen handeln, ohne die vorherige Zusicherung
der NATO-Unterstützung und ohne eine faktische Abhängigkeit
von den NATO-Kapazitäten? Nehmen wir einen Konflikt in Estland
an, in dem der Kreml die russische Minderheit aufhetzt und dann
zu intervenieren droht; Europa würde keinen Finger rühren
ohne eine direkte NATO-Beteiligung. Nehmen wir an, Montenegro erklärt
seine Unabhängigkeit und Serbien marschiert ein; ohne US-Beteiligung
würde die geplante Euro-Streitmacht wahrscheinlich besiegt
werden. Auch wenn soziale Unruhen in manchen europäischen Provinzen
- zum Beispiel Transsylvanien oder sogar Korsika! - eventuell eher
mit einer Euro-Streitmacht befriedet werden können (ähnlich
wie in Bosnien), sind solche Interventionen doch kaum ein Beispiel
für ein Europa, das im Begriff ist, "ein unabhängiger
Akteur auf der internationalen Bühne" zu werden, um den französischen
Verteidigungsminister Alain Richard zu zitieren.
Bei einer wirklich
aufwendigen Mission würde die geplante Europäische Eingreiftruppe
sich stark auf die NATO-Kapazitäten in den Schlüsselbereichen
der Aufklärung, Spionage und Luftbrücken stützen
müssen. Diese Kapazitäten gehören vor allem den Amerikanern,
auch wenn sie der NATO zugeordnet sind. Deswegen wäre die NATO
de facto involviert, selbst wenn sie ursprünglich die Möglichkeit
einer ersten Ablehnung wahrgenommen hätte. Kurz: Wenn es zu
einer ernsten Krise kommt, wird die europäische Reaktion nicht
unabhängig ausfallen; wenn die Reaktion unabhängig erfolgt,
handelt es sich demnach nicht um eine ernste Krise.
Sicherlich
werden Anpassungsmaßnahmen innerhalb der NATO unvermeidlich
sein, wenn sich Europa nach und nach zu einem straffer definierten
Institutionengebilde entwickelt. Durch die ESVI werden die Entscheidungsfindungsprozesse
der NATO etwas schwerfälliger werden, und der europäische
Beitrag zur eigenen militärischen Stärkung der NATO könnte
sogar marginal davon in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn die
EU nach so etwas wie eigenen Truppenverbänden strebt. Die ESVI
wird - vor allem, wenn die Europäer innerhalb der EU eine Art
europäische Verteidigungsinstanz eingerichtet haben werden
- auch dazu führen, dass eine gemeinsame europäische Strategieperspektive
stimuliert wird, der Amerika wird Rechnung tragen müssen. Eine
gemeinsame europäische sicherheitspolitische Position wird
allerdings eher durch eine graduelle Konsolidierung der europäischen
Verteidigungsindustrie und durch eine intensivierte europäische
Militärplanung entstehen, als indem man sich vorschnell - vor
allem bis 2003 - auf eine autonome europäische Kampfkapazität
stürzt.
In Wirklichkeit
hat Europas Inaktivität nach dem Kosovo-Krieg größere
Konsequenzen auf die Zukunft der NATO als die fehlende Leistungsstärke
Europas, die sich während des Kosovo-Krieges gezeigt hat. Es
ist verwunderlich, dass "Europa" nicht nur unfähig ist, sich
selbst zu schützen, sondern auch für Ruhe und Ordnung
innerhalb seiner Grenzen zu sorgen. Die Unfähigkeit der europäischen
Staaten, bei konkreten friedensbewahrenden Einsätzen in einer
kleinen und schwachen Region ganz allein vorzugehen - und ihre Abneigung,
für die notwendige Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus
Sorge zu tragen - stellt den Zusammenhalt der NATO vor eine langfristig
ernsthaftere Herausforderung als die ESVI. Das könnte das amerikanische
Unbehagen nur noch vergrößern gegenüber der angemessenen
Rolle der US-Streitkräfte bei der europäischen Verteidigung.
In einer näheren
Zukunft könnten die Pläne der Vereinigten Staaten zur
Einrichtung eines Raketenabwehrsystems für ein noch umstritteneres
Streitthema (größerer strategischer Tragweite) sorgen.
Die in den Vereinigten Staaten anhaltende Debatte über die
Raketenabwehr ist hauptsächlich von innenpolitischen Erwägungen
geprägt, und eine unilaterale amerikanische Entscheidung würde
von Europa zweifellos negativ aufgenommen werden. In der Tat könnte
eine unilaterale Haltung Amerikas in dieser Frage schwerwiegendere
Konsequenzen haben als noch die größten amerikanischen
Vorbehalte angesichts der vermuteten "Abkoppelungseffekte" auf die
Sicherheit der Vereinigten Staaten und Europas. Wenn die transatlanischen
Sicherheitsbeziehungen auch weiterhin eine zentrale strategische
Priorität der Vereinigten Staaten darstellen sollen, so ist
es gegenwärtig fraglos besser, mit den Alliierten Amerikas
in einen umfassenden Dialog zu treten über die Machbarkeit,
die Kosten, die verteidigungspolitischen Austauschbeziehungen und
die sowohl politischen als auch strategischen Folgen einer Raketenabwehr.
In jedem Fall ist es selbst für eine vorsichtige Beurteilung
noch zu früh, wie dringend und wie praktikabel ein solches
Verteidigungsschild überhaupt sein kann.
Unterdessen
sollte eine strategische Hauptpriorität der Vereinigten Staaten
in der Weiterführung der NATO-Erweiterung liegen. Die NATO-Erweiterung
bietet die bestmögliche Garantie für die Fortsetzung der
transatlantischen Sicherheitsbeziehungen. Sie dient der Schaffung
eines sichereren Europas mit einer geringeren Zahl an geopolitisch
unsicheren Gebieten und erhöht damit auch die Bedeutung, die
Europa einer starken und glaubwürdigen Allianz beimessen wird.
Es scheint nämlich sinnvoll, für eine Revision der im
Jahre 1999 getroffenen Entscheidung der NATO einzutreten, sich mit
der Erweiterungsproblematik nicht vor 2002 auseinanderzusetzen,
und ernsthafte Bemühungen anzustrengen, um nach Amtsantritt
des neuen Präsidenten über die künftigen Mitglieder
noch im Jahre 2001 zu befinden. Mehrere Staaten scheinen beitrittsfähig
zu sein, weil sie nicht nur die Kriterien erfüllen, die vor
kurzem für Polen, die Tschechische Republik und Ungarn eingerichtet
wurden, sondern darüber hinaus sogar die vorangegangenen Kriterien
für Spanien. Eine vorgezogene Wiederaufnahme des Erweiterungsprozesses
würde ein klares Signal setzen, dass die transatlantische Sicherheitsbeziehungen
nicht nur weiterhin vital sind, sondern auch, dass Amerika und Europa
sich beide ernsthaft mit der Gestaltung eines sicheren Europas befassen,
das eine wirklich europäische Dimension besitzt.
Das amerikanische
Eintreten für eine Wiederaufnahme der NATO-Erweiterung geht
mit dem amerikanischen Interesse an einer Vergrößerung
der EU einher. Je größer Europa wird, desto unwahrscheinlicher
ist es, dass externe oder interne Bedrohungen eine ernsthafte Herausforderung
des internationalen Friedens darstellen werden. Mehr noch: Je mehr
sich langfristig die Mitgliedschaften zwischen der NATO und der
EU überschneiden, desto größer wird auch der Zusammenhalt
zwischen der transatlantischen Gemeinschaft sein und desto überzeugender
wird die Komplementarität zwischen der Sichtweise von Atlantikern
und europäischen Beförderern. Es ist ein glücklicher
Sachverhalt, dass einige der Kandidaten, die üblicherweise
für eine Mitgliedschaft entweder in der NATO oder in der EU
in Frage kommen, zufällig dieselben Länder sind. Die Vereinigten
Staaten können das überzeugende Argument vorbringen, dass
Slowenien, die Slowakei und Litauen die Kriterien für eine
NATO-Mitgliedschaft bereits erfüllen bzw. nahezu erfüllen.
Einer vergleichenden Studie von Pricewaterhouse-Coopers zufolge
sind einige mitteleuropäische Staaten (darunter Slowenien und
Estland) - in Hinsicht ihrer makroökonomischen Stabilität:
BIP, wirtschaftliche Verflechtungen mit der EU, ökonomische
Infrastruktur - für eine EU-Mitgliedschaft beitrittsfähiger
als es Griechenland war. Polen und die Tschechische Republik, die
beide bereits Mitglieder der NATO sind, lagen in einer Rangliste
von The Economist kürzlich vor Italien! Das verschlimmert nur
noch zusätzlich die Tatsache, dass "die gegenwärtigen
Zugangsbedingungen zahlreicher und strenger sind als die Aufnahmekriterien,
die von den südeuropäischen Staaten zu einem früheren
Beitrittsdatum erfüllt werden mussten".
Die Tatsache,
dass einige Länder den EU- und NATO-Betritt verdienten, sollte
eine stärkere Unterstützung beider Erweiterungen durch
die Vereinigten Staaten erleichtern und fördern. Deswegen wäre
eine Beratung zwischen NATO und EU auf hoher Ebene in Bezug auf
eine stufenweise, allmähliche und fortgesetzte Expansion durchaus
angezeigt. Gegenwärtig sind selbst Spekulationen darüber
verfrüht, wo eventuell die sich hoffentlich überschneidenden
Außengrenzen der beiden Organisationen verlaufen könnten.
Viel wird dabei von der Entwicklung Russlands abhängen, für
das die Tore zu einem atlantischen Europa offen bleiben sollten.
Eine erweiterte EU, die sich mit der NATO überschneidet, kann
Russlands positive Entwicklung begünstigen, weil dadurch alte
imperialistische Versuchungen gedämpft werden könnten.
Russland könnte sodann sein ureigenstes Interesse erkennen,
einzulenken und sich der NATO anzuschließen. Andernfalls würde
eine erweiterte NATO für die notwendige Sicherheit eines größeren
Europas sorgen. In jedem Fall jedoch wäre es unvorsichtig,
eine Mitgliedschaft betrittsfähiger Staaten in der NATO oder
der EU von vornherein auszuschließen.
Abgesehen davon
ist allerdings weder aus geopolitischer noch aus wirtschaftlicher
Sicht die Feststellung verfrüht, dass, wenn NATO und EU sich
erst einmal um die baltischen und einige der südosteuropäischen
Staaten erweitert haben werden, die darauf folgende Einbeziehung
nicht nur der Türkei, sondern auch Zyperns - im Anschluss an
eine türkisch-griechische Einigung - und Israels - im Anschluss
an einen vollständigen Frieden mit all seinen Nachbarstaaten
- zu einem wünschenswerten Ziel werden könnte. In dem
Maße, wie sich Europa vergrößert, wird die transatlantische
Gemeinschaft darüber hinaus irgendwann auf die Signale von
Ländern wie der Ukraine oder Georgiens reagieren müssen,
deren langfristiges Ziel die Erlangung der Beitrittsfähigkeit
zu dem großen historischen Projekt ist, das sich in der EU
unter dem Sicherheitsschutz der NATO vollzieht.
Durch eine
Förderung dieses gewaltigen Projektes sollten die Vereinigten
Staaten weiterhin die Bemühungen der EU nach vertiefter Integration
unterstützen, selbst wenn diese Unterstützung hauptsächlich
rhetorischer Natur ist. Die Vereinigten Staaten haben es klugerweise
vermieden, sich mit der konservativen Opposition in Großbritannien
gegen Europas politische und monetäre Einheit zu identifizieren,
und sie sollten ebenso der gelegentlich auftauchenden Versuchung
widerstehen, Schadenfreude zu zeigen, wenn Europa ins Straucheln
gerät. Gerade aus dem Grunde, weil die europäische Integration
langsam vorangehen und weil die politische Gestalt Europas nicht
Amerika gleichen wird, braucht Amerika keine Angst davor zu haben,
dass ihm ein Rivale erwächst. Die transatlantische Partnerschaft
ist eher so etwas wie eine Ehe, die gegenseitig respektierte Unterschiede
- inklusive einer gewissen Arbeitsteilung - und Gemeinsamkeiten
miteinander vereint. Beides dient faktisch einer Festigung der Partnerschaft.
Dies war im letzten halben Jahrhundert der Fall, und es wird auch
auf absehbare Zeit so bleiben.
Aufgrund der
Veränderlichkeit des internationalen Systems sollten die transatlantischen
Beziehungen eigentlich gestärkt werden. Europa und die Vereinigten
Staaten machen zusammen knapp 15 Prozent der Weltbevölkerung
aus und sind allseits sichtbare Inseln von Wohlstand und Privilegien
in einer brodelnden und ruhelosen globalen Welt. In einem Zeitalter
unmittelbarer Informationsübermittlung kann sich ein Bewusstsein
von Ungleichheiten schnell in politische Feindseligkeit gegenüber
denjenigen verwandeln, die beneidet werden. Eigeninteresse als auch
ein Sinn für die potenzielle Verwundbarkeit sollten daher weiterhin
das Fundament für eine dauerhafte Allianz zwischen den Vereinigten
Staaten und Europa liefern.
Das europäische
Institutionengefüge, am westlichen Rand von Eurasien und in
unmittelbarer Nähe zu Afrika gelegen, ist den Gefahren im Zusammenhang
mit zunehmenden globalen Unruhen stärker ausgesetzt als das
politisch geeintere, militärisch schlagkräftigere und
geographisch isoliertere Amerika. Die Europäer sind unmittelbarer
bedroht, wenn chauvinistischer Imperialismus wieder die Russische
Außenpolitik bestimmen sollte oder wenn Afrika und/oder Südzentral-Asien
schlimmere soziale Fehlschläge erleiden. Die Ausbreitung von
Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungs-waffen stellt ebenso
eher eine Gefahr für Europa dar, wenn man Europas begrenzte
Militärkapazitäten bedenkt und die Nähe der potenziell
bedrohlichen Staaten. So weit man sehen kann, wird Europa weiterhin
Amerika brauchen, um wahrhaft sicher zu sein.
Gleichzeitig
legitimiert eine enge Beziehung mit Europa Amerikas globale Rolle
und gibt ein klares Ziel. Sie schafft eine Gemeinschaft demokratischer
Staaten, ohne die die Vereinigten Staaten in der Welt alleine stünden.
Die Gemeinschaft zu erhalten, aufzuwerten und vor allem auch zu
erweitern - um die Segnungen der Freiheit für uns und
unsere Nachkommen zu sichern" - muss daher Amerikas historisch wichtige
Aufgabe bleiben.
Übersetzung
Forum (MT)
Veröffentlichungen
- "Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft"
- Fischer-TB.-Vlg., 1999.
- "The Grand Chessboard : American Primacy and Its Geostrategic
Imperatives" - HarperCollins, October 1998.
- "Le grand échiquier. L'Amérique et le reste du monde" -
Bayard (Document Temoignage), 1997.
- "The Geostrategic Triad : Living with China, Europe, and Russia"
- Center for Strategic & Int'l Studies, 2000.
- "Out of Control : Global Turmoil on the Eve of the Twenty-First
Century" - Collier Books, 1996.
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