Deutsch-Französisches
Forum: Welche Hauptunterschiede bestehen in der Wahrnehmung Deutschlands
und Frankreichs durch die Vereinigten Staaten?
André
Kaspi: Für die Vereinigten Staaten besteht der Hauptunterschied
darin, das Frankreich im Jahre 1945 zu den Siegermächten gehört,
während Deutschland besiegt ist. Deswegen hat Frankreich im
Bewusstsein der Amerikaner allerdings nicht unbedingt eine allzu
große Bedeutung, weil das Land in ihren Augen seit der Niederlage
1940 keine Großmacht mehr darstellt. Das trat umso deutlicher
zutage, als Frankreich im Februar 1945 nicht an der Konferenz von
Jalta teilgenommen hatte. Dass ihm schließlich doch noch ein
Ständiger Sitz in den Vereinten Nationen zuerkannt wurde, ist
denn auch weniger den Amerikanern als den Briten zu verdanken. Für
die Amerikaner ist Frankreich also gewissermaßen eine "halbe
Siegermacht", die unermüdlich Anspruch auf eine gleichberechtigte
Zugehörigkeit zu den Siegernationen erhebt. Was Deutschland
betrifft, ist jedoch jedes Missverständnis ausgeschlossen:
Das Land ist besiegt worden. Besiegt wurde allerdings vor allem
der Nationalsozialismus. Das deutsche Volk hingegen könne zum
Besseren beeinflusst und zur Demokratie geführt werden. Es
müsse zwar "entnazifiziert" werden, dabei habe man allerdings
den geschichtlichen Besonderheiten des Landes Rechnung zu tragen.
Folglich wurde also im Jahre 1945 auf der einen Seite der Standpunkt
vertreten, dass das vorrangige Ziel darin bestehe, Deutschland angesichts
seiner geographischen und historischen Bedeutung wieder auf die
Beine zu verhelfen. Demgegenüber sind andere der Ansicht, dass
Frankreichs Einfluss unter Berücksichtigung der eben gemachten
Ausführungen trotz allem bewahrt werden müsse.
Der einsetzende
Kalte Krieg hat die Ausgangslage ebenfalls verändert, da es
von 1947 an dringlich geboten war, Deutschland im Westbündnis
zu verankern, d.h. seine Wiedereingliederung in Angriff zu nehmen.
Folglich durfte man eventuellen Prostestausbrüchen Frankreichs
gegenüber Deutschland keine weitere Beachtung schenken. Das
ist beispielsweise auch der Grund dafür, dass die Amerikaner
zusammen mit den Engländern ihre Besatzungszonen zusammengeschlossen
haben, wohingegen die Franzosen bis zur Begründung der Bundesrepublik
an ihrer eigenen Besatzungszone festhalten. Auf amerikanischer Seite
hatte man demnach also immer das Gefühl, dass Deutschland eine
Sonderstellung zuzugestehen sei und dass man deswegen den Erpressungsversuchen
Frankreichs, das mehr fordert, als ihm zusteht, nicht nachgegeben
dürfe.
Forum: Inwiefern
hat das engere Zusammenrücken Deutschlands und Frankreichs
die Beziehungen beeinflusst, die die Franzosen bzw. die Deutschen
mit unserem amerikanischen Partner unterhielten?
A. Kaspi: Die
partnerschaftliche Bildung der deutsch-französischen Freundschaft
geht ja eigentlich auf die Präsidentschaft de Gaulles zurück
und sein Treffen mit Bundeskanzler Adenauer. Für Frankreich
unter de Gaulle gilt es zu verhindern, dass Deutschland voll und
ganz in das atlantische Lager hinüberwechselt, und darüber
hinaus soll das gemeinschaftliche Europa der damaligen Zeit seinen
eigentlich europäischen Charakter bewahren. De Gaulle zufolge
bildet die deutsch-französische Partnerschaft so etwas wie
eine freundschaftliche Opposition gegenüber der Vormachtstellung
der Vereinigten Staaten.
In den Augen
der Amerikaner ist der europäische Einigungsprozess zu diesem
Zeitpunkt vor dem Hintergrund des Kalten Krieges natürlich
eine unumstößliche Notwendigkeit: Europa müsse im
Falle einer Verbreitung des Kommunismus nach Westen zu der Bildung
eines Bollwerks imstande sein. Gerade die Bestimmtheit Frankreichs
aber, mit der es einen überzogenen Nationalismus zur Schau
stellt (z.B. indem ein Anspruch auf den Besitz der Atombombe erhoben
wird) ist in ihren Augen gefährlich. Die Amerikaner hätten
es allerdings gern gesehen, wenn sich Frankreich auf der Grundlage
gleichberechtigter Partnerschaft Europa wirklich angeschlossen hätte,
ohne eine Sonderstellung zu beanspruchen. Im Grunde stößt
man immer wieder auf dieselbe Logik: Für die Amerikaner ist
Frankreich keine wirkliche Großmacht mehr, während sich
Frankreich selbst, vor allem unter Charles de Gaulle, als eine Großmacht
betrachtet, die eventuell auch zusammen mit Deutschland eine Art
Gegengewicht bilden könne.
Forum: Frankreich
hat also die deutsch-französischen Beziehungen dazu benutzt,
um gegenüber den Vereinigten Staaten eine Sonderstellung einzufordern
A. Kaspi: Die
Vereinigten Staaten wollten unter Kennedy ein Bündnis bilden,
das einer zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Vorstellung gemäß
(die im übrigen auf Jean Monnet zurückgeht) auf zwei Pfeilern
ruhte: auf der einen Seite ein unabhängiges, geeintes Europa,
möglicherweise mit einem Präsidenten an seiner Spitze
und auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten, mit denen Europa
einen gleichberechtigten Dialog hätte führen können.
Frankreich wollte aber von einem solchen geeinten Europa nichts
wissen, wollte nicht in einem europäischen Ganzen aufgehen,
durch das die Franzosen ihre Stellung als unabhängige Nation
verloren hätten. So mussten die Amerikaner damals also feststellen,
dass auf Seiten Frankreichs der Wunsch bestand, an dem Binnenmarkt
teilzuhaben, gleichzeitig aber die Weigerung, sich in demselben
Maße daran zu beteiligen wie die anderen Nationen. Auch hier
zeigt sich wieder der Anspruch Frankreichs auf eine Sonderstellung.
Forum: Worin
bestehen ihres Erachtens die Hauptunterschiede zwischen der amerikanischen
und der europäischen, vor allem auch deutschen und französischen
Gesellschaft?
A. Kaspi: Lassen
Sie mich vorweg eine allgemeine Beobachtung formulieren: Die Formen
der Lebensführung und die allgemeinen Verhaltensformen in den
beiden Gesellschaften bewegen sich doch stark aufeinander zu. Aber
es bestehen natürlich sehr wohl Verschiedenheiten. Vor allem
ist da die Bedeutung einer unablässigen, zunehmenden Einwanderungsbewegung
in den Vereinigten Staaten zu nennen.
Forum:
wenn ich die Frage kurz ergänzen darf, da es sich gerade mit
ihrer Beobachtung deckt: Ist die Behauptung richtig, dass, wie eine
bekannte Äußerung lautet, die Amerikaner im Grunde immer
noch Europäer sind, die in Amerika leben?
A. Kaspi: Natürlich
waren die Amerikaner lange Zeit - und sind es größtenteils
immer noch - die Söhne und Töchter Europas, entweder weil
sie selbst Europa verlassen haben, um in die Vereinigten Staaten
überzusiedeln, oder weil sie die Nachkommen von europäischen
Immigranten sind. Heute jedoch stammen je zwei Fünftel der
eine Millionen Einwanderer, die dort Jahr für Jahr ankommen,
aus Lateinamerika bzw. Asien (sowohl aus Japan, Taiwan als auch
Hongkong und Indien), während ein Fünftel aus Europa,
Afrika und dem Mittleren Orient kommt. Daraus ergeben sich tiefgreifende
Veränderungen für die Vereinigten Staaten. In fünfzig
Jahren wird sich die Bevölkerungsmehrheit zweifellos aus Minderheiten
zusammensetzen, Amerikanern, die aus Asien, Lateinamerika oder Afrika
stammen, aber eben nicht aus Europa. Deswegen wird das Verhältnis
zu Europa höchstwahrscheinlich davon nicht unberührt bleiben
können. Es wird sich notgedrungen wandeln. In Anbetracht der
Tatsache, dass zahlreiche, vor allem kulturelle Austauschbeziehungen
bestehen und wir in einer Zeit leben, in der die Globalisierung
in allen Bereichen den Ton angibt, macht sich der amerikanische
Einfluss auf Europa natürlich sehr stark bemerkbar. Ich glaube,
dass er, anders als viele Franzosen denken, in Frankreich mindestens
genau so stark spürbar ist wie in Deutschland. Europa hat aber
auch auf der anderen Seite des Atlantiks Spuren hinterlassen, bei
den Essgewohnheiten, der Einstellung gegenüber Geld und - in
einem geringeren Maße - Erziehung. Deswegen kann man davon
ausgehen, dass die Wertvorstellungen der beiden Gesellschaften im
Wesentlichen miteinander übereinstimmen.
Forum: Werden
sich aus den demographischen Veränderungen Spannungen innerhalb
der amerikanischen Gesellschaft ergeben?
A. Kaspi: Spannungen
hat es - das sollte man nicht vergessen - schon immer gegeben. Bis
vor wenigen Jahren waren besonders heftige Rassenauseinandersetzungen
an der Tagesordnung, die in der Zwischenzeit nachgelassen haben.
Auch zwischen den ethnischen Gemeinschaften gibt es und wird es
auch in Zukunft noch Spannungen geben, insofern die Integration
in die amerikanische Gesellschaft nämlich nicht individuell
erfolgt, sondern über die Gemeinschaften. Das bedeutet zum
Beispiel, dass sich bei den Ausschreitungen in Los Angeles im Jahre
1992 die Schwarzen nicht gegen die Weißen erhoben haben -
aus dem einfachen Grunde, weil es im Zentrum von Los Angeles keine
Weißen gibt. Sie waren vielmehr auf die Asiaten losgegangen.
Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften sind spannungsgeladen.
Die Frage ist allerdings nur, ob diese Spannungen letztlich abebben
werden. Auch wenn ich mir dessen nicht ganz sicher bin, will mir
scheinen, dass die Gesellschaft der Vereinigten Staaten das Potenzial
zur Befriedung dieser Spannungen in sich birgt, weil sie bisher
immer noch den richtigen Weg zu ihrer Überwindung gefunden
hat. Jedenfalls ist sie niemals aus den Fugen geraten.
Natürlich
ist es aber vorstellbar, dass sich infolge der Veränderungsprozesse,
denen die Bevölkerung unterliegt, diese Spannungen deutlich
verschärfen könnten. Allerdings ist, wie Sie wissen, niemand
dazu gezwungen, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen:
Die Menschen kommen aus eigenem Antrieb, und wenn es keine Einwanderungsbegrenzungen
gäbe, die mehr oder weniger befolgt würden, gäbe
es noch mehr Interessenten, die um Einlass bitten würden. Aus
Lateinamerika und Asien käme dann nämlich ein riesiger
Zustrom auf das Land zu. Wenn man den Bewohnern der Volksrepublik
China die freie Wahl ließe, würden, denke ich, viele
ihre Koffer packen. Das zeigt, dass es sich um eine Nation handelt,
die sich aus (Frei)Willigen zusammensetzt, und dieser Aspekt gibt
Anlass zu Optimismus, denn diese Menschen zusammen genommen wollen
hier leben und Einlass in das, was sie als ein Schlaraffenland betrachten,
erhalten. Folglich dürften sie ihre Schwierigkeiten überwinden
können, anstatt ihnen zum Opfer zu fallen.
Forum: Die
Definition des Nationenbegriffs ist in den Vereinigten Staaten und
in Europa, speziell in Frankreich, nicht dieselbe. Sie haben die
amerikanische Gesellschaft als eine Art Mosaik aus Gemeinschaften
beschrieben. In Frankreich ist das ganz und gar nicht unsere Vorstellung
von Nation. Worin sind Ihrer Meinung nach die hauptsächlichen
Unterschiede dieser beiden Konzeptionen, dieser beiden Beziehungen
dem Staat gegenüber zu sehen?
A. Kaspi: Genau
auf diesem Gebiet lässt sich - Fortschritt wäre das falsche
Wort
- eine fortschreitende Annäherung verzeichnen.
Bis vor wenigen Jahren war die französische Gesellschaft nach
einem einzigen, republikanischen Modell organisiert. War man ausländischer
Herkunft, verfolgte man das Ziel, sich zu integrieren, d.h. alle
Werte der französischen Gesellschaft zu übernehmen und
seine Herkunftsgesellschaft zu vergessen. Das gilt heute nicht mehr
- ob zu Recht oder zu Unrecht will ich gar nicht beurteilen -, weil
eine multikulturelle Gesellschaft auf größere Akzeptanz
stößt. Auch wenn die Gesellschaft noch nicht vollständig
multikulturell ist, ist die Tendenz doch eindeutig. So ähnelt
ihre Gesamtkonzeption also zunehmend einer "typisch amerikanischen"
Gesellschaftskonzeption. Das bedeutet demnach also, dass die französische
Gesellschaft nach und nach einen Teil seiner Charakteristika ablegt
und dass sie auf ganz eigene Art amerikanischer wird.
Forum: Demnach
wäre Frankreich also ein Land, in dem die Amerikanisierung
und die amerikanische Allmacht angeprangert werden, das sich aber
nichtsdestotrotz dem amerikanischen Modell annähert
A. Kaspi: So
ist es. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Vereinigten
Staaten als Punchingball dienen. Wir glauben, dass die wirkliche
Gefahr von Amerika ausgeht: das Einheitsessen, die wissenschaftlichen
Fehlentwicklungen im Bereich der genetisch veränderten Organismen
und des mit Hormonen versetzten Rindfleisches oder auch die Bedrohung
unserer Sprache und unseres Gesellschaftsmodells. Wenn man dann
aber die Lebensweise der Franzosen näher betrachtet, dann stellt
man fest, dass sie selbst dieser Amerikanisierung Vorschub leisten
und sie beschleunigen. Diese Entwicklung wird von den Vereinigten
Staaten nämlich gar nicht gefördert, weil sie es gar nicht
auf eine "Amerikanisierung" der französischen Gesellschaft
anlegen. Was sie eventuell anstreben - jedenfalls die Industrie-,
Handels- und Bankunternehmen -, sind Marktanteile und Auslandsinvestitionen
egal in welchem Land, ob nun in Deutschland, Frankreich, Indien
oder Korea.
Forum: Welches
sind die Grundcharakteristika des amerikanischen politischen Systems,
die verborgenen Besonderheiten dieser Nation entsprechen?
A. Kaspi: Die
Vereinigten Staaten sind von den einzelnen Staaten ins Leben gerufen
worden. Die Machtübertragung an die Staaten ging gerade nicht
von dem Zentralstaat aus, sondern umgekehrt von den Staaten, die
während des Einigungsprozesses auf einige ihrer Kompetenzen
zugunsten der Zentralregierung verzichtet haben. Die Bezeichnung
selbst "Vereinigte Staaten" macht deutlich, dass dieses Land eigentlich
namenlos ist!
Der Entstehungsprozess
der Vereinigten Staaten folgt also der genau gegenteiligen Entwicklung
des französischen Dezentralisierungssystems. Das amerikanische
System gründet auf einem Bundessystem und insbesondere auf
der Praxis demokratischer Verfahren: Wahlen, Gewaltenkontrolle und
-teilung, individuelle und öffentliche Freiheitsrechte. In
dieser Hinsicht verkörpern die Vereinigten Staaten die Demokratie
mit all ihren Vorzügen und all ihren Fehlentwicklungen, von
denen mir gegenwärtig zwei besonders folgenschwer erscheinen:
zum einen der Einfluss der Medien, die eine grundlegende Rolle spielen
- sie leisten natürlich einen Informationsbeitrag, darüber
hinaus entstellen und desinformieren sie aber auch, selbst wenn
auf sie nicht verzichtet werden kann - und zum anderen die Bedeutung
des Geldes. So widersprüchlich es nämlich auch klingen
mag, je demokratischer ein System wird, desto wichtiger wird die
Bedeutung des Geldes. In Kalifornien gibt es beispielsweise ein
Verfahren, das es einer bestimmten Anzahl von Bürgern ermöglicht,
ein Referendum zu fordern. Man muss mehrere Tausend Unterschriften
sammeln, damit ein Referendum organisiert wird. Wenn dem Antrag
auf Volksbefragung stattgegeben wird, muss sie der Staat Kalifornien
umsetzen. Zur Sammlung dieser Unterschriften braucht man aufgrund
einer aufwändigen und effizienten Werbekampagne aber viel Geld.
Im Grunde hat man es hier also mit einem demokratischen Verfahren
zu tun, das durch die Einmischung des Geldes zweckentfremdet wird.
Ähnliches gilt für die Wahlkampagnen der letzten Zeit
in den Vereinigten Staaten, bei denen eine ganze Reihe von Ansätzen
dazu dienen sollten, die Demokratie zu fördern, indem man die
Wahlkampfperioden verlängerte und indem alle Formen der Bürgerbeteiligung
bei der Kandidatenbestimmung gestärkt wurden. Faktisch wurde
dadurch der Einfluss des Geldes nur noch erhöht. Folglich lässt
sich daraus der Schluss ziehen, dass die Hauptmerkmale des amerikanischen
Systems im allgemeinen lobenswert sind, dass man sie allerdings
auch aufmerksam verfolgen sollte.
Forum: Können
die Vereinigten Staaten immer noch der Vorreiter der Freiheit und
der Demokratie sein, wie sie es während des Kalten Krieges
waren? Welchen Bedeutung hat Ihrer Meinung nach der Ausdruck "amerikanischer
Traum" heute noch?
A. Kaspi: Der
amerikanische Traum beinhaltet vor allem die Vorstellung, dass man
in einem Land lebt, in dem Milch und Honig fließen und in
dem alles möglich ist: Sie waren arm, sparen, haben eine Arbeit,
besuchen die Schule, später dann die Universität, erreichen
so einen größeren Wohlstand und vielleicht werden Sie
eines Tages Millionär. Der amerikanische Traum besteht darin,
dass alle Männer der Onkel, alle Frauen die Tante aus Amerika
werden. Der amerikanische Traum besteht darin, reich zu werden in
einem Umfeld der Freiheit und des Unternehmergeistes, wie man es
in seinem Heimatland nicht gekannt hatte.
Vielleicht
verkörpern die Vereinigten Staaten nicht überall den Traum
von Freiheit und der Verteidigung der demokratischen Werte, die
sie während des Kalten Krieges symbolisiert haben. Schließlich
betrachtete in diesem Zeitraum fast die Hälfte der Weltbevölkerung
das amerikanische Volk als einen Feind. Das Bild verkörperten
sie also nur für die andere Hälfte der Menschheit.
Nach dem Ende
des Kalten Krieges hat der Traum auch einen Teil derjenigen in seinen
Bann geschlagen, die vorher nicht daran glaubten. Zur Stunde träumt
man in Mitteleuropa, in Russland und sogar in China von all dem,
was die Vereinigten Staaten erreicht haben. Der amerikanische Traum
hat sich durchgesetzt. Deswegen verkörpern größtenteils
die Vereinigten Staaten diesen Traum und nicht andere Nationen,
sonst würde man ja gar nicht den Ausdruck "amerikanischer Traum"
gebrauchen.
Allerdings
darf dabei nicht übersehen werden, dass die Vereinigten Staaten
der Verteidigung ihrer eigenen Interessen durchaus Vorrang einräumen.
Wenn diese mit dem Eintritt für die Freiheitsrechte übereinstimmen,
bedeutet das, dass die Außenpolitik der Vereinigten Staaten
mit dem Wunsch der meisten Männer und Frauen weltweit im Einklang
ist. Wenn die nationalen Interessen jedoch ausschließlich
die Vereinigten Staaten betreffen, haben viele Männer und Frauen
naturgemäß den Eindruck, wie eine vernachlässigbare
Minderheit behandelt zu werden, und bringen ihren Protest zum Ausdruck.
Angesichts des Phänomens der wirtschaftlichen Globalisierung
zum Beispiel hat man vielerorts das Gefühl, dass die amerikanischen
Unternehmen dominieren, dass die amerikanische Währung den
Ton angibt, dass der Dow-Jones-Index über den Wert der höchst
notierten französischen Aktien entscheidet und dass wir alles
in allem den Regeln und dem Auf und Ab der amerikanischen Wirtschaft
unterworfen sind. Ich finde, dass man dabei nicht vergessen sollte,
dass auch von Europa Globalisierungsphänomene ausgehen. Auch
deutsche und französische Firmen schlucken nämlich amerikanische
Gesellschaften, wie z.B. Daimler oder Vivendi. Es muss auch betont
werden, dass ein Teil der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten
gegen die Globalisierung protestiert, weil dadurch ihrer Ansicht
nach Arbeitsplätze ins Ausland verlegt werden und damit die
ausländische Konkurrenz verschärft wird. Die Situation
ist also nicht so einfach, wie man vielleicht denken könnte.
Trotzdem zeigt sich dadurch, dass die Vereinigten Staaten nicht
immer die Freiheit der Welt verkörpern können.
Somit kann
es also - meistens verhält es sich tatsächlich so - zu
einer Überlappung von amerikanischen Interessen und der Verteidigung
der Freiheit kommen. Es ist allerdings ebenfalls möglich, dass
diese Konvergenz fehlt In diesem Zusammenhang lässt sich das
Beispiel der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten mit vielen
der lateinamerikanischen Länder anführen, die lange Zeit
und auch heute noch auf der Realpolitik basieren, nicht aber auf
der Verteidigung der Freiheitsrechte.
Forum: Besteht
Ihrer Meinung nach Aussicht darauf, dass der europäische Einigungsprozess
letztlich zu einer Art "Vereinigte Staaten von Europa" im Sinne
der Vereinigten Staaten von Amerika führen wird?
A. Kaspi: Ich
habe eine Zeit lang im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit in den
Arbeitszimmern Jean Monnets gearbeitet und hatte deswegen auch Zugang
zu seinen Archiven. Ich bewegte mich fast ausschließlich in
dem Umfeld, in dem man vor allem über die Vereinigten Staaten
von Europa sprach. Es war ja im übrigen auch eine der Hauptideen,
für die Jean Monnet bis zu seinem Tod im Jahre 1979 eingetreten
war. Ich für meinen Teil war anfangs der Überzeugung,
man müsse sich auf eine Stärkung Europas zubewegen. Heute
bin ich es weniger, wenn ich sehe, wie sehr Europa sich oftmals
mit den Details der jeweiligen Alltagssituation in den Ländern
beschäftigt und allzu wenig mit den umfassenden Interessen
aller Nationen zusammengenommen.
Was mich ebenfalls
beunruhigt, ist der Gedanke an die Folgen einer künftigen Erweiterung
Europas. Von dem Augenblick an, wo man sich mit der Aussicht auf
ein auf 27, 30 oder gar noch mehr Mitgliedstaaten erweitertes Europa
auseinander setzen muss, zweifle ich an der Zukunftsfähigkeit
der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Das sowohl politisch
als auch wirtschaftlich und gesellschaftlich aus ungleichen Ländern
verfasste Europa hat gemeinsame Projekte nicht wirklich definiert.
Das ist in meinen Augen der grundlegende Schwachpunkt, an dem man
wird arbeiten müssen, bevor die Erweiterung vollzogen wird
oder bevor man sich überhaupt mit europarelevanten Themen befasst.
Eine der Erweiterung vorangehende Vertiefung erscheint mir zumindest
Vorrang zu haben. Wenn man nämlich nach einer Stärkung
Europas strebt, ohne sich um eine notwendige Vertiefung zu bemühen,
ist es sonst höchst wahrscheinlich, dass unter dem Strich eine
Schwächung Europas dabei herauskommt.
Übersetzung
Forum (MT)
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