Als vor zehn
Jahren der Eiserne Vorhang fiel und den Kommunismus mit sich riss,
ahnten nur wenige die ganze Tragweite der Folgen, die sich daraus
ergeben sollten, und der Herausforderungen, vor denen die Menschheit
stehen würde.
Betrachten wir einige dieser Fragestellungen genauer:
Als unser Kontinent zweigeteilt war und der grössere Teil sich unter
sowjetischer Herrschaft befand, stand die Bestimmung Westeuropas
fest:
- Verteidigung der demokratischen Werte mittels einer besseren zwischenstaatlichen
Kooperation, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, durch ein Unterbinden
von jedweden Konflikten zwischen diesen Staaten, aber auch durch
die Vereinigung ihrer Kräfte für das Wohl aller;
- der klare Beweis der Überlegenheit des auf der Freiheit des Menschen
und dem Unternehmergeist beruhenden Wirtschaftssystems durch dessen
wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit.
Diese gemeinsamen Zielsetzungen haben die westeuropäischen Staaten
zu einer immer enger werdenden Annäherung veranlasst, die schliesslich
in einer wirtschaftlichen und politischen Integration mündete. Die
Nähe zu einem totalitären Reich verlieh ihren Integrationsbemühungen
einen Sinn und war ihnen in vielerlei Hinsicht Anreiz. Dadurch,
dass das Sowjetreich einen bedrohlichen Schatten auf Westeuropa
warf, lieferte es einen Grund für diesen Annäherungsprozess. Und
dieses Bewusstsein sollte erst den natürlichen Antrieb zur Einigung
bilden.
Anders ausgedrückt: angesichts der kommunistischen Gefahr wusste
das demokratische Europa sehr genau, was seine Einheit garantierte
und warum es solidarisch zu sein galt.
Nun ist diese Bedrohung allerdings mit dem Ende des Kalten Krieges
verschwunden; die Welt hat sich verändert, ist viel komplizierter
geworden. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass sich das geeinte
Europa früher oder später unter dem Druck der neuen Situation über
seine Existenz, seine Möglichkeiten, seine Perspektiven und seine
Bedeutung Klarheit verschaffen muss. Das bedeutet: seine Identität
und künftige Bestimmung überdenken. Europa als einen geeinten Wirtschaftsraum
zu begreifen, um der Konkurrenz aus Amerika oder Asien besser standhalten
zu können, ist heute nicht mehr aktuell. Dieses Argument reicht
nicht länger aus.
Sicherlich ist es richtig, dass der europäische Einigungsprozess
in den 90er Jahren, kurz nach dem Fall des Kommunismus, eine beträchtliche
Weiterentwicklung erfahren hat. Aus den Europäischen Gemeinschaften
ist eine Europäische Union geworden, die sich um einiges vergrössert
hat und die nunmehr gar unter einem einheitlichen Währungssystem
zu leben beginnt. Das sind gewiss beachtliche Ergebnisse! Dennoch
kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Fortschritte
lediglich das Resultat eines Prozesses einer anderen Zeit, eines
anderen Zusammenhangs sind und dass sich dieser Prozess tragen lässt
ohne eigentlich neuen Impuls, ohne wirkliches Verständnis für das,
was ihn eigentlich ausmacht. Es sieht fast so aus, als habe das
sich bildende Europa die grundlegend neuen Zusammenhänge, in denen
es sich heute bewegt, nicht hinreichend berücksichtigt, um zu versuchen,
sein Wesen zu überdenken oder besser zu prüfen. So denkt man wohl
hier und da - und ich fürchte, dass dieser Eindruck noch Verbreitung
finden wird -, dass die europäische Einigung lediglich eine Sache
verwaltungstechnischer bzw. bürokratischer Abstimmung, dass sie
nurmehr einem immer kleineren Kreis von Eingeweihten verständlich
sei. Demzufolge läge dann also der alleinige Grund für die Zustimmung
zu bzw. die Abwendung von Europa in den konkreten wirtschaftlichen
Auswirkungen, die sich bei einer Gruppe von produzierenden, steuerzahlenden
oder konsumierenden Bürgern spürbar machen.
Der grosse Fortschritt, der von Europa in den letzten Jahren erzielt
wurde, bedeutet jedoch nicht, dass man sich nicht mehr um sein Wesen
kümmern sollte. Ja, ich würde geradezu das Gegenteil behaupten:
je weiter der Prozess fortgeschritten ist, desto dringender wird
diese Fragestellung.
Trotz seiner Vielfältigkeit und trotz seiner Teilungen bildete Europa
stets und bildet noch immer eine einzige politische Einheit. Die
politische Geschichte dieser Einheit ist also vor allem die Geschichte
der vielen Versuche einer inneren Strukturierung. Wir wissen, wie
viele Reiche sich in Europa gebildet haben und wie schwierig es
ist, die Allianzen zu verstehen, die sowohl innerhalb dieser Reiche
als auch zwischen ihnen geschmiedet wurden. Diese bald aufgeklärte,
bald gewaltsame, in stetem Wandel begriffene europäische Ordnung
hatte als Grundlage immer das Prinzip der Macht, sei es, dass die
Stärkeren mit Waffengewalt den Sieg davon getragen hatten und den
Unterlegenen ihre Bedingungen aufzwangen, sei es, dass sie in den
Allianzen Kräfte sparten, in denen die Wünsche der Schwächeren selten
Berücksichtigung fanden. Das geschah nämlich nur, wenn letztere
beträchtlichen Widerstand leisteten.
Nach dem Aufbrechen des Eisernen Vorhangs, der letzten Folge einer
gewaltsamen Errichtung einer europäischen Ordnung, bietet sich Europa
nunmehr eine Gelegenheit, die sich ihm im Laufe seiner Geschichte
noch nie geboten hatte, die Gelegenheit nämlich, endlich eine wahrhaft
gerechte Ordnung zu begründen, die nicht auf Gewalt, sondern auf
Gerechtigkeit gründet und die so den Willen aller Nationen widerspiegelt,
aller Gemeinschaften und aller in Europa lebender Individuen.
Darin besteht die erste, grundsätzliche, ja banale Feststellung,
die wir im Hinblick auf das sich einigende Europa treffen können.
Und trotzdem gibt es nur wenige Bürger, die sich dessen bewusst
sind! Und leider allzu wenig Politiker!
Wir stehen an einer der wichtigsten Wegkreuzungen der europäischen
Geschichte. Der Weg, den wir schliesslich einschlagen werden, wird
vielleicht über das Schicksal zahlreicher künftiger Generationen
entscheiden. Mir scheint es, dass man sich dessen bei jeder politischen
Entscheidung bewusst sein sollte. Dieses Bewusstsein muss systematisch
in das öffentliche Leben eindringen. Im Augenblick verfügen wir
noch nicht über das Recht, ein (wahl)politisch, wirtschaftlich oder
durch die Staatsräson motiviertes Sonderinteresse einem grundsätzlichen
Interesse der kommenden europäischen Generationen unterzuordnen.
Ob die Veränderungen in Europa von Dauer sind, wird zu weiten Teilen
von seiner inneren Offenheit abhängen, d.h. inwiefern diese Offenheit
den einen gestattet, ihrer Eigenart Geltung zu verschaffen, ohne
dabei die Freiheit der anderen einzuschränken.
Darüber hinaus wird Europa aus der Gelegenheit, die ihm da geboten
wird, nur dann Nutzen ziehen können, wenn es für alle offen bleibt.
Die Aufnahme eines Beitrittskandidaten darf, sobald er die geforderten
Bedingungen, d.h. die Achtung der diversen Gemeinschaftsnormen,
erfüllt, durch nichts hinausgezögert werden. Sollte man zweierlei
Mass anlegen, d.h. eine Politik misstrauischer Zurückhaltung gegenüber
den neuen Demokratien verfolgen, aus Angst, sie könnten ein allzu
grosses Stück des Kuchens ergattern, oder auch aus Furcht vor dem
Neuen, dann wird sich Europa erneut spalten. Diese neuerliche Spaltung
würde viel ernsthaftere Beunruhigung auslösen als das Neuartige
der postkommunistischen Demokratien. Im übrigen sollten sich die
westeuropäischen Staaten, denen dies entgangen ist, zwei Dinge ins
Gedächtnis rufen: zum einen die historische Mitverantwortung des
Westens gegenüber einer Hälfte Europas, die ihm allzu lange entrissen
war; zum anderen wiegen die grosse Hoffnung auf dauerhaften Frieden
und Sicherheit sowie die Bedeutung der materiellen Wirtschaftssituation,
die daraus entsteht, fraglos eventuelle und im übrigen vorübergehende
Opfer auf.
Eine Europäische Union, die diesen Namen verdient, muss sich dagegen
auflehnen, allmählich ins Abseits bzw. in ein neuerliches europäischen
Unglück zu geraten. Im Gegenteil: sie muss die einzige vernünftige
Gelegenheit ergreifen, die sich ihr bietet, sie muss zu einer wahrhaft
europäischen, d.h. paneuropäischen Vereinigung werden.
Das ist eine Richtung, die es, glaube ich, verdient, eingeschlagen
zu werden. Ich glaube ebenfalls, dass die Bürger und die derzeitigen
europäischen Politiker begreifen sollten, dass es voraussichtlich
Schwierigkeiten im Alltag geben wird, die wir im Interesse der Zukunft
hinnehmen müssen. Wer die überzeitliche Dimension der europäischen
Einigung nicht verstanden hat, hat das Wesentliche des Europagedankens
nicht verstanden.
Dies führt nun zum Kernproblem der Überlegung, nämlich zu der Frage
nach der Identität bzw. nach dem Wesen Europas.
Wie definiert sich Europa?
Für die Zukunft ist es notwendig, die Rolle zu bestimmen, welche
die europäische Kultur, Gedankenwelt und Zivilisation spielen wird.
Europa ist ein Raum, in dem verschiedene Quellen, vor allem der
Antike, des Judentums und der christlichen Welt in einer einzigen
historischen Bewegung in bewundernswerter Weise zusammenfliessen.
Verglichen mit anderen Kulturen ausserhalb Europas, unterscheidet
sich diese Bewegung durch zahlreiche besondere Merkmale. Das spezifischste
dieser Merkmale besteht in einer neuartigen oder besser in einer
anderen Zeitvorstellung, so als wolle die europäische Tradition
die Zeit - zuerst in Gestalt der Heilsgeschichte, sodann in Form
des Fortschrittsgedankens - vor allem auch als Möglichkeit der Bewegung
begreifen, als Aufforderung zum Fortschreiten vom Alten zum Neuen,
vom Schlechteren zum Besseren. Der Mensch, der sich solcherart mit
der europäischen Zeit konfrontiert sieht, kann sich sicher sein,
die Welt in ihrer ganzen Dimension besser zu verstehen. Er empfindet
die Verpflichtung, sie im Rahmen seiner Kenntnisse unablässig zu
vervollkommnen, für die Verbreitung seines Wissens und Handelns
zugunsten eines besseren Lebens Sorge zu tragen. Bewegung, Entwicklung,
Fortschritt, Veränderung: das sind seine Elemente. Er begreift sein
Wissen als universell. Da er aber auch eine universelle Verantwortung
verspürt, glaubt er sich dazu berechtigt, seine Ideen und seinen
Fortschritt auf der ganzen Welt zu verbreiten, so als wäre dem Wesen
der europäischen Kultur selbst bzw. der Natur der Beziehungen Europas
zur Welt die Grundbedingung zu einer Ausdehnung eingegeben. Das
ist alles in allem nachvollziehbar. Die Entwicklung strebt nach
einer Vorrangstellung der Technik, die selbst wiederum eingesetzt
werden will - ob nun als Mittel zur Eroberung oder als Mittel zur
Verteidigung, wird dabei zu einer nebensächlichen Frage. Das Konzept
der Bewegung verwandelt sich in eine physische Bewegung durch den
Raum. Hinter dem europäischen Geist verbirgt sich also eine fatale
Ambivalenz: einerseits das phantastische Erblühen des rationalen
Wissens und infolgedessen die wachsende Achtung vor der menschlichen
Person und ihren Rechten, andererseits aber ein tief innewohnender
Expansionismus. Das für Europa typische Gefühl, für die Weltgeschicke
verantwortlich zu sein, trägt demnach - paradoxer-, aber auch logischerweise
- Züge anmassender Allwissenheit, die sich als unfähig erweist,
die Welt der Anderen auch nur in ihren gröbsten Zügen zu begreifen.
Heute wird unser Planet von einer einzigen technizistischen Zivilisation
bevölkert, deren kulturelle und ideologische Wurzeln nun allerdings
nach Europa zurückführen. All ihre Wunder, all ihre erschreckenden
Widersprüche können als das Ergebnis oder die Konsequenz der ursprünglichen
moralischen Grundsteinlegung Europas erklärt werden. Und wenn die
anderen Traditionskulturen ihre Stimme erheben und immer lauter
ihre Anerkennung fordern, so ist das nur eine natürliche Reaktion
auf das grosse Gleichheitswerk, das von unserem Kontinent ausgehend
die gesamte Welt unterworfen hat.
Daraus ergibt sich für mich die folgende Einsicht, dass, wenn sich
Europa vor noch nicht allzu langer Zeit damit zufrieden gab, sich
gegenüber dem Kommunismus als Raum der Freiheit, des Schutzes der
Menschenrechte und der Garantie einer sich entfaltenden Zivilisation
zu definieren, es heute hingegen feststeht, dass es sich dabei lediglich
um einen Vorwand handelte, der das Wesentliche, den hauptsächlichen
Bezugspunkt und die wirkliche Substanz Europas doch nicht zu verbergen
vermochte: d.h. die moderne, weltweite Zivilisation als Ganzes.
Europa war dabei, als diese Zivilisation entstand, über Jahrhunderte
hinweg bildete es deren Antriebskraft bis zu dem Zeitpunkt, als
diese Zivilisation Übergewicht erlangte und sich chaotisch weiterentwickelte.
Ich denke nicht, dass Europa, so wie es sich gerade bildet, seine
Substanz anders suchen und wiederfinden kann als durch ein Überdenken
seines Verhaltens, d.h. dadurch, dass es die Zügel dieser Zivilisation,
deren Niedergang es jahrhundertelang beschleunigt hat, wieder in
die Hand nimmt.
Es lässt sich leicht sagen, worin dieses neue Verhalten bestehen
soll. Ausgesprochen schwierig ist es hingegen, es wirklich zu verfolgen.
Ich möchte gleichwohl darauf zu sprechen kommen.
Mit seiner schweren Last der Vergangenheit aus Ruhm und Leid scheint
es mir, als stünde es Europa zuallererst zu, der heutigen Welt vor
Augen zu führen, wie man allen Gefahren, allen Bedrohungen und Schrecknissen
begegnen muss, die ihr noch bevorstehen. Wer ausser der Wiege der
Zivilisation eignete sich besser dazu, ihr zu zeigen, wie sich ihre
ambivalente Entwicklung umkehren lässt? Wäre eine solche Herausforderung
nicht eine unbestreitbare Vollendung dieses Gefühls universeller
Verantwortung in Europa? Wenn Europa schon auf der Suche nach einer
Bestimmung, einer historischen Mission, einer kraftvollen Leitidee
seiner Einigung ist, dann wäre dies in meinen Augen nur schwer anderswo
möglich als auf dem eben erwähnten Gebiet.
Ich fordere keineswegs, dass Europa seine Geschichte, seine Traditionen,
seine geistigen Wurzeln und die Grundprinzipien seiner Zivilisation
verleugnet.
Im Gegenteil: Europa muss sich wieder die Form vergegenwärtigen,
die es zu Beginn seiner kulturellen Tradition angenommen hatte,
d.h. die Vorstellung einer Verantwortung für die Welt. Es geht dabei
nun gerade nicht darum, anderen mit Anmassung seinen Glauben, seine
Meinung aufzuzwingen. Noch weniger geht es um einen hochnäsigen
Anthropozentrismus des Menschen gegenüber der Natur! Es handelt
sich um etwas ganz anderes: um den demütigen Weg des Beispiels.
Ist das Opfer Christi des Erlösers nicht gerade die Inkarnation
des Grundsatzes, nach dem man bei sich selbst zu beginnen habe,
wenn man die Welt verändern möchte?
Die Zeit, als Europa Lehren erteilte und über die Welt herrschte,
ist endgültig Teil der Vergangenheit, genauso wie die Zeit, als
es seiner Kultur als einziger, wahrer und bester Kultur Geltung
verschaffte. Ich bin hingegen der festen Überzeugung, dass der Augenblick
gekommen ist, wo Europa sich Klarheit verschaffen, sich domestizieren,
sich verwandeln muss mit eben jener Demut, die ehemals sein geistiges
Wappen zierte. Wenn es anderen als Vorbild dient, wenn es sie beeinflusst,
umso besser. Doch dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen,
wir haben die Pflicht, zu handeln.
Goldene Kälber anzubeten, sich bei jedem Schritt vor ihren Herren
zu krümmen, alles dem Diktat der Werbung und den Medien zu unterwerfen,
allen nur möglichen und vorstellbaren Innovationen im Bereich der
Konsumgüter in die Falle zu gehen, die als einzige dauerhafte Folge
den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und die Verschmutzung
unserer Atmosphäre zeitigen, stellt nun wirklich keine Unabänderlichkeit
dar. Es gibt keinen Grund, den Sinn allen menschlichen Handelns
in dem steten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts zu sehen!
Wir wissen sehr genau um die Bedrohungen, die auf der Menschheit
lasten, wenn diese sie nicht in den Griff bekommt und ihrer Tatenlosigkeit
ein Ende setzt. Zu diesem Thema sind hunderte von Büchern geschrieben
worden, und es wäre im übrigen durchaus verwunderlich, wenn so neugierige
Menschen wie unsere Zeitgenossen nichts davon wissen sollten und
sich nicht voll und ganz über die Alternativen zu diesen Geisseln
der Zivilisation im Klaren wären. Das Problem besteht heute nicht
so sehr in einer Unkenntnis der Gefahren, die die Welt bedrohen,
oder der Mittel, wie wir ihnen begegnen können, sondern in unserer
Unfähigkeit zur Reaktion. Wir sind allzu sehr mit unseren unmittelbaren
Interessen beschäftigt und dadurch praktisch unfähig, daran zu denken,
was morgen sein wird oder in hundert Jahren. Kurzum: Wir haben die
Fähigkeit verloren, die Dinge aus der Perspektive der Ewigkeit,
der Geschichte des Seins und seines Gedächtnisses zu betrachten.
Was ist an dieser Haltung wirklich europäisch? Europäisch im edlen
Wortsinn? Nichts. Im Gegenteil: sie steht zu den Ideen, die die
Grundlagen der europäischen Zivilisation bilden, in krassem Widerspruch.
Natürlich hat die geistige Bewegung Europas über ihre interne Enwicklungslogik
zu der jetzigen, weltweiten, technizistischen Konsumzivilisation
geführt, die ihrer eigenen Zerstörung entgegengeht, aber paradoxerweise
liegt es auch aus einer ganzen Reihe von Gründen in der Macht Europas,
diese Situation umschlagen zu lassen und sich sozusagen selbst zu
übertreffen. Vergessen und verborgen schlummert das Potential zu
einer solchen Erhöhung in seinen eigenen geistigen Grundlagen.
Die Bestimmung Europas im Zusammenhang mit der aktuellen Zivilisation
- und damit auch der Grundgedanke einer Einigung - darf nicht, wie
es augenblicklich zu beobachten ist, in etwas Neuem, Unbekannten
liegen. Sie lässt sich einfach aus einer neuen Lektüre der uralten
europäischen Bücher, aus einer neuartigen Interpretation ihrer Bedeutung
gewinnen.
Vor fünf Jahren starb ein litauischer Jude, der in Deutschland studiert
hatte, um dann ein berühmter französischer Philosoph zu werden.
Sein Name war Emmanuel Levinas. Seiner Lehre zufolge, die darin
dem Geist der alten europäischen Traditionen - in diesem Fall wohl
der jüdischen Tradition - entspricht, entsteht das Gefühl der Verantwortung
für diese Welt in dem Augenblick, wo wir das Gesicht des Anderen
betrachten.
Ich bin der Ansicht, dass sich Europa heute genau diese Geistestradition
wieder in Erinnerung rufen sollte. So wird es das Andere entdecken,
sowohl in dem umliegenden Raum als auch in allen anderen Teilen
der Welt, um dieser Grundverantwortung gerecht zu werden, die niemals
mehr in den dünkelhaften Zügen eines Eroberers in Erscheinung treten
wird, sondern vielmehr mit dem demütigen Antlitz dessen, der sich
das Kreuz der Welt auf seine Schultern lädt.
Sollte jemand diese Verantwortung mit einer neuartigen Form messianischen
Hochmutes gleichsetzen wollen, dann müssten wir nur mehr unser Gewissen
befragen.
* * *
Im Anschluss an diese ein wenig abstrakten Überlegungen würde ich
abschliessend gerne auf etwas Konkretes zu sprechen kommen, das
die Europäische Union im Sinne meiner vorhergehenden Ausführungen
in Angriff nehmen könnte.
Wenn wir nicht länger wünschen, dass die Europäische Union als ein
allzu komplexes Verwaltungsunternehmen auftritt, dessen Bedeutung
lediglich von einer begrenzten Kaste von Eurospezialisten verstanden
wird, wenn wir sie - so wie sie es selbst mehrfach angekündigt hat
- bürgernäher wünschen, sollte sie in meinen Augen die Ausarbeitung
eines Grundgesetzes anregen. Darunter verstehe ich eine nicht unbedingt
sehr lange, dafür aber allgemeinverständliche Verfassung mit einer
feierlichen Präambel, in welcher der Sinn und der Gedanke der Union
knapp umrissen wird, bevor dann die verschiedenen Institutionen,
ihre wechselseitigen Beziehungen und ihre Kompetenzen bestimmt werden.
Dabei muss nicht unbedingt etwas Neues vorgelegt werden, es genügt,
unter den mehreren Hundert Seiten des bereits bestehenden Vertragswerks
das Nötige auszuwählen und daraus ein Ganzes zu formen. Das Verbleibende
würde weiterhin Gültigkeit beanspruchen und sich weiterentwickeln,
oder aber es würde sich unter der Last der Gesetze und Normen auf
die ein oder andere Art verändern, ohne dass die Kinder Europas
verpflichtet wären, sich in der Schule damit auseinanderzusetzen.
Eine Europäische Verfassung müssten sie allerdings kennen. Ich weiss
nicht, was ihre Lehrer ihnen heute über die Union zu erzählen haben,
aber ich denke nicht, dass es die Verträge von Paris, Rom, Maastricht
oder Amsterdam betrifft. Denn die armen Kinder würden dann das ganze
Jahr über damit zubringen, die Unterlagen zu wälzen und die in einem
Vertrag modifizierten Absätze mit den ursprünglichen Absätzen des
vorangegangenen Vertrages bzw. mit den modifizierten Absätzen des
darauf folgenden zu vergleichen.
Was die Institutionen der Union betrifft, so glaube ich, dass die
äusseren Umstände früher oder später durchaus im Sinne meiner vorhergehenden
Folgerungen die Einrichtung eines Zweikammersystems wie in den klassischen
Föderationen notwendig machen werden. Neben dem bestehenden Europäischen
Parlament, dessen Struktur die Grösse der Mitgliedsländer wiederspiegelt,
müsste ein zweites, kleineres, nicht direkt gewähltes Organ treten,
in das jedes Parlament der Mitgliedsstaaten, sagen wir, zwei Abgeordnete
entsendet. In dieser zweiten Kammer hätte die Stimme der kleinen
und der grossen Mitgliedsländer dasselbe Gewicht. Welche Gesetze
von beiden Kammern und welche von der ersten Kammer beschlossen
würden, würde - vorzugsweise in der Verfassung - präzise definiert
werden. Meiner Ansicht nach würde diese Lösung mehr als nur ein
ungelöstes Problem, wie z.B. die Frage nach der nationalen Repräsentation
innerhalb der Kommission, aus der Welt schaffen. Ich denke, dass
diese letzte, im wesentlichen exekutive Institution keine Länderquoten
einführen sollte. Vor allem nach der Erweiterung wäre es nicht mehr
notwendig, dass alle Mitgliedsländer dort vertreten sind; die politischen
Fachkompetenzen der Kommissare bekämen dadurch nur ein grösseres
Gewicht. Die Interessen und die Meinungen der verschiedenen Staaten
könnten und sollten von dem Europäischen Rat und der zweiten Kammer
des Europäischen Parlaments hinreichend vertreten sein.
Daraus ergibt sich, dass ich allgemein gesprochen eher den Weg der
Parlamentarisierung und der progressiven Föderalisierung empfehlen
würde als den Weg der internationalen Vertragsabschlüsse sowie der
auf der Grundlage dieser Verträge entwickelten Institutionen und
Instrumente. Auf den ersten Blick mag das überraschend erscheinen,
aber ich bin der festen Überzeugung, dass der von mir empfohlene
Weg eine grössere Rücksichtnahme auf die Wünsche der verschiedenen
Nationen in sich birgt und auch deren Identität stärker hervorhebt.
Der andere Weg würde nämlich zu der Einrichtung unzähliger, demokratisch
nicht legitimierter Bürokratien führen, die sich folglich auch der
Kontrolle durch die Bürger der verschiedenen Länder entziehen würden.
Eine Erklärung, eine Charta oder auch eine Verfassung könnte in
meinen Augen entscheidend dazu beitragen, dass sich jeder Europäer
der Bedeutung der europäischen Einigung bewusst wird, der eventuellen
Opfer, die er wird bringen müssen, und auch des Wesens dieses ausserordentlichen
politischen Gebildes sowie seiner Funktionsweise.
Es steht mir gewiss nicht zu, mich zum Anwalt einer Verfassung,
von Gesetzen und Erklärungen, von Institutionen und Kompetenzen
zu erheben, schon gar nicht gegenüber einem Land wie Frankreich,
wo die Geburtsstätte des Rationalismus und der Aufklärung liegt
und wo die Verfassungsrechte der Bürger mehrfach blutig erstritten
wurden. Dennoch denke ich auch weiterhin, dass es in unserer ereignisreichen
Welt Wichtigeres gibt.
Das Wichtigste findet sich anderswo, nämlich in dem Geist und der
moralischen Grundlage, aus der die verschiedenen Institutionen und
deren Gründungsakte entstanden sind.
Als Repräsentant eines Landes, das die Greuel eines totalitären
Systems erlitten hat und das noch immer darunter leidet, möchte
ich dafür plädieren, dass für den europäischen Einigungsprozess
die ungewöhnliche Verbindung von zwei grundlegenden, allerdings
allzu oft preisgegebenen Traditionswerten Europas als Angelpunkt
gewählt wird: Demut und Verantwortungsbewusstsein.
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