Mit der Perspektive
einer Erweiterung auf bis zu 30 und mehr Mitgliedsstaaten steht
die Europäische Union heute vor einer der grössten Herausforderungen
ihrer Geschichte. Die Erweiterung stellt eine Chance zur Revitalisierung
und strategischen Neuausrichtung der Union dar. Allerdings weiss
ich, dass es darüber auch andere Meinungen gibt. Hierüber brauchen
wir eine substantielle Debatte, für die die Europäische Kommission,
aber auch Deutschland und Frankreich als wichtiger Motor der Integration,
eine besondere Verantwortung tragen.
Die Europäische Union muss einen Mehrwert produzieren, der für die
Bürger politisch sichtbar ist. Wichtige Schritte hierzu sind bereits
getan: Der gemeinsame Binnenmarkt ermöglicht den freien Verkehr
von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Der Euro als
gemeinsames Zahlungsmittel bindet die Volkswirtschaften dauerhaft
und für die Bevölkerung spürbar aneinander. Die Grundlagen für eine
Politische Union sind durch die gemeinsamen Institutionen gelegt,
insbesondere durch das Europäische Parlament, das die Erwartungen
und den Willen der Bürger zum Ausdruck bringt. Schliesslich ist
mit dem Beschluss des Europäischen Rats von Köln, die Westeuropäische
Union in die Europäische Union zu integrieren, die Basis für eine
gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen.
Damit können wir uns aber nicht zufrieden geben. Wir kommen aus
verschiedenen Ländern, sprechen verschiedene Sprachen und haben
verschiedene historische und kulturelle Traditionen, die es zu bewahren
gilt. Was wir nun schaffen müssen, ist eine Union, die auch in den
Herzen und Köpfen verankert ist und die sich auf das starke Gefühl
eines gemeinsamen Schicksals stützt. Sie sollte in ihren Institutionen
und in ihren Aktionen unserer gemeinsamen europäischen Identität,
der Seele Europas, entsprechen. Anders wird es uns nicht gelingen,
die beitrittswilligen Staaten effektiv in die Europäische Union
zu integrieren.
Konkret stehen wir heute vor drei grossen Aufgaben, die gleichzeitig
bewältigt werden müssen:
- die Erweiterung der EU und die Gestaltung unserer Beziehungen
zu unseren anderen Nachbarländern,
- die Reform des politisch-institutionellen Systems der EU im Rahmen
der anstehenden Regierungskonferenz,
- die Sicherung des Wirtschaftswachstums, der Schaffung neuer Arbeitsplätze
und der Durchsetzung des Prinzips nachhaltiger Entwicklung.
Für die Erweiterung brauchen wir eine politische, keine technokratische
Strategie. Es geht hier nicht nur um die Beitritte zur Union, sondern
sehr viel weitgehender um die Frage, wie wir langfristig unser Zusammenleben
in einer grossen Familie europäischer Nationen organisieren wollen.
Die Erweiterung macht eine umfassende Überprüfung und Reform unserer
gemeinsamen Politiken erforderlich. Je mehr Staaten beitreten, desto
schwieriger wird es sein, die Bereiche zu bestimmen, die auf europäischer
Ebene zu regeln sind. Wir müssen deshalb jetzt den Mut aufbringen,
diese Fragen ernsthaft und ehrlich anzugehen.
Für die Staaten, die erst längerfristig für eine Mitgliedschaft
in Betracht kommen, müssen wir zukunftsweisende Konzepte erarbeiten,
z.B. eine „virtuelle Mitgliedschaft" in bestimmten Bereichen als
Vorstufe einer späteren Vollmitgliedschaft. Diesen Staaten könnte
eine weitgehende Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion,
neue Formen der Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik sowie Konsultativrechte
und Beobachterstatus in Europäischen Institutionen angeboten werden.
Gleichzeitig müssen wir ein klares Gesamtkonzept für die Beziehung
zu unseren unmittelbaren Nachbarn entwickeln, d.h. zu den Staaten,
denen wir keine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union geben
können. Ich denke vor allem an Russland. Wir alle - die Europäische
Union, die Beitrittskandidaten und unsere Nachbarn - müssen zusammenwirken,
um eine neue europäische Architektur des Friedens, der Stabilität
und des allgemeinen Wohlstands zu schaffen.
Eine andere unmittelbare Herausforderung stellt die bevorstehende
Regierungskonferenz dar. Die Erweiterung, aber auch die Krise der
letzten Kommission, die niedrige Wahlbeteiligung an den Europawahlen
1999 und institutionelle Defizite machen eine tiefgreifende Reform
der europäischen Institutionen unabdingbar. Ein schrittweises Vorgehen
mit mehreren Regierungskonferenzen würde Europa in einem Zustand
permanenter Verfassungsreform verharren lassen. Dies wäre für die
Bürger nicht nachvollziehbar und würde eine Vergeudung von Energien
bedeuten, die anderweitig dringend benötigt werden. Mit einer Reform,
die keine effiziente Beschlussfassung ermöglicht, können wir uns
deshalb nicht zufrieden geben.
Basis einer erfolgreichen Europäischen Union ist schliesslich eine
starke und gesunde Wirtschaft, die in der Lage ist, den Europäern
Arbeit zu geben sowie ökologisch und ökonomisch nachhaltiges Wachstum
zu sichern. Die hierfür notwendigen Strukturanpassungen müssen jetzt
angegangen werden, der derzeitige Wirtschaftsaufschwung bietet die
Chance zu Strukturanpassungen bei geringeren Kosten. Europas Wirtschaft
heute modernisieren, heisst mehr Arbeitsplätze für morgen schaffen.
Wir brauchen ein Bekenntnis zu nachhaltiger Entwicklung, das keine
leere Floskel bleibt. Wir müssen die langfristigen Probleme angehen,
die sich aus den demographischen Trends und ihren Auswirkungen auf
das Gesellschaftsgefüge ergeben. Es geht darum, sowohl die Produktivität,
als auch die Zahl der Erwerbstätigen zu erhöhen. Wenn uns dies gelingt,
haben wir eine echte Chance, eine gerechte und tragfähige Gesellschaft
für die heutigen und die künftigen Generationen herauszubilden.
Es wird uns nur gelingen, die Union substantiell zu vertiefen und
zu erweitern, wenn wir zu mehr gemeinsamem Gestaltungswillen kommen
und nationale Egoismen überwinden. Die EU darf von den Mitgliedsstaaten
nicht mehr in erster Linie als ein Marktplatz gesehen werden, auf
dem möglichst viel für das eigene Land herauszuholen ist. Um die
beschriebenen Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir
mehr Orientierung an dem, was für Europa insgesamt erforderlich
ist. Wir müssen zu einem neuen Umgang miteinander sowohl in Verhandlungsprozessen
als auch in der öffentlichen politischen Debatte kommen, um dadurch
eine neue Qualität der europäischen Integration insgesamt zu erzeugen.
Europa kann in der internationalen Staatengemeinschaft nur dann
wirklich eine Rolle spielen, wenn es mit einer Stimme spricht. Wir
müssen deshalb jetzt daran arbeiten, die Europäische Union zu einem
effektiven und handlungsfähigen Akteur zu machen. Die neue Europäische
Kommission wird als Motor in diese Richtung wirken. Wir brauchen
eine langfristige Vision für Europa. Ich wünsche mir, dass Deutschland
und Frankreich für diese Vision gemeinsame Positionen entwickeln
und dadurch - wie in der Vergangenheit - den Einigungsprozess von
neuem durch einen strategischen Impuls voranbringen.
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