Wahrscheinlich
ist es ein datenmässiger Zufall, dass sich nach vielen Anzeichen
um die Jahrhundertwende eine Art „europäischer Zeitenumbruch" abzeichnet.
Nach ähnlichen Vorgängen in den letzten Jahren in England, Frankreich,
Spanien, Italien hat die Bundestagswahl im September 1998 auch in
Deutschland zur Ablösung jener Politikergeneration geführt, für
welche die unmittelbar erlebte Kriegs- und Nachkriegszeit im Sinne
eines „nie wieder" zur Antriebskraft des europäischen Einigungsprozesses
wurde. An ihre Stelle treten überall Jüngere, welche die Gründe
und Anfänge der europäischen Integration nur aus den Schulbüchern
und den nicht immer gerne angehörten Erzählungen der Älteren kennengelernt
haben. Diese Jüngeren sind nicht Anti-Europäer. Das Eindrucksvolle
an der europäischen Idee ist und bleibt, dass sie in den verschiedenen
Ländern Europas zwischen den Generationen und zwischen den massgeblichen
politischen Lagern bei allen Unterschiedlichkeiten im Näheren das
grosse einigende Band geblieben ist, welches immer wieder gemeinsame
Zielsetzungen und gemeinsame Politik ermöglicht.
Dennoch muss sich die Europa-Idee von Generation zu Generation immer
wieder neu legitimieren. Das vielzitierte Wort Helmut Kohls, Europa
sei eine „Sache von Krieg oder Frieden", entsprang noch ganz dem
Erlebnishorizont der letzten Nachkriegsgeneration. Es würde von
seinen Nachfolgern kaum in dieser Weise wiederholt werden. Die Europäische
Union als Aussöhnungs- oder Friedensprojekt wird heute nicht ernsthaft
in Frage gestellt. Es ist aber zu einer Art selbstverständlichem
„Acquis communautaire" geworden, der von der älteren Generation
übernommen wurde, aber nicht mehr für sich alleine zur Erklärung
dafür ausreicht, weshalb die Europäer ihre nationalen Währungen
zugunsten des Euro aufgeben oder eine schwer abschätzbare Zahl neuer
Mitglieder in Mittelosteuropa und am Mittelmeer in die Gemeinschaft
aufnehmen sollen. Kürzlich hat Aussenminister Josef Fischer in Paris
vor dem Auswärtigen Ausschuss der Nationalversammlung formuliert:
„Vierzig Jahre lang haben wir Europa nach der Methode Monnet vorangebracht.
Nach meiner Überzeugung sind wir jetzt an einem Punkt angelangt,
wo unsere Bürger genauer wissen wollen, wohin die Reise geht."
Europäische Rechtskultur als Fundament
Seit geraumer Zeit hat innerhalb der Gemeinschaft mit der Annäherung
der Rechtsordnungen eine Entwicklung eingesetzt, die, wenn nicht
alles täuscht, sich auch nach der Jahrhundertwende fortsetzen wird.
Grundlage der Europäischen Union ist vor allem anderen eine unbedingt
und unmittelbar geltende Rechtsordnung. Die Gemeinschaft ist Rechtsgemeinschaft,
nicht mehr und nicht weniger. Mit der Bejahung und Durchsetzung
des Europarechts steht und fällt noch immer alles. Die Union verfügt
trotz einiger ihr jüngst verliehener finanzieller Sanktionsmittel
über keinen wirklichen Büttel, mit dem sie sich notfalls gegen widerstrebende
Mitgliedstaaten durchsetzen könnte. Ihre ultima ratio ist der Spruch
des Gerichtshofes. Seine Weisheit soll den Respekt vor dem Gemeinschaftsrecht
garantieren. Das funktioniert bisher einigermassen, zumal das Interessengeflecht
zwischen den Mitgliedstaaten mittlerweile so dicht geworden ist,
dass jeder weiss, dass er sich durch Rechtsungehorsam, der rasch
Nachahmung finden könnte, selbst schädigen würde.
Freilich zeigt der Ende 1999 neu ausgebrochene „beef-war" zwischen
Grossbritannien einerseits und vor allem Frankreich und Deutschland
andererseits, dass die Herrschaft des europäischen Rechts immer
wieder auf harte Proben gestellt wird, wenn sich nationale Sorgen
und Emotionen an hehren Prinzipien wie dem Gesundheitsschutz entzünden.
Neben dem Geltungsbereich des europäischen Gemeinschaftsrechts im
engeren Sinne ist mittlerweile der Beginn einer wichtigen zweiten
Stufe europäischer Rechtsentwicklung auszumachen. Seit den fünfziger
Jahren hatte das sekundäre Europarecht zunächst die Fundamente der
Rechtsgemeinschaft in Ausformung der Vorgaben der europäischen Vertragsverfassung
gelegt. Der Gemeinsame Zolltarif, die Agrarmarktverordnungen, Freizügigkeits-regeln,
ein europäisches Wettbewerbsregime und vieles andere mehr zeugen
hiervon. Dieser Prozess dauert an. Die vielbeklagte Brüsseler „Regulierungswut"
hat allerdings in den neunziger Jahren seit Einführung des Subsidiaritätsprinzips
etwas nachgelassen.
Die Ausbildung des Gemeinschaftsrechtes im engeren Sinne wird nunmehr
seit etlichen Jahren durch eine andere Form europäisch inspirierter
nationaler Rechtsetzung ergänzt und vertieft. Der Präsident des
EuGH, Rodriguez Iglesias, hat sie als „Europäisierung der mitgliedstaatlichen
Rechtsordnung" eindrucksvoll umschrieben. Sie wird zwar ihrerseits
im EG-Vertrag an ungefähr 20 Stellen als Rechtsangleichung zur Förderung
des Binnenmarktes angeschoben, vor allem durch europäische Richtlinien.
Dieser Prozess hat sich jedoch im Laufe der Zeit immer stärker von
seinen gemeinschaftsrechtlichen Ursprüngen verselbständigt. „Europäisierung
der Rechtsordnung" ist mehr und mehr zu einer Suche nach den gemeinsamen
europäischen Wurzeln des in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtes
geworden. In wichtigen Fällen wurden auf diese Weise bereits empfindliche
Lücken im Rechtssystem der Gemeinschaft geschlossen. Bekannt ist
vor allem die in den sechziger Jahren erfolgte richterrechtliche
Findung von Gemeinschaftsgrundrechten durch den Gerichtshof aus
den gemeinsamen Verfassungsüberliefer-ungen der Mitgliedstaaten.
In den neunziger Jahren hat der Luxemburger Hof in ähnlicher Kühnheit
die Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstössen gegen Gemeinschaftsrecht
in Gestalt einer ungeschriebenen europäischen Ergänzung der nationalen
Staatshaftungssysteme begründet. Hierüber weit hinaus hat sich die
Rechtsangleichung jedoch inzwischen in verschiedenen Formen als
der umfassendste Aspekt der Gemeinschaftsaktion überhaupt erwiesen.
Dabei ist seit den siebziger Jahren an die Stelle ehrgeizig perfektionierender
Harmonisierungen oftmals die Technik der gegenseitigen Anerkennung
der sich nahestehenden Rechtsordnungen getreten. Mit dem „Prinzip
des gegenseitigen Vertrauens" im Sinne der „Cassis de Dijon"-Rechtsprechung
und ihrer Fortentwicklung wird zunächst das für den Binnenmarkt
Notwendige in Gestalt gegenseitiger Öffnung der Märkte getan. Es
bleibt auf diese Weise Zeit für spätere wirkliche Rechtsharmonisierung,
wenn sie sich denn als nützlich erweist. Über die ursprünglichen
binnenmarktrelevanten Schwerpunkte hinaus gibt es heute bereits
kaum einen grösseren Bereich des privaten, öffentlichen und inzwischen
auch des Strafrechts, der nicht in den Sog des Europäisierungsprozesses
geraten wäre. Neben die unmittelbar durch die Gemeinschaft angestossenen
Massnahmen sind völkerrechtliche Angleichungsverträge getreten.
Trotz manch fortbestehender Schwierigkeiten wie bei der seit Jahrzehnten
stockenden Schaffung einer europäischen Aktiengesellschaft ist bei
den Bemühungen um die Europäisierung immer neuer Rechtsbereiche
seit den achtziger und neunziger Jahren geradezu eine Art Aufbruchsstimmung
festzustellen. Stück für Stück werden die Konturen eines europäischen
Rechtsraumes sichtbar. Wahrscheinlich sind diese gemeinsamen Tiefenstrukturen
europäischer Rechtskultur ein besonders wichtiges Anzeichen dafür,
dass die Errichtung der überstaatlichen Rechtsgemeinschaft kein
seelenloses technokratisches Konstrukt darstellt, sondern an Traditionen
anknüpfen kann, deren Wurzeln bis in die Zeiten Bolognas und des
römischen corpus iuris zurückreichen.
Unter den Gewinnern oder Verlieren des 21. Jahrunderts?
Alles in allem ist heute noch schwierig zu deuten, wie sich der
eingangs bemerkte „Zeitenbruch" der Jahrhundertwende auf den Fortgang
des europäischen Einigungsprozesses auswirken wird. Welche Priorität
misst die Generation der 50jährigen, in deren Hände die Geschicke
der Europäischen Union jüngst übergegangen sind, die Aznars, Blairs,
Jospins, Schröders und andere, dem Fortgang der europäischen Integration
bei? Träumen sie den europäischen Traum weiter? An politisch schwerwiegenden
Gründen, die Union über ihre wirtschaftlich weit vorangetriebene
Seite hinaus politisch zu vollenden, mangelt es nicht. Ebensowenig
freilich an grossen Problemen. Als erstes ist die Herkulesaufgabe
anzupacken, die weitere Vertiefung der Gemeinschaft mit der anstehenden
grossen Erweiterung ihres Mitgliederkreises so zu verbinden, dass
die künftige gesamteuropäische Union arbeitsfähig bleibt. Bei diesen
verschiedenen Herausforderungen wird es wie schon in der Vergangenheit
entscheidend auf die Erhaltung der Bindungskraft eines allseits
bejahten und befolgten europäischen Rechts ankommen, wenn eine Gemeinschaft
von 20 bis 30 Mitgliedern sich nicht übermorgen in eine lockere
Handelszone verwandeln soll, in der jedes Mitglied sein eigenes
Süppchen kocht. Nachdem der europäische „Superstaat" aus der ernsthaften
politischen Diskussion verschwunden ist, bleibt nur die Fortsetzung
und Erneuerung der Integration in den bewährten Formen, auf denen
die Gemeinschaft seit Jahrzehnten aufgebaut hat, verbunden mit dem
gelegentlichen Ausmisten des einen oder anderen Augiasstalles. Dabei
dürfen die weiteren Fortschritte des Einigungsprozesses sich nicht
auf Wirtschaft und Politik beschränken. Für die Dauerhaftigkeit
einer staatsähnlichen Verbindung der europäischen Völker ist mindestens
ebenso die Vermittlung der Erkenntnis entscheidend, dass Europa
trotz aller ethnischen und sprachlichen Vielfalt eine reale Ganzheit
darstellt. Sie gründet sich auf ein jahrtausendealtes geschichtliches
und kulturelles Erbe, in das gemeinsame antike, christliche und
humanistische Traditionen eingeflossen sind. Diese „Suche nach der
Seele Europas", nach den gemeinsamen kulturellen Fundamenten der
Gemeinschaft kann freilich nur in sehr begrenztem Rahmen Sache der
politisch-juristischen Aktion in Gestalt von „EG-Kulturkompetenzen"
sein. Gefordert sind hier in erster Linie die spontanen Kräfte der
Zivilgesellschaft.
An der Schwelle des 21. Jahrhunderts mag man beginnen zu spekulieren,
welches Attribut dem anbrechenden Säkulum eines fernen Tages zugeteilt
werden könnte. Das 19. Jahrhundert wird oft das europäische genannt.
Die Ideen aus dieser kleinen Landzunge am Rande des asiatischen
Kontinents gingen um die ganze Welt. Gleichzeitig unterwarf sich
Europa grosse Teile Afrikas und Asiens. Das alles ist mittlerweile
Vergangenheit. Das 20. Jahrhundert ist in seinem Verlauf mehr und
mehr das amerikanische geworden. Der American Way of Life und ebenso
die militärische und wirtschaftliche Stärke der einzigen seit den
neunziger Jahren verbliebenen Supermacht prägen heute die internationale
Staatengemeinschaft. Futurologen haben gelegentlich das 21. Jahrhundert
bereits als das asiatisch-pazifische ausgerufen. Jüngst sind allerdings
Schatten auf diese Voraussage gefallen.
Wo bleibt Europa? Es hat viele seiner Kräfte in zwei grossen selbstzerfleischenden
Kriegen verbraucht. Es ist zurückgefallen. Aber „warum sollte dieser
grosse Herd der Zivilisation, der Stärke, der Vernunft und des Fortschritts
unter seiner eigenen Asche verlöschen?" So hat der französische
Staatspräsident de Gaulle in den sechziger Jahren gefragt. Das steht
nirgends geschrieben. Der Einigungsprozess eines halben Jahrhunderts
hat mit der Schaffung der europäischen Gemeinschaft und Union bereits
weit geführt. Er hat die Kräfte sichtbar werden lassen, die im alten
Kontinent immer noch schlummern. Werden sie sich im neuen Jahrhundert
so weit bündeln und entfalten, dass Europa die neuartigen Formen
friedlichen Zusammenlebens vollendet und der Welt vorzuleben vermag?
So, wie sie einige weitblickende Politiker mit Hilfe juristischen
und wirtschaftlichen Sachverstandes seit den fünfziger Jahren entwickelt
haben? Unmöglich erscheint dies nicht. Die verantwortlichen jüngeren
Generationen müssen sich jedoch der Einsicht stellen, dass nur starke
und integrierte Lösungen den Zusammenhalt schaffen können, mit dem
Europa dauerhaft zu einer florierenden Vereinigung seiner Staaten
findet und eine seiner Bedeutung entsprechende globale Rolle zu
übernehmen vermag. Der englische Historiker Arnold Toynbee hat den
Gang der Weltgeschichte vor längerer Zeit durch die Wirkungskräfte
zwischen challenge und response zu erklären versucht. Einige der
offenkundigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an die EU
wurden hier benannt. Sie zu bestehen erfordert in Brüssel und den
Hauptstädten der Mitgliedstaaten vermehrt die Einsicht und Fähigkeit,
dass es hierzu gemeinsamer Antworten bedarf.
Veröffentlichungen
- Europarecht, 2.Auflage,
1999
- Grauzonen im Welthandel, 1998
- Die Europäische Gemeinschaft in der Welthandelsorganisation (WTO),
1995
- Reforming the International Economic Order,
1987
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