In den 90er Jahren
bestand einer der auffallenderen Züge der EU-Politik in der subnationalen
"Mobilisierung" der europäischen Integration, d.h. in einer stärkeren
Bindung subnationaler Regierungsakteure an die Institutionen und
politische Prozesse der EU-Politik. Die Erscheinungsformen dieser
Mobilisierung sind vielfältig. Reformen der Regionalpolitik der
EU haben zu einer stärkeren Berücksichtigung subnationaler Belange
in dem Europäischen Strukturfonds geführt. Neue interregionale Kooperationsorganisationen
sind im Umfeld von EU-Programmen entstanden. Mehr als 140 subnationale
Regierungen haben in Brüssel Vertretungen eingerichtet. Durch Änderungen
am Vertragswerk der EU wurde bestimmten subnationalen Regierungen
die Möglichkeit zur Teilnahme an dem wichtigsten Entscheidungsorgan
der EU, dem Ministerrat, eröffnet, ein europäisches Regionalkomitee
mit Konsultationsrechten in einer ganzen Reihe von Politikfeldern
begründet und das Subsidiaritätsprinzip als allgemein akzeptierter
Bestandteil der Regionalismusdebatte zur europäischen Integration
eingeführt. In Teilen der EU wurden neue Koordinationsmechanismen
eingeführt, um die subnationale Ebene in die Ausarbeitung der politischen
Zielsetzungen mit einzubinden, welche die Zentralregierungen der
Mitgliedstaaten in Brüssel vorstellen.
Vieles von dem ging natürlich spurlos an dem Vereinigten Königreich
vorüber. Obgleich es einigen lokalen Verwaltungen wie Birmingham
City, Kent County und Strathclyde Region gelang, sich ein angemessenes
europapolitisches Profil zu geben, erwies sich eine Bindung an die
EU-Politik auf subnationaler Ebene als ausgesprochen schwierig.
Das liegt sowohl an einem hoch zentralisierten politischen System,
das der subnationalen Ebene nur eine geringe politische Autonomie
zugesteht, als auch an den langjährigen konservativen Regierungen,
die schwerwiegende Bedenken gegenüber einer positiven Bindung an
die europäischen politischen Prozesse hatten. Die Wahl der Labour-Regierung
unter Tony Blair im Jahre 1997 stellte in beiderlei Hinsicht Veränderungen
in Aussicht. Im Labour-Programm wurde eine ehrgeizige und radikale
Regionalisierung versprochen, die seitdem mit dem Schottischen Parlament
und den politischen Vertretungen in Nordirland und Wales sowie mit
der Greater London Authority und der Einrichtung von Regionalentwicklungsbehörden
in den Regionen Englands Gestalt angenommen hat. Gleichzeitig legte
Labour ein Programm des "konstruktiven Engagements" in der Europäischen
Union vor; das bedeutet eine neue Verpflichtung zu positiver Kooperation
mit den europäischen Partnern des Vereinigten Königreichs und einen
Anspruch auf eine führende Rolle in der EU neben dem traditionellen
"Motor" der Integration, der deutsch-französischen Achse.
Der Einfluss der Regierung Blair hat somit also die Grundvoraussetzungen
für eine subnationale Mobilisierung des Vereinigten Königreichs
innerhalb der EU radikal neu definiert. Neue subnationale Institutionen
wurden ins Leben gerufen und mit Kompetenzen ausgestattet, deren
politische Autonomie allerdings unterschiedlich weit reicht - Schottland
verfügt über die grösste, die englischen Regionen über die geringste
Autonomie -, und durch ein neuartiges Klima in bezug auf die politische
Europadebatte hat sich für die regionalen Institutionen im Vereinigten
Königreich eine günstige Gelegenheit ergeben, ihrer Stimme im europäischen
Integrationsprozess Gehör zu verschaffen. Tatsächlich hatte man
schon frühzeitig die Notwendigkeit erkannt, dass die neu entstandenen
Regionalparlamente ein Mitspracherecht in Europa haben sollten.
In der Gesetzesvorlage der Regierung bezüglich der politischen Versammlung
von Wales war man beispielsweise darüber übereingekommen: "Wales
braucht eine starke Stimme in Europa. Die Aussenpolitik - einschliesslich
in Politikfeldern, die sich aus der EU-Mitgliedschaft ergeben -
werden auch in Zukunft in den Kompetenzbereich der Regierung des
Vereinigten Königreichs fallen, das weiterhin dafür Sorge zu tragen
hat, dass das Vereinigte Königreich seinen Verpflichtungen nachkommt
und seinen Rechten Geltung verschafft. Europäische Belange haben
aber auch Einfluss auf vielfältige Bereiche der Innenpolitik, für
welche die Versammlung die Verantwortung trägt. Dies bedeutet, dass
die Versammlung möglichst eng bei der Ausarbeitung der europapolitischen
Positionen des Vereinigten Königreichs mit einbezogen werden muss."
(Cm 3718, 1997, pp. 21-3).
Wie dies in der Praxis umgesetzt werden soll, ist noch nicht ganz
klar, da einige der abschliessenden institutionellen Detailfragen
der Vereinbarung zum regionalen Kompetenztransfert noch ausstehen.
Klar ist allerdings, dass das Vereinigte Königreich sich dem in
Europa vorherrschenden Regionalismustrend annähert. Zumindest haben
die Regionalinstitutionen in Schottland, Wales und Nordirland (die
regionale Stärkung Englands zielt in abgeschwächter Form zunächst
auf die regionale Wirtschaftsentwicklung) die Verantwortung für
die EU-Regionalpolitik in ihrem Gebiet übernommen. Jetzt können
sie ihre eigenen Vertreter in das Regionalkomitee entsenden, sie
können neben der Ständigen Vertretung des Vereinigten Königreichs
offizielle Vertretungen in Brüssel als ein Mittel der Kommunikation
und der Interessenvertretung führen. Neu eingerichtete Gesetzesausschüsse
bieten ein Forum zur Diskussion und Analyse von europapolitischen
Problemfeldern.
Eine genauere Vorstellung von der Art und Weise, wie die Zentralregierung
des Vereinigten Königreichs und die Regionaleinrichtungen ihre EU-Politik
aufeinander abstimmen und eine gemeinsame Position für das Vereinigte
Königreich erarbeiten werden, bekam man Ende 1999 mit der Veröffentlichung
der "Concordats" für Europa, in denen dargelegt wurde, wie die neu
geschaffenen Institutionen in Schottland, Wales und Nordirland bei
europäischen Fragestellungen zusammenarbeiten werden. Darin wird
das volle Informations- und Konsultationsrecht garantiert und dargelegt,
wie die Positionen sowohl auf innenpolitischer Ebene als auch in
den EU-Einrichtungen aufeinander abgestimmt werden. Was die innenpolitische
Ebene betrifft, so wurde im Aussenministerium des Vereinigten Königreichs
ein Regionalverwaltungsdepartement zur Organisation von routinemässigen
Koordinierungstreffen eingerichtet, während ein Vereinter Ministerrat,
an dem die Zentralregierung und regionale Europaminister teilhaben,
als Instrument zum Ausgleich von Unstimmigkeiten dient. Auf EU-Ebene
bietet sich die Aussicht auf eine subnationale Beteiligung an den
Verhandlungen in den Arbeitsgruppen des Rates und der Kommission,
ja sogar im Ministerrat selbst. Joyce Quin, der damalige Europaminister
des Vereinigten Königreichs, sprach im Februar 1999 davon, dass
"zur Erreichung der bestmöglichen Ergebnisse" für das Vereinigte
Königreich als Ganzes "besonderer Wert auf Mannschaftsarbeit gelegt"
werde.
Soweit handelt es sich also um eine erfrischend offene Haltung zu
Fragen der zentralen und subnationalen Koordination in europapolitischen
Belangen mit der frühzeitig gewonnenen Einsicht, dass eine positive
Koordination notwendig ist und im breiteren nationalen Interesse
liege. Es scheint, als haben die politischen Entscheidungsträger
des Vereinigten Königreichs von den oft langwierigen und entzweienden
Auseinandersetz-ungen gelernt, wie sie auf subnationaler Ebene in
anderen EU-Mitgliedsstaaten - vor allem in Deutschland und Spanien
- zur Erlangung einer qualitativ privilegierten, ausserhalb des
Zentralstaates verlaufenden Beteiligung an den Entscheidungsfindungsprozessen
in der EU geführt werden. Gleichwohl bleibt noch unklar, ob diese
erfrischend offene Haltung beibehalten werden kann, zumindest solange
diese neue Praxis der Koordination der EU-Politik nicht wirklich
getestet worden ist. Europapolitische Angelegenheiten sind Veränderungen
unterworfen und können in den unterschiedlichen Teilen des Vereinigten
Königreichs - z.B. bei Rindfleisch, Fischerei, Strukturfonds - teilweise
zumindest widersprüchlich sein. Die Regionalisierungsvereinbarung
als Ganzes wurde noch von keinem politischen Konflikt zwischen Zentrum
und Regionalparlamenten oder zwischen diesen selbst auf die Probe
gestellt. Erst wenn wir einen solchen Konflikt und dessen Lösung
beobachten können, wird deutlich werden, inwieweit eine Veränderung
der Mentalitäten zentralistischer Politik, die das Vereinigte Königreich
so lange geprägt hat, mit den neu geschaffenen Strukturen einer
dezentralisierten Regierung Schritt halten kann.
Eigene Übersetzung des Forum
Veröffentlichungen
- Vereinigtes Königreich, in Rudolf Hrbek (ed.), Jahrbuch
des Föderalismus 1999, Baden-Baden, Nomos, 2000.
- Sub-National Mobilisation and European Integration: Does it
Make any Difference?, Journal of Common Market Studies, Vol.
38, No. 1, 2000.
- The Regional Dimension of the European Union (ed.), London,
Frank Cass, 1997.
- Regional Information Offices in Brussels and Multi-Level Governance
in the EU: A UK-German Comparison, Regional and Federal Studies,
Vol. 6, No. 3, 1996.
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