Selbst nach zehn
Jahren fühlen wir uns tief aufgewühlt, wenn wir bedenken, was für
ein System das wohl war, wo Menschen sichere Arbeit, ruhiges Leben,
sogar das Werk ihres Lebens aufgaben, ohne viel nachzudenken, um
in die Freiheit zu flüchten. Die Ereignisse vor zehn Jahren haben
bewiesen: die Ordnung der Geschichte und die menschliche Natur duldet
keine solche Lebenswelt.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch im Besonderen jener gedenken,
die vor der Geburt der jungen ungarischen Demokratie aktiv an dem
bedeutungsvollen Ereignis der Grenzöffnung teilnahmen. Diejenige,
die bereit waren, sich von der treibenden Kraft der Geschichte fortreissen
zu lassen, um dadurch den ungarischen und deutschen Bürgern - letzten
Endes ganz Europa - einen grossen Dienst zu erweisen.
Im Laufe der Jahre, so sagt man, werden wir nicht nur um Erfahrungen
reicher, sondern um etwas mehr, wofür es sich gelohnt hat Mühsal,
Demütigung und schmerzliches Spiessrutenlaufen im Leben zu ertragen.
Aus den Erfahrungen lässt sich nach einigen Jahren ein System aufbauen.
" Wie der Wanderer "- so schreibt Sándor Márai, der ungarische Schriftsteller,
der erst nach Abriss des eisernen Vorhangs in unserer Heimat gewürdigt
wurde -, "wie der Wanderer, der während seiner Wanderungen ein verwickeltes
Gebirgssystem kennenlernt, und vom höchsten Gipfel die Struktur
der Landschaft überschaut, die Gesetzmässigkeiten in der zusammenhängenden
Berggipfelkette durchblickt. So sehen wir - aus der Perspektive
der vergangenen Jahre - das System in allem, was in unserem Leben
und im Leben anderer geschieht."
Wir Ungarn konnten damals, inmitten der heranströmenden Ereignisse
noch nicht wissen, was die Vorsehung mit uns vorhat. Wir hofften,
dass wir hier, in Mitteleuropa, unsere nationale Unabhängigkeit
eines Tages zurückerlangen werden. Wir hofften, dass die Stunde
der Freiheit und der Wahrheit kommt. Wir hofften, dass wir wieder
einmal unsere eigenen Herren sein werden. Wir hofften und wollten,
aber wir konnten nicht sicher sein.
Der gemeinsame Wille von Millionen von Menschen hat eine mitreissende
Macht. Sie kann uns sowohl in die Tiefe stürzen, als auch in die
Höhe heben. Es war ein wunderbares Gefühl, mit ganzen Nationen zusammen
zu denken, sich zu freuen, zusammen zu atmen. Viele von uns wurden
jedoch vom Zweifel geplagt: werden wir nicht noch einmal enttäuscht?
Kommt jetzt wirklich die Stunde der Freiheit und der Unabhängigkeit?
Wird man unsere Hoffnungen nicht, wie 1956, wieder stehlen?
Nach zehn Jahren stehen wir heute auf dem Berggipfel der Jahrtausendwende
und durchschauen das System in allem, was geschehen ist. Und - genauso
wie der Wanderer - überblicken wir nicht nur den Weg, den wir hinter
uns gebracht haben, sondern auch die Windungen, die Hindernisse,
die noch vor uns liegen, die Gipfel, die noch zu bezwingen sind
und die sanft absteigenden Täler.
Jetzt, wo das Alltägliche von damals zum Feiertag wird, jetzt ist
die Zeit gekommen, auf den wechselvollen Landschaften der mitteleuropäischen
Geschichte auch gemeinsam umherzublicken. Wir sehen, dass die Geschehnisse
jener vierzig Jahre eng zusammenhägen, die einen gehen aus den anderen
hervor, und sie zeigen alle in die Richtung derselben Geschichtsordnung.
Die einzelnen Gipfel der Gebirgskette reihen sich heute bereits
nebeneinander auf.
1953 der Aufstand von Berlin.
1956 die Revolution und der Freiheitskampf in Ungarn.
1968 der berühmte Prager Frühling.
Und dann die Bewegung der polnischen Solidarnosc in den Jahren 1980
und 1981.
Dann wurde der eiserne Vorhang abgerissen, und die Berliner Mauer
fiel. Die Ereignisse nahmen ihren eigenen Lauf, und trieben die
mitteleuropäischen Länder auf die Freiheit zu - manchmal sogar unabhängig
vom Willen jener, die ursprünglich den Stein ins Rollen gebracht
haben.
Nach zehn Jahren ist es nicht zu übersehen, wie stark die Hauptdarsteller
dieser historischen Ereignisse - die mitteleuropäischen Nationen
- einander brauchten. Wir sehen, dass die Verzweiflung der Deutschen
den Glauben der Ungarn nährte; dass die Niederlage der Ungarn die
Völker in der Tschechoslowakei zum Handeln anspornte; dass der starke
Wille der Polen den Ungarn wieder neue Hoffnung gab; und dass die
Hilfsbereitschaft der Ungarn den Bürgern von Deutschland nicht nur
Freude brachte, sondern sie auch stärkte und ihnen Mut gab.
Könnte es wohl möglich sein, dass die Kette der Ereignisse, die
uns bis an diesen Punkt brachte, plötzlich abbricht? Könnte es möglich
sein, dass wir - nachdem wir alle unsere Freiheit erlangten - einander
langsam verlieren?
Nach dem Fall der Berliner Mauer stand der deutschen Wiedervereinigung
nichts mehr im Wege. Das wiedervereinigte Land durchlief in zehn
Jahren eine grosse Entwicklung, vollbrachte regelrechte Wunder.
Wir freuen uns darüber, denn wir glauben, dass Ungarn bei der Geburt
vom Deutschland des 21. Jahrhunderts dabei war und mithalf.
Vor 1990 konnte man mit Recht sagen, dass, solange das Brandenburger
Tor geschlossen ist, die deutsche Frage offen bleibt. Heute ist
es genauso richtig zu sagen, dass, solange das Tor der Europäischen
Union geschlossen ist, die europäische Frage offen bleibt.
Alle Menschen, die damals, vor zehn Jahren die deutschen Bürger
an der österreich-ungarischen Grenze sahen, wie sie vor Freude weinten
und die Freiheit suchten, haben wahrscheinlich nicht geahnt, dass
diese Grenze in zehn Jahren noch immer Ungarn und die Europäische
Union voneinander trennen wird.
Wir Ungarn sind nach zehn Jahren immer noch der Meinung, dass dieser
unsichtbare Zaun nicht in die europäische Ordnung gehört. Wir sind
zuversichtlich, dass er - gerade aus diesem Grund - nicht mehr lange
an unserer Grenze entlangläuft. Vielleicht sind es gerade die Ereignisse
vor zehn Jahren, die uns Hoffnung geben.
Durch den Abriss des eisernen Vorhangs wurden wir Ungarn persönliche
Teilnehmer historischer Ereignisse. Das gab uns Kraft und Mut, dadurch
haben wir unsere Selbstachtung zurückgewonnen. Damals erlebten wir
das erste Mal, dass unser Wille Gewicht hat, und wir Macht in der
Hand haben.
Diese wiedergewonnene Selbstachtung war uns eine grosse Hilfe in
all den vergangenen Jahren. Oft schöpfen wir Kraft aus den Erinnerungen,
wenn wir stark sein müssen: wenn die Umstände gegen uns arbeiten
und die Oberhand zu gewinnen scheinen; wenn Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen
und äusserer Zwang uns die Hände binden. Da helfen uns die Erlebnisse
aus jener Zeiten, dass wir die Umstände bezwingen können, dass wir
unser Schicksal wenden können, dass wir stark genug sind, unabhängig
und selbständig zu sein.
Aus diesem Grund sind wir nicht niedergeschlagen, auch wenn die
Grenze der Europäischen Union an der Stelle des eisernen Vorhangs
verläuft und immer stärker kontrolliert wird. Aus diesem Grund können
wir uns von ganzem Herzen darüber freuen, dass wir vollberechtigte
Mitglieder im Atlantischen Bündnis sind. Wir sind zuversichtlich,
weil die Mitglieder des Bündnisses erkannten, dass die westliche
Welt erst dann vollständig wird, wenn sie zulässt, dass Blut wieder
in ihre eingeschlafenen Glieder hineinströmt. Wir vertrauen auf
uns und auf Europa, und glauben, dass die natürliche Ordnung sich
auf diesem Kontinent mit vereinten Kräften wiederherstellen lässt.
Bei dem bereits zitierten ungarischen Schriftsteller liest man an
einer Stelle: "Auf dem Grund des menschlichen Lebens gibt es Ordnung.
Und da das menschliche Leben die komplexeste Form der Schöpfung
ist, scheint es wahrscheinlich zu sein, dass anderswo auch Ordnung
herrscht, auch in der Welt der einfacheren Existenzen. Alles bewegt
sich in Richtung einer letztlichen Ordnung, unaufschiebbar."
In der Geschichte der Menschheit stiegen immer wieder Zweifel auf,
ob es eine moralische Ordnung in der Welt gibt, ob es eine moralische
Ordnung in der Geschichte gibt. Die Erfahrungen jener Generationen,
die im Laufe des 20. Jahrhunderts im Karpatenbecken aufwuchsen,
haben ausnahmslos diesen Zweifel gestärkt.
Darum betrachten wir die Öffnung der Grenze als Scheidelinie in
der Geschichte der ungarischen Nation und von ganz Europa. Nach
all den langen Jahrzehnten des Kalten Krieges haben Millionen erlebt,
dass es am Ende - dank der Vorsehung - immer die Wahrheit ist, die
die Oberhand gewinnt. Weil da verbirgt sich auch Absicht hinter
der Ordnung.
Darum ist der Jahrestag der Öffnung dieser Grenzen ein Feiertag
für die mitteleuropäischen Nationen, darum ist dies ein Feiertag
der freudigen Erinnerung.
Wir Ungarn glauben fest daran, dass es auch in der Zukunft nicht
anders wird: durch die natürliche Ordnung der Geschichte wird Europa
wieder vollständig.
|