Schon 1844 konnte
man bei Gobineau die Weissagung lesen: "Wir wären keineswegs
überrascht, wenn die Nachwelt in ihm später einmal den Inbegriff
des Romanschriftstellers sehen sollte". Diese Voraussage
hat sich bewahrheitet. Balzac, der zeitlebens von seiner Leserschaft
mehr geschätzt wurde als von der Kritik geachtet, kam nach seinem
Tode der Siegeszug des literarischen "Realismus" zugute.
Wenn Champfleury ihn mit Homer verglich, dann tat er es, weil beide
große "Naturalisten" ihrer Epoche gewesen seien. Herold
der Moderne! Baudelaire war da schon klarsichtiger: "Denn
die Helden der Ilias reichen Euch nur bis zum Knöchel, oh Vautrin,
Rastignac und Birotteau!", wobei er bekundete, wie oft er
darüber habe staunen müssen, "daß Balzacs
Ruhm darin bestanden haben soll, als ein Beobachter zu gelten; mir
war es stets vorgekommen, als läge sein hauptsächliches
Verdienst darin, Visionär zu sein, ein leidenschaftlicher Visionär"
(Die romantische Kunst). Zola seinerseits bedauerte, daß
"die genaue Zeichnung der menschlichen Natur" in
der Menschlichen Komödie zu oft von einer "ausschweifenden
Phantasie" in den Hintergrund gedrängt wurde.
Im 20. Jahrhundert
galt Balzac zuerst als ein genialer Beobachter der frühkapitalistischen
Gesellschaft, so daß sein Werk, das - wie es im Vorwort
zur Menschlichen Komödie heißt - "im
Schein der beiden Ewigen Wahrheiten der Religion und der Monarchie"
geschrieben worden war, marxistisch orientierten Literaturwissenschaftlern
(Georg Lukacs, André Wurmser, Pierre Barbéris) gar
als die hellsichtigste Analyse der Funktionsweise eines Wirtschaftssystems
erschien, in dem die Selbstsucht, die nur in der Ausbeutung anderer
befriedigt werden konnte, Triumphe feierte. Den Anwälten des
Nouveau Roman diente der Balzacsche Roman in den 50er Jahren allzu
häufig als Sündenbock, sei es, weil man in ihm einen Vertreter
"überkommener Konzepte" wie der Figuren oder
der Handlung (Robbe-Grillet) vermutete, sei es, weil man seinen
Beschreibungen gegenüber den Dialogen oder den Verhaltensbeobachtungen
Redundanz vorwarf (Ricardou). Was wurde hier nicht alles über
die Allwissenheit des Erzählers geschrieben, des Symbols der
traditionellen Romankonventionen, wo sich doch innerhalb der Erzählstränge
der Menschlichen Komödie, die abgesehen davon
eine interessante Formenvielfalt bietet (Briefromane wie z.B. die
Erinnerungen junger Eheleute, Romane in der ersten Person
wie die Lilie im Tal), die Erzählstandpunkte
abwechseln! Angesichts der "Lexika", die seinen fiktiven
Figuren gewidmet wurden und der semiotischen Studien (S/Z von Barthes,
1970), die sich mit ihm befassen, ist Balzac, der von einem seiner
besten Biographen, André Maurois, den Beinamen Prometheus
erhalten hatte, schlicht die Verwirklichung des Traumes eines jeden
ehrgeizigen Romanschriftstellers gelungen, nämlich die Illusion
zu erzeugen, daß, was er erfindet, wahr ist, und damit die
fähigsten Kritiker zu der Analyse herauszufordern, wie er das
denn bewerkstelligt habe. Deswegen ist Balzac auch einer der Autoren,
die am häufigsten sowohl für das Kino als auch für
das Fernsehen verfilmt werden.
Seit den Jahren
1949/50, in denen nacheinander der 150. Jahrestag seiner Geburt
und sein 100. Todestag begangen wurden, hat die Forschungstätigkeit
zu Balzac einen kräftigen Aufschwung erlebt, der sich in der
Gründung von Zeitschriften wie Le Courrier balzacien
(Dez. 1948), Les Études balzaciennes (1951) et L'Année
balzacienne (1960) niedergeschlagen hat, aber auch in einer
neuen, 12bändigen, von Pierre-Georges Castex besorgten Ausgabe
der Menschlichen Komödie in der "Bibliothèque
de la Pléiade" (1976 à 1981) und in den zwei Bänden
vermischter Schriften (uvres diverses 1990 und 1996).
Unterdessen hat Roger Pierrot die monumentale Herausgabe der Balzacschen
Briefschaft zu Ende gebracht (Correspondance, 1960
bis 1969, 5 Bde), sowie der gesamten Korrespondenz mit Madame Hanska
(Lettres à Madame Hanska, 1967 und 1971, 4
Bde). Die Feierlichkeiten aus Anlaß des 200. Jahrestages seiner
Geburt - vor allem auch mit dem Fernsehfilm Balzac unter
der Regie von Josée Dayan und mit Gérard Depardieu
in der Titelrolle - haben die Vitalität eines leidenschaflich
bewunderten Werkes und Schriftstellers unter Beweis gestellt.
Eigene
Übersetzung des Forum
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