Auch wenn
die beiden Künstler sich sonst in allen wesentlichen Punkten
voneinander unterschieden, ist auch Balzac ähnlich wie Goethe
Teil der europäischen Kultur. Bereits zu seinen Lebzeiten war
er einer der berühmtesten Schriftsteller Europas. Zwar hat
er Goethe nicht persönlich kennengelernt, doch hat dieser manche
seiner Werke gelesen, darunter auch seinen Roman Chagrinleder, den
er in seinem Tagebuch als "vortreffliches Werk neuster Art" und
als "Produkt eines ganz vorzüglichen Geistes" bezeichnet hat
(10./12. Okt. 1831). Dieses Lob ist umso überraschender als
Goethe den Schriftstellern seiner Zeit eher zurückhaltend gegenüber
stand.
Das
Deutsch-Französische Forum möchte im Anschluß an
die Jubiläumsfeiern der letzten Monate noch einmal die Aufmerksamkeit
auf diesen herausragenden Schriftsteller lenken, dessen kraftvoller
Charakter ein mächtiges Werk geschaffen hat. Wir verfolgen
mit diesem Ziel keineswegs die Absicht, den Schriftsteller und sein
Werk in all seinen vielfältigen Facetten darzustellen, sondern
möchten einfach einige der Aspekte hervorheben, die uns als
kennzeichnend erschienen bzw. die unser persönliches Interesse
geweckt haben.
Victor HUGO
Es ist hier
nicht der Ort, um im Einzelnen auszuführen, was dieser glänzende
und überragende Geist war. All seine Bücher bilden ein
einziges, lebendiges, hell strahlendes, tief schürfendes Buch,
in dem man unsere gesamte Zivilisation verfolgt, wie sie kommt und
geht, wie sie vorwärtsstrebt und sich bewegt mit unbestimmbarem
Schrecken und Schrecknis, das dem Wirklichen beigemischt ist; ein
wundervolles Buch, das der Dichter Komödie betitelt hat, das
er aber auch Geschichte hätte nennen können; ein Buch,
das alle Formen und Stile annimmt, das Tacitus übertrifft und
das an Sueton heranreicht, ein Buch, das Beaumarchais durchstreift
und bis zu Rabelais führt; ein Buch der Beobachtung und der
Phantasie, das von Wahrem, Intimem, Bürgerlichem, Alltäglichem
und Materiellem durchdrungen ist
Ob er will oder nicht, ob
ihm das recht ist oder nicht, der Autor dieses riesigen und fremdartigen
Werkes hat, ohne es zu wissen, die Kraft revolutionärer Schriftsteller.
Balzac geht geradewegs aufs Ziel zu: er packt sich die moderne Gesellschaft;
allen entreißt er etwas, den einen ihre Illusionen, den anderen
die Hoffnung, jenen einen Schrei, diesen ihre Maske. Er erforscht
und taucht ab in den Menschen, in die Seele, das Herz, das Hirn,
und dank eines Zuges seines kraftvollen und unbändigen Charakters
macht er sich lächelnd und heiter frei von diesen gefährlichen
Studien, die bei Molière zur Melancholie, bei Rousseau zur
Misanthropie führten.
Charles BAUDELAIRE
Wenn Balzac
diese niedere Gattung [den Roman] zu etwas Bewundernswertem, zu
etwas stets Interessantem und oftmals Erhabenem gemacht hat, dann
weil er mit seinem gesamten (Da)Sein daran beteiligt war. Wie oft
habe ich darüber gestaunt, daß Balzacs Ruhm darin bestanden
haben soll, als ein Beobachter zu gelten; mir war es stets vorgekommen,
als läge sein hauptsächliches Verdienst darin, Visionär
zu sein, ein leidenschaftlicher Visionär. All seine Figuren
sind mit einer Lebensgier begabt, von der auch er beseelt war. All
seine Erfindungen sind von ebenso tiefer Farbkraft wie Träume.
Von den Höhen der Aristokratie bis herab in die Gosse des Gesindels
giert es alle Akteure der Komödie nach Leben, sie sind tätiger
und gerissener im Kampf, geduldiger im Unglück, im Vergnügen
geifernder und in der Hingabe engelsruhiger, als sie uns die Komödie
der wirklichen Welt zeigt. Kurzum: bei Balzac ist jeder mit Genie
begabt, selbst die Pförtner. Jede Seele ist eine willensgeladene,
scharfe Waffe. Ganz wie Balzac selbst. Und weil sich all die Wesen
der Außenwelt seinem geistigen Auge mit mächtigem Relief
und ergreifendem Ausdruck darboten, hat er seine Gestalten verzerrt.
Ihre Schatten hat er verdüstert und erleuchtet ihre Klarheit.
Seine ausgeprägte Vorliebe fürs Detail, die mit dem maßlosen
Ehrgeiz in Zusammenhang steht, alles sehen, alles darstellen, alles
erfassen und alles erfassen lassen zu wollen, nötigte ihn denn
auch dazu, die Hauptlinien stärker zu zeichnen, um die Gesamtsicht
zu gewährleisten. Manchmal erinnert er mich an jene Kupferstecher,
denen der Ätzgrund nie tief genug sein kann und die die wichtigsten
Ritzlinien auf der Kupferplatte zu Gräben vertiefen. Aus dieser
erstaunlichen, natürlichen Veranlagung sind wahre Wunderwerke
hervorgegangen. Doch wird diese Veranlagung gewöhnlich als
Fehler Balzacs bezeichnet. Um es besser auszudrücken: gerade
darin bestehen seine Qualitäten. Wer dürfte sich rühmen,
mit einem solchen glücklichen Talent gesegnet zu sein und eine
Methode nicht anwenden zu können, mit der sich reine Trivialität
ausnahmslos in Licht und Purpur kleiden läßt? Wer könnte
dies? Wer gerade das nicht tut, tut eigentlich nicht eben viel.
Hugo von HOFMANNSTHAL
Hier ist eine
Welt, wimmelnd von Gestalten. Es ist keine darunter, die so gewaltig
empfangen, so vollständig in sich selber, gelöst von ihrem
Hintergrund, für sich allein zu bestehen vermöchte, in
der unvergänglichen Vollständigkeit ihrer Geste, wie Don
Quixote, wie der König Lear, wie Odysseus. Die Materie ist
brüchiger, die Vision ist nicht von so strahlender Klarheit,
dass Gestalten aus ihr hervorgehen könnten, so modelliert im
reinsten, stärksten Licht, wie der Homerische Achilles, wie
Nausikaa, oder im zartesten Halblicht, wie Mignon und Ottilie. Alles
hängt zusammen, alles bedingt sich. Es ist bei ihm so unmöglich,
das Einzelne herauszulösen, wie aus einem Gemälde von
Rembrandt oder von Delacroix. Hier wie dort liegt das Grossartige
in einem stupenden Reichtum der Tonwerte, der ab und auf, infinis
modis, wie die Natur selber, eine lückenlose Skala ergibt.
Jene Gestalten dort scheinen gelöste schreitende Götter:
wie sie entstanden sein mögen, ist undurchdringliches Geheimnis;
diese sind einzelne Noten einer titanischen Symphonie. Ihre Entstehung
scheint uns begreiflicher, wir glauben in unserem Blut die Elemente
zu tragen, aus denen ihre finsteren Herzen gebildet sind, und mit
der Luft der grossen Städte sie einzusaugen.
Aber auch hier
waltet ein Letztes, Höheres. Wie die Skala von Finsternis zur
Helligkeit auf einem Rembrandt nur darin dem irdischen Licht und
der irdischen Finsternis gleicht, dass sie lückenlos, überzeugend,
absolut richtig ist: aber darüber hinaus ein Namenloses in
ihr wirksam ist, das Walten einer grossen Seele, die in jenen Visionen
selber sich einem höchsten Wesen hingibt, so vibriert hier
in den Myriaden kleiner Züge, mit denen eine wimmelnde Welt
hingemalt ist, ein kaum zu nennendes Letztes: die Plastik dieser
Welt geht bis zum Überschweren, ihre Finsternis bis zum Nihilismus,
die Weltlichkeit in der Behandlung bis zum Zynischen: aber die Farben,
mit denen dies gemalt ist, sind rein. Mit nicht reinerem Pinsel
ist ein Engelschor des Fra Angelico gemalt als die Figuren in Cousine
Bette. Diesen Farben, den eigentlichen Grundelementen des Seelischen,
haftet nichts Trübes an, nichts Kränkelndes, nichts Blasphemisches,
nicht Niedriges. Sie sind unerweislich, von keinem bösen Hauch
zu kränken. Eine absolute Freudigkeit vibriert in ihnen, die
unberührt ist von der Finsternis des Themas, wie die göttliche
Freudigkeit der Töne in einer Beethovenschen Symphonie in keinem
Moment von der Furchtbarkeit des musikalischen Ausdrucks verstört
werden kann.
Stefan ZWEIG
Nicht umsonst
hat Balzac die Chemie geliebt, die Werke Cuviers, Lavoisiers studiert.
Denn in diesem vielfältigen Prozess der Aktionen und Reaktionen,
der Affinitäten, der Abstossungen und Anziehungen, Ausscheidungen
und Gliederungen, Zersetzungen und Kristallisierungen, in der atomhaften
Vereinfachung des Zusammensetzens schien ihm deutlicher als anderswo
das Bild der sozialen Zusammensetzung gespiegelt zu sein. Dass jedes
Individuum ein Produkt sei, geformt von Klima, Milieu, Sitten, Zufall,
von all dem, was schicksalsträchtig an ihm rührt, dass
jedes Individuum seine Wesenheit aus einer Atmosphäre sauge,
um selbst wieder eine neue Atmosphäre zu entstrahlen - dieses
universelle Bedingtsein von In- und Umwelt war ihm Axiom. Und diesen
Abdruck des Organischen im Unorganischen, und die Griffspuren des
Lebendigen im Begrifflichen wieder, diese Summierung eines momentanen
geistigen Besitzes im sozialen Wesen, die Produkte ganzer Epochen
aufzuzeichnen, schien ihm höchste Aufgabe des Künstlers.
Alles fliesst ineinander, alle Kräfte sind in Schwebe und keine
frei.
Ein so begrenzter
Relativismus hat jede Kontinuität, selbst die des Charakters
geleugnet. Balzac hat seine Menschen immer an den Ereignissen sich
formen lassen, sich modellieren wie Ton in der Hand des Schicksals.
Selbst die Namen seiner Menschen umspannen einen Wandel und kein
Einheitliches. Durch zwanzig der Bücher Balzacs geht der Baron
von Rastignac, Pair von Frankreich. Man glaubt ihn schon zu kennen,
von der Strasse her, oder vom Salon, oder von der Zeitung, diesen
rücksichtslosen Arrivierten, diesen Prototyp eines brutalen
pariserischen unbarmherzigen Strebers, der aalglatt durch alle Schlupfwinkel
der Gesetze sich durchdrückt und die Moral einer verkommenen
Gesellschaft meisterhaft verkörpert. Aber da ist ein Buch,
in dem lebt auch ein Rastignac, der junge arme Edelmann, den seine
Eltern nach Paris schicken mit viel Hoffnungen und wenig Geld, ein
weicher, sanfter, bescheidener, sentimentaler Charakter. Und das
Buch erzählt, wie er in die Pension Vauquer gerät, in
jenen Hexenkessel von Gestalten, in eine jener genialen Verkürzungen,
wo Balzac in vier schlecht tapezierte Wände die ganze Lebensvielfalt
der Temperamente und Charaktere einschliesst, und hier sieht er
die Tragödie des ungekannten König Lear, des Vaters Goriot,
sieht, wie die Flitterprinzessinnen des Faubourg Saint Germain gierig
den alten Vater bestehlen, sieht alle Niedertracht der Gesellschaft,
gelöst in eine Tragödie.
Und da, wie
er endlich dem Sarge des allzu Gütigen folgt, allein mit einem
Hausknecht und einer Magd, wie er in zorniger Stunde Paris schmutziggelb
und trüb wie ein böses Geschwür von den Höhen
des Père-Lachaise zu seinen Füssen sieht, da weiss er
alle Weisheit des Lebens. In diesem Moment hört er die Stimme
Vautrins, des Sträflings, in seinem Ohr aufklingen, seine Lehre,
dass man Menschen wie Postpferde behandeln müsse, sie vor seinem
Wagen hetzen und dann krepieren lassen am Ziel, in dieser Sekunde
wird er der Baron von Rastignac der anderen Bücher, der rücksichtslose,
unerbittliche Streber, der Pair von Paris.
Und diese Sekunde
am Kreuzweg des Lebens erleben alle Helden Balzacs. Sie alle werden
Soldaten im Kriege aller gegen alle, jeder stürmt vorwärts,
über die Leiche des einen geht der Weg des andern. Dass jeder
seinen Rubikon, sein Waterloo hat, dass die Gleichen Schlachten
sich in Paläste, Hütten und Tavernen liefern, zeigt Balzac,
und dass unter den abgerissenen Kleidern, Priester, Ärzte,
Soldaten, Advokaten die gleichen Triebe bekunden, das weiss sein
Vautrin, der Anarchist, der die Rollen aller spielt und in zehn
Verkleidungen in den Büchern Balzacs auftritt, immer aber derselbe
und bewusst derselbe. Unter der nivellierten Oberfläche des
modernen Lebens wühlen die Kämpfe unterirdisch weiter.
Denn der äusseren Egalisierung wirkt der innere Ehrgeiz entgegen.
Da keinem ein Platz reserviert ist wie einst dem König, dem
Adel, den Priestern, da jeder ein Anrecht auf alle hat, so verzehnfacht
sich ihre Anspannung. Die Verkleinerung der Möglichkeiten äussert
sich im Leben als Verdoppelung der Energie.
Gerade dieser
mörderische und selbstmörderische Kampf der Energien ist
es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck
des bewussten Lebenswillen ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder
böse, wirkungskräftig oder verschwendet bleibt, ist ihm
gleichgültig, sobald sie nur intensiv wird. Intensität,
Wille ist alles, weil dies dem Menschen gehört, Erfolg und
Ruhm nichts, denn ihn bestimmt der Zufall.
Michel BUTOR
Das Prinzip
der wiederkehrenden Figuren ist also zuerst ein Prinzip der Sparsamkeit,
aber seine Konsequenzen werden die Natur der narrativen Arbeit selbst
verändern. Jedes einzelne Werk wird sich zu anderen Werken
hin öffnen, die Figuren, die in diesem oder jenem Roman auftauchen,
sind darin nicht gefangen, sie verweisen auf andere Romane, in denen
wir zusätzliche Informationen über sie finden. In jedem
einzelnen Baustein dieses Ganzen wird uns in bezug auf diese oder
jene Figur lediglich mitgeteilt, was an Kenntnissen für ein
oberflächliches Verständnis der vorliegenden Handlung
unabdingbar ist; dank der Lektüre der anderen Bücher,
in denen eben jene Figuren auftauchen, haben wir allerdings die
Möglichkeit, weiterzugehen, so daß sich Aufbau und Tragweite
dieses oder jenes isolierten Romans ändert, je nach dem wie
viele andere Romane wir gelesen haben; eine Geschichte, die uns
bei unserer ersten Lektüre, als wir von der Balzacschen Welt
noch nichts wußten, linear und ein wenig simpel erschienen
war, erweist sich später als Schnittstelle eines ganzen Bündels
von Themen, die bereits anderswo vertieft worden waren. Folglich
stehen wir vor einer Reihe von Facetten, die miteinander verbunden
sind und zwischen denen wir uns ergehen können. Es handelt
sich um das, was man ein narratives "Mobile" nennen könnte,
um ein aus einer bestimmten Anzahl von Teilen bestehendes Ganzes,
dem wir uns fast in der uns gefälligsten Reihenfolge nähern
können. Jeder Leser durchschreitet das Universum der Menschlichen
Komödie auf einem je anderen Wege. Es ist wie eine Sphäre
oder eine Umgrenzung mit vielen Türen.
Eigene Übersetzung des Forum
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