Frankreich ist
stärker als irgendeines seiner Nachbarländer auf Geburts- und Jahrestage
fixiert; daher interessiert man sich für seine Autoren nur zu festen
Daten. Was nun Balzac angeht, bietet das die Gelegenheit, eine Balance
wiederherzustellen, die aus dem Lot geraten ist. Wenn grosse Schriftsteller
zu einer fixen Vorstellung mumifiziert sind, entfernt sie das von
uns, vor allem wenn diese Vorstellung falsch, dafür aber um so hartnäckiger
und widerstandsfähiger ist.
Nehmen wir zum Beispiel die jüngst erschienene kritische Balzac-Ausgabe
in zwölf Bänden in der renommierten Pléiade bei Gallimard. Sämtliche
Einführungen stellen an jeden der Romane, jede der Erzählungen stereotyp
nur eine einzige Frage, nämlich: Welche reale Person hat für Balzac
Modell gestanden? Diese Frage wird bis zur Lächerlichkeit breitgetreten
(in Sachen Lebewohl, einer der verblüffendsten phantastischen Erzählungen,
wird angenommen, Balzac müsse in seiner Jugend einer Verrückten
begegnet sein, die in weissem Hemd durch den Wald rannte), und zugleich
werden alle wesentlichen zeitgenössischen Quellen, die die Menschliche
Komödie nicht nur als Kopie der Wirklichkeit, sondern als literarische
Kopie sehen und so die Verbindung zu Balzac lebendig erhalten, sorgsamst
ausser Acht gelassen.
Diese Quellen sind Maurice Blanchot, Julien Gracq, auf deutsch Ernst
Robert Curtius und Walter Benjamin, und schliesslich, zentral, Marcel
Proust, da Balzac für die Genese von „Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit" von entscheidender Bedeutung war. Lucien Dällenbach ist es
zu verdanken, dass er vor drei Jahren in La canne de Balzac (Balzacs
Gehstock) diese bereits angestaubten Karten neu gemischt hat.
Sind es nur interne Querelen der kleinen literarischen Szene? Es
geht um mehr, da sich die Frage nach der Beschreibung der Welt stellt,
nach demjenigen, was es zu durchdringen gilt, wenn die Wandlungen
der Realität wieder einmal unser unmittelbares Universum an einen
Ort verschoben haben, an dem das bekannte Inventar der Repräsentationen
nicht mehr greift, da sich die Frage stellt, was nach diesem Sprung,
bei dem die Phantasie das Kommando innehat, an Obskurem mit dem
Zurückgelassenen Verbundenem, bleibt und jetzt das neue Terrain
modelliert wie Wellen auf einer Flüssigkeit.
Wahrscheinlich erlauben nur Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend
eine so weitgehende innere Anverwandlung eines Autors, dass man
ihn später in allen Unwettern verteidigt. Bei mir ist die Sache
klar, alles entstand durch einen Konflikt mit meinen Eltern. Meine
Freunde arbeiteten während der Sommerferien in einer Landwirtschaftskooperative,
um sich ein wenig Taschengeld zu verdienen, aber ich musste mit
meiner Familie an die Küste, in die Gegend von Arcachon. Also hatte
ich meinen Grossvater gebeten, seine grosse Balzac-Ausgabe in achtzehn
grossen Bänden aus dem Vitrinenschrank zu nehmen und in einen Karton
zu packen. Woher er selber sie hatte, ob er sie überhaupt ganz gelesen
hatte - ich kam erst auf diese Fragen, als es zu spät war. Drei
Wochen lang schloss ich mich mit den Bänden in eine Zimmer ein,
und das war das Wunder: Die Literatur ersetzt mir die reale Welt.
Ein Wunder, weil es nicht rational fassbar war, sondern einem komplexen
Phänomen entsprang, einer Mischung von Fixierung, Suggestion, Unvollständigkeit.
Aus Suggestion, da die Geschichte unserer französischen Prosa von
Rabelais bis Marcel Proust ein ununterbrochener Weg hin zur unmittelbaren
Gegenwart ist, die Bereicherung von Sprache mit Möglichkeiten, die
Welt zu benennen, über die sie bisher nicht verfügte. Und hier beschreitet
Balzac eine entscheidende Etappe mit seiner gedrungenen Gestalt
(ein kurzer, dicker Hals, sagte er, sei vorteilhaft, da die Ideen
weniger lang brauchten, um vom Hirn in die Hand zu gelangen). Ich
erinnere mich an die Wildgräser an der Gartenpforte in Eugénie Grandet.
Ich erinnere mich, als wäre ich selber durch den Flur gegangen,
an das Licht im alten Haus von Guérande in Beatrix oder die erzwungene
Liebe. Und ebenso an die Stimme des alten Druckers und an seine
Maschinen in Verlorene Illusionen.
Fixierung und Unvollständigkeit, da die scheinbare Kontinuität vom
einen Buch zum anderen in Wirklichkeit das Gegenteil von Vollständigkeit
bewirkt: Man weiss von einer Figur nur, was im Buch über sie steht.
Das Bild von der Figur hat einen entscheidenden Schritt in Richtung
Wirklichkeit getan, denn es wird zu einem Prisma, von dem wir nie
sicher sein können, dass es zur Gänze sichtbar wird. D'Arthez ist
mal stark, mal wird er manipuliert. Mal lenkt Gobseck das Geschehen,
mal wird ihm mitgespielt. Die erneute Wiederkehr der Figuren in
jedem Roman sorgt vor allem für Undurchschaubarkeit, für äusserst
lokal begrenztes Wissen, und darin liegt die Anziehungskraft dieser
Bücher.
Es ist ein persönlicher Glücksfall, dass ich, lange bevor mir bewusst
war, was sie bedeuten konnte, mit siebzehn Jahren drei Wochen lang
diese horizontale, ungeordnete Reise habe unternehmen können, bei
der der Übergang von einem Buch zum anderen nie wirkliche Befriedigung
verschafft, weil immer die illusionäre Hoffnung bleibt, noch ein
bisschen mehr von der Wahrheit zu erfahren, wenn man noch einen
Roman liest. Ich habe das jahrelang immer aufs neue wiederholt,
fast wie etwas Heimliches, das man in diesen von Flaubert bestimmten
Zeiten besser nicht erwähnte, in denen Balzac mit dem Etikett eines
kleinen, vulgären Fettwanstes belegt war, der unfähig sei, sich
von seinen Gegenständen und Manien zu lösen.
Einmal pro Jahr begab ich mich also - unter dem Vorwand, ein einziges
dieser Bücher wiederlesen zu wollen - drei Wochen lang erneut auf
die Irrfahrt von einem Roman der Menschlichen Komödie zum anderen,
mit Hilfe einer Gesamtausgabe, einer der ersten Erwerbungen meines
Erwachsenendaseins. Als ich schliesslich eine Bemerkung von Maurice
Blanchot über Balzac las - „... eine Reihe von stetig, ohne Ende,
mit einer Geschwindigkeit, die von der Verwicklung der Handlungsfäden
immer stärker aufgehalten wird, sich fortentwickelnden Handlungssträngen,
die am Ende explosionsartig in ein Drama von erschreckender Wucht
münden, in dem nur noch die halizunatorische Kraft eines Geistes
fortbesteht, der seinen Traum als die einzige authentische Wirklichkeit
setzt" -, wurde mir klar, dass ich nicht als einziger im Besitz
dieser Erkenntnis war.
Anders als Julien Gracq, der die Beschreibung von Schauplätzen,
so in Beatrix, als die Wurzel dieser literarischen Illusion freilegt,
anders auch als Walter Benjamin, der besonders auf die Schnelligkeit
hinweist, mit der die Dinge in den Romanen Balzacs gesehen werden,
der eine Wahrnehmungsgeschwindigkeit entsprechen muss, anders als
sie glaube ich, dass jener undurchsichtige Panzer noch besteht.
Balzac selbst hat die Statue, zu der er erstarren würde, vorgegeben,
da er die Komödie einem architektonischen Prinzip folgend anlegte
- zunächst mit der Absicht, Schlag auf Schlag neue Ausgaben in den
Handel bringen zu können -, in dem die Etudes philosophiques eine
Art Schlussstein darstellen und eine irreale Perspektive schaffen.
Die jüngsten akademischen Arbeiten (beispielsweise von Stéphane
Vachon) dazu solide, demystifizierende Biographien (die 1994 erschienene
von Roger Pierrot ist fraglos die beste) haben unseren Blick neu
orientiert, indem sie ihn auf das Kraftfeld der inneren Anlage der
Menschlichen Komödie lenkten.
Mit Hilfe des Phantastischen nämlich, nicht des Realen, hat Balzac
seine Bestrebungen verfolgt, die reale Welt durch eine erfundene
zu ersetzen. Erst die phantastische Erzählung Das Chagrinleder wird
den grossen Durchbuch des jungen Autors rechtfertigen, in dem er
etwas Reales geschildert hatte (die grosse Eingangsszene mit Antiquitätengeschäft
und Spielsalon, die Baudelaire selber als Wurzel seines Schreibens
über die Moderne benannte). Zwischen dreissig und vierunddreissig
Jahren schuf Balzac eine ganze Reihe von knappen Skizzen (der Begriff
„Novelle" würde ihnen nicht gerecht, denn diese Mäander sind ebenso
kraftvoll wie die Romane, sind wie deren blossgelegte Mechanik),
an denen sich die Etappen seiner schnellen Weiterentwicklung ablesen
lassen; heute wirken sie um so innovativer auf uns, als ihre Struktur
und jeder Schritt in der Entstehung einer neuen Realität von der
Funktionsweise der Phantasie selbst bestimmt wird. Diese Erzählungen
sind auch aus dem Grund besonders aufschlussreich, dass Balzac sie
für jede neue Ausgabe teilweise umschrieb und immer präziser werden
liess. Man denke etwa an die Geschichte der Dreizehn, an Lebewohl
oder an Louis Lambert.
Dennoch geht es mir hier nicht darum, eine chronologische Lektüre
vorzuschlagen, das ergäbe eine blasse Karikatur der grossen literarischen
Stadt, die die Menschliche Komödie ist, sondern ich möchte schlicht
anregen, sich willentlich in der Topographie zu verlaufen, im Wissen,
dass die später kommenden Gebirgsmassive, die grossen Romanmaschinen,
nicht so fraglos in der Hierarchie über diesen kurzen Seltsamkeiten
stehen, über Die grosse Bretèche, Honorine, Ein Drama am Meeresstrand
oder über den gespensterhaften Künstlerfiguren, Mittelsmännern des
Autors, in Das unbekannte Meisterwerk, Gambarra oder Sarrasine.
Wer einen Spaziergang auf gut Glück wagt, quer durch diese Stadt,
wird dem, was Balzac so faszinierend macht, unvermittelt viel näherkommen:
Nicht die Kunst der Realität, sei diese nun übertragen oder rekonstruiert,
sondern die Erfindung der Literatur mit Hilfe der dunkelsten Schichten
der Wirklichkeit, mit Hilfe derjenigen von ihren Anteilen, die noch
nicht aus der Wirklichkeit heraus ins Darstellende gekippt sind;
eine Literatur, die diese Anteile als erste zu fassen bekommt, gewinnt
aus ihnen eine enorme suggestive, ja halluzinatorische Kraft. Es
gibt einen Balzac, den es immer noch zu entdecken und zu erkunden
gilt, der uns eine noch heute faszinierende Lektüre erlaubt, bei
der wir immer wieder aufs neue von einem Buch in das nächste verwiesen
werden; einen Balzac, der uns in seiner erfundenen Welt gefangen
nimmt, im Traum aller Literatur, ganz wie jene alten chinesischen
Maler, die sich selber von hinten auf ihren Bilder zeigen, wie sie
in den Bildhintergrund wandern, immer tiefer in die von ihnen geschaffene
Landschaft hinein. Traduction : H. Schmidt-Henkel
Eigene
Übersetzung des Forum
Veröffentlichungen
- La méthode de Tramelan, chemins et propositions pour l'atelier
d'écriture -à paraître en septembre 2000 .
- Impatience - Ed. de Minuit, 1998.
- Dehors est la ville - Flohic "Musées Secrets", 1998.
- L'enterrement - rééd. Gallimard "Folio" 98.
- Le crime de Buzon - Ed. de Minuit, 1986.
- Limite - Ed. de Minuit, 1985.
- Sortie d'usine - Ed. de Minuit, 1982.
Veröffentlichungen auf deutsch
- Manholt Verlag, Bremen et Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt.
: Sortie d'usine, Limite, Le crime de Buzon, l'Enterrement. http://www.fbon.fr.fm
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