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• Sprachen im Wandel
Monsieur Petit Robert, der französische Sprachwissenschaftler und Wörterbuchautor Alain Rey, zeigt uns hier die verschiedenen Facetten der modernen Entwicklung der französischen Sprache, die vor allem in diversen Einflussfaktoren des Englischen, Italienischen und Deutschen zutage tritt. Außerdem vollziehen sich sprachinterne Vereinfachungsprozesse, die vor allem in seinem Alltagsgebrauch in den französischen Vorstädten und auf dem Land zu beobachten sind. Diese unterschiedlichen Sprachformen verweisen auf eine soziolinguistische Realität, die sich aus mehreren Varietäten des Französischen zusammensetzt. Die Schule, die zu einem einheitlichen Sprachstandard erzieht, ist von dieser Realität als allererste betroffen, wobei dieses Phänomen natürlich nicht allein in Frankreich anzutreffen ist.
Darüber hinaus bietet uns Alain Rey einen Einblick in die lexikographischen Arbeitsmethoden. Das von ihm geleitete Wörterbuch bilde eine Art Observatorium des Gegenwartsfranzösischen, auch wenn seine Arbeit darin besteht, die versunkene Zeit über die Wörter neu zu beleben.
© 2001
Alain REY - Verantwortlicher Leiter des Wörterbuchs
Le Petit Robert


Deutsch-Französisches Forum: In welcher Beziehung stehen die französische, deutsche und englische Sprache zueinander und worin bestanden und bestehen noch die wechselseitigen Einflüsse?

Alain Rey: Europa besteht aus mehreren Sprachfamilien. Die beiden grundlegenden Gruppen sind zum einen die germanische und zum anderen die romanische Sprachfamilie. Die zu dieser Familie gehörenden Sprachen prägen weitestgehend den westlichen Teil Europas. Man stößt hier und da auf Spuren alter Sprachen wie dem Keltischen z.B. oder noch weiter zurückgehender Sprachen wie dem immer noch gesprochenen Baskischen. In dem östlichen Teil Europas sind auch die slawischen Sprachen beheimatet. Trotzdem ist aber eine deutliche Mehrheit der europäischen Sprachen entweder germanischen oder lateinischen Ursprungs. Ungeachtet dieser Unterscheidung kam es zwischen den Sprachen grundverschiedenen Ursprungs zu Wechselbeziehungen. Der Wortschatz des Englischen besteht beispielsweise zu mehr als 50% aus lateinisch- und insbesondere französischstämmigen Wörtern.

Das Verhältnis zwischen den diversen benachbarten Sprachgemeinschaften, die ständige Austauschbeziehungen politischer, wirtschaftlicher oder zu manchen Zeiten auch gespannter Natur unterhalten, ist ausgesprochen eng. Durch die gängigen Wortentlehnungen üben sie nämlich einen klar erkennbaren, wechselseitigen Einfluss aufeinander aus. Weniger deutlich ist der Einfluss durch die Ausdrücke von Begriffen und Konzepten. Die Einflüsse können sehr weitreichend sein, wenn zum Beispiel eine dieser Sprachen sich auf die Syntax, die Grammatik usw. der anderen Sprachen auswirkt.

In lexikalischer Hinsicht lässt sich sagen, dass es eine ziemlich überraschende Parallele zwischen der französischen und der englischen Sprache gibt. Es handelt sich dabei um Hybridsprachen, die sich ursprünglich aus zahlreichen Dialekten zusammensetzten, welche sich dann parallel zu dem Ausbau der Zentralgewalt und der Wirtschaftsmacht zu einer Einheitssprache zusammengeschlossen haben: Die Bedeutung von London und Paris sind in dieser Hinsicht durchaus miteinander vergleichbar. Die beiden Sprachen sind seit dem ausgehenden Mittelalter und dem Ende des Feudalzeitalters zentralisiert.

Die deutsche Sprache befindet sich in einer ganz anderen Lage. In Deutschland werden nämlich die Dialekte vor allem aufgrund eines verspäteten Einigungsprozesses (im ausgehenden 19. Jahrhundert), der ausgeprägten Identität der unterschiedlichen Länder und der föderalen Organisationsform, die es später angenommen hat, immer noch praktiziert. Der Föderalismus entspricht gerade dieser Dialektvielfalt und unterscheidet sich von dem Prinzip, das dem englischen oder auch dem noch ausgeprägteren französischen Zentralismus zugrunde liegt. Außerdem ist die Festsetzung einer Gemeinsprache in den deutschsprachigen germanischen Ländern weitestgehend eine Folge der Renaissance, genauer gesagt: des von religiösem Denken, vor allem im Gefolge Luthers ausgehenden Einflusses. Natürlich hat in England der Anglikanismus und der offizielle Bruch mit Rom weder in soziologischer noch kultureller oder sprachlicher Hinsicht dieselben Auswirkungen gehabt wie in Deutschland. In Deutschland konnte infolge des Einflusses von Luther und der Bibelübersetzung im selben Zeitraum eine Varietät des Deutschen Verbindlichkeit erlangen, die im Folgenden als das literarische Deutsch betrachtet wurde, ähnlich wie es auch für das Italienische Dantes zwei Jahrhunderte früher der Fall war.

Es ließen sich mehr Vergleichspunkte aufzeigen zwischen dem Deutschen und dem Italienischen als zwischen der deutschen Sprache einerseits und der englischen, französischen oder auch spanischen Sprache andererseits, die ebenfalls frühzeitig zentralisiert wurde. Die Lage einer jeden Sprache hängt somit also von der Bestimmung einer einheitlichen Verkehrssprache ab, die wiederum auf politische Machtstrukturen zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus hängt sie allerdings meines Erachtens auch von einer bestimmten Vorstellung der Sprache als einem ästhetischen Ausdrucksmittel ab. Die Existenz einer einheitlichen Verkehrssprache in einem Umfeld, das von jeher - zumindest in der Geschichte Europas - ein dialektales Umfeld war, hängt einerseits von einer bestimmten Konzeption der Literatursprache und andererseits von einer bestimmten Vorstellung der Machtausübung durch Sprache zusammen. Wenn diese beiden Faktoren zusammenfallen, erhält man eine neue Sprache. Für das Italienische hat der ausschließlich bestehende literarische Faktor nicht ausgereicht. Es bedurfte schon der politischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, damit sich das Gefühl politischer Einheit dazu gesellt, das schließlich nach und nach zu dem Sieg des Italienischen über die Dialekte geführt hat.

Im Englischen und Französischen kam dieses Phänomen im ausgehenden Mittelalter zum Abschluss, im Deutschen im Zuge der Renaissance wegen des kulturellen Unabhängigkeitsgefühls im Zusammenhang mit der Reformation und auch wegen der erstmalig sich herausbildenden Ideen, die eine politische Einheit in Aussicht stellten. Bis zu deren Umsetzung musste allerdings noch bis zum 19. Jahrhundert gewartet werden.

Die historische Ausgangslage ist damit also von grundlegender Bedeutung. Trotzdem sind die Sprachen natürlich miteinander in Kontakt. Wenn man den französischen Standpunkt des 17. Jahrhunderts betrachtet, so ist es offensichtlich, dass die englische Sprache als dem Französischen ebenbürtig angesehen wurde, vielleicht nicht unbedingt von den Sprachwissenschaftlern und den Sprachpuristen, sicherlich aber von jenen, die das Denken in Frankreich beeinflussen. Voltaire hat im Zuge des Newtonschen Denkens z.B. auch eine beträchtliche Anzahl von Anglizismen in die französische Sprache eingeführt. England stieg zu diesem Zeitpunkt nämlich zu einer Art europäischer Leitstern des naturwissenschaftlichen und politischen Denkens auf. Bei Ausbruch der Revolution im Jahre 1789 ist ein Großteil der Konzepte und Begrifflichkeiten, auf die die Abgeordneten der Konvention zurückgreifen, dem Englischen entliehen trotz ihres scheinbar französischen Erscheinungsbildes. Einige der politischen Ideen, die im übrigen von Franzosen, vor allem auch von Montesquieu theoretisch gefasst worden waren, werden im Gefolge der zu diesem Zeitpunkt in England herrschenden Gepflogenheiten in die politische Praxis des Parlamentarismus umsetzbar.

Forum: Macht sich gegenwärtig ein Einfluss des Deutschen auf das Französische oder umgekehrt bemerkbar, und wenn ja, in welchem Maße?

A. Rey: Ich habe den Eindruck, dass es sich dabei um einen ausgewogenen Einfluss handelt, insofern er weder in der einen noch in der anderen Richtung stärker ist. Er ist allerdings für den Wortschatz als Ganzen nicht grundlegend. Der statistisch stärkste Einfluss geht nämlich von dem Angloamerikanischen auf die anderen Sprachen aus. Alle europäischen Sprachen - das gilt auch für das britische Englisch - werden durch die amerikanischen Sprech- und Schreibformen beeinflusst.

Forum: In welcher Form macht sich die englische und angloamerikanische Sprache auf das Französische von heute im Einzelnen bemerkbar? Ist gar "der Tod des Französischen" zu befürchten, wie er von Claude Duneton(1) in einem kürzlich erschienenen Buch verkündet wurde?

A. Rey: Das Angloamerikanische hat einen großen Einfluss auf die französische Sprache. Eine der Stärken des Angloamerikanischen ist, dass es die Dinge nicht einfach nur bezeichnet, sondern dass sie dort auch Gestalt gewinnen. Darin besteht das eigentliche Problem. Wenn in der medizinischen Bilderstellung Fortschritte erzielt werden, dann stammen die Geräte zumeist aus Amerika und haben zuerst eine englische Bezeichnung. In diesem relativ häufig anzutreffenden Fall muss entweder auf eine Übersetzung, auf eine Entlehnung oder aber auf eine Neuschöpfung zurückgegriffen werden, was allerdings noch selten geschieht. Die verschiedenen Vorgehensweisen kommen zum Einsatz, die Fachwissenschaftler sind allerdings der Meinung, dass die Entlehnungsquote zu hoch ist. Dieser Sachverhalt lässt sich im Multimedia- und Internetbereich beobachten, wo die dominante Sprache das Angloamerikanische ist. Allerdings drängt sich die Feststellung auf, dass andere Sprachen wie Französisch, Spanisch, Deutsch, Italienisch und in gewissem Maße auch Arabisch hier zunehmend präsent sind. Im übrigen wächst die Bedeutung der genannten anderen Sprachen proportional zu der Zunahme der Netznutzung und der Internautenzahl. Nötigenfalls zeigt dieses Beispiel also, dass das Thema des Todes der französischen Sprache völlig aus der Luft gegriffen ist.

Ich glaube allerdings, dass die Ansicht, dass das Französische in seiner jetzigen Form nicht überleben wird, richtig ist. Die Behauptung dagegen, es könne sterben, erscheint mir völlig verfehlt. Bedeutet das etwa, dass die französische Sprache untergehen wird, wenn sie nicht die weltweit wichtigste Sprache ist? Ich habe den Eindruck, dass man aus dieser Argumentation einen solchen Gedanken unterschwellig herauslesen kann. Es handelt sich dabei um eine nationalistische Argumentation. Frankreich hatte es sich seit Rivarol im 18. Jahrhundert und im beginnenden 19. Jahrhundert zur Gewohnheit gemacht, seine Sprache als wichtigste Sprache der Welt zu betrachten. Genau das galt aber zu diesem Zeitpunkt bereits immer weniger. Sie war es vielleicht im 17. Jahrhundert im Anschluss an das Spanische, das im 16. Jahrhundert vorherrschend war. Danach haben England und dann die Vereinigten Staaten ihren Platz übernommen. Was bedeutet denn aber überhaupt "wichtigste Sprache der Welt"? Auch wenn das Kriterium der Sprecherzahl nicht einfach zu vernachlässigen ist, ist es sicherlich nicht die am meisten gesprochene Sprache, weil das Chinesische mehr als jede andere Sprache in der Welt gesprochen wird. Dass es sich um die einflussreichste Sprache in der Welt handelt, erscheint mir demgegenüber schon richtiger, weil das Englische es faktisch ist. Trotzdem darf man auch nicht vergessen, dass Englisch, obgleich es die weltweit am weitesten verbreitete Sprache ist, ebenfalls tiefgreifenden internen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist, so dass man sich die Frage stellen kann, ob das Englische so, wie es in Indien oder Australien gesprochen wird, in zwei Hundert Jahren noch dem Angloamerikanischen ähneln wird und ob das Anglomarikanische noch mit dem britischen Englisch vereinbar sein wird. Die deutsche Sprache ist nicht mit diesem Problem konfrontiert, weil sie mit einer gewissen Homogenität gesprochen wird. Das mag eine Einschränkung sein, es ist aber auch eine Garantie. Das Französische befindet sich demgegenüber in einer intermediären Situation.

Forum: Das Französische scheint doch aber zu jenen Sprachen zu gehören, die Anglizismen besser widerstehen als andere Sprachen wie Italienisch und Deutsch. Begriffe wie computer, software, walkman usw. wurden im Französischen zum Beispiel durch ordinateur, logiciel, baladeur etc. wiedergegeben.

A. Rey: Das stimmt. Es gibt einige Fälle eigener Wortschöpfung, die durchaus bezeichnend sind für die Widerstandsfähigkeit des Französischen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass diese Durchlässigkeit, die gegenüber anderen Sprachen weniger groß sein mag, immer noch überaus großzügig ist. Übrigens muss man aufgrund ihrer geringen Zahl fast immer dieselben Beispiele für Übertragungen ins Französische anführen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass das Französische hinsichtlich der lexikalischen Entlehnungen stark durch das Angloamerikanische beeinflusst wird.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, Anglizismen zu vermeiden, indem man beispielsweise die Wörter in Form von Lehnübersetzungen rein französischer Klanggestalt adaptiert. Wenn man das Wort site im Französischen benutzt, muss man sich nicht eigens auf das englische Wort site beziehen. Und wenn man das Wort portail benutzt, denkt man genauso wenig an den Begriff portal. Deswegen lässt sich also der Standpunkt vertreten, dass aufgrund einer solchen Form der Adaptation die Aufnahme allzu vieler Anglizismen in die französische Sprache umgangen werden kann. Diese Adaptationsform ist allerdings nur möglich, weil die englische Sprache und vor allem die didaktische, technisch-wissenschaftliche Sprache des Angloamerikanischen großenteils aus lateinisch-griechischen Wortstämmen gebildet ist, die wir also mit ihr gemeinsam haben. So können wir Entlehnungen vornehmen, ohne dass es sich im eigentlichen Sinne um Anglizismen handelt.

Ein reiner Anglizismus wird oftmals als störend empfunden, weil er nämlich einen Fremdkörper in der Zielsprache darstellt. Eine Sprache kann aber sehr wohl auch mit einer hohen Lehnwörterquote überleben. Das beste Beispiel dafür ist das Englische, das vor der Schlacht von Hastings eine rein angelsächsische Sprache war und im Anschluss daran von anglonormannischen Wörtern überschwemmt wurde, die in Wirklichkeit ein normannisch-dialektal gefärbtes Französisch waren. Später dann hat eine Vielzahl von entweder direkten oder dem Französischen entlehnten Latinismen dieser Sprache ihren Stempel aufgedrückt. Deswegen enthält der englische Wortschatz eine beträchtliche Zahl an Wörtern, die (in ihrer graphischen Form) den jeweiligen französischen Wörtern aufs Genaueste entsprechen. Der englischen Sprache wohnt also eine Charakteristik inne, wodurch die französischen Entlehnungen aus dem Englischen weniger klar zu erkennen sind. Das verhält sich bei den deutschen Entlehnungen aus dem Englischen und vor allem auch dem Angloamerikanischen etwas anders, weil man in diesem Fall eine Art Romanisierung des Deutschen beobachtet. Das Deutsche ist nämlich eine ziemlich unberührte germanische Sprache, während das Englische, das ehemalige Angelsächsische eine germanische Sprache ist, die von Anfang an stark modifiziert wurde. Das Englische ist gewissermaßen der verlorene Sohn der germanischen Sprachfamilie verglichen mit dem Schwedischen oder dem Niederländischen. Das Englische steht weit abseits des kulturellen Umfelds der germanischen Sprachen wie des Deutschen oder der alemannischen Dialekte. Die Verwandtschaft der Sprachen untereinander ist also wichtig. Dieser Faktor hat nämlich einen Einfluss darauf, wie die Übertragung von Wörtern, den Anglizismen, erfolgt. Man sollte nicht abstrakt von Anglizismen sprechen. Das innere Gleichgewicht der Sprachen ist im Französischen, Italienischen und Deutschen nicht im selben Maße gefährdet …

Forum: Auf welche Hauptfaktoren sind die Veränderungsprozesse der französischen Sprache in den letzten fünf Jahrzehnten zurückzuführen?

A. Rey: Die sprachinternen Faktoren führen die Entwicklungstrends weiter, denen das Französische auch schon im Laufe seiner Geschichte unterworfen war. Im Allgemeinen führt diese Entwicklung zu einer allmählichen Vereinfachung und damit z.B. zu einer Vereinfachung bestimmter syntaktischer Formen, einer Veränderung der Konjugation bestimmter Verben, wodurch Zeiten aufgegeben werden, deren Benutzung zu kompliziert war, sowie zu der systematischen Zuordnung neuer Verben in die erste Verbklasse.

Ich glaube, dass das Französische nicht unbedingt eine viel schwerere Sprache ist als Englisch oder Deutsch und dass seine Schwierigkeiten vielmehr in anderen Bereichen zu suchen sind. Das Englische, das in syntaktischer Hinsicht und in Bezug auf seine Verbkonjugation sehr einfach ist, ist in Bezug auf seine idiomatischen Ausdrücke, die Sprechformen und die Aussprache, die ausgesprochene Eigenheiten hat und alle Lerner vor große Schwierigkeiten stellt, äußerst schwierig. In Frankreich gilt Deutsch vor allem aufgrund des syntaktischen Bauplans als eine schwierige Sprache, wohingegen es nichtzuletzt gegenüber dem Englischen leicht verständlich ist. Der Gegenüberstellung von leichten und schwierigen Sprachen fehlt im Grunde aber jegliche Grundlage. Dagegen lässt sich durchaus behaupten, dass manche Sprachen leichter zu nutzen sind als andere, was durchaus etwas Anderes ist. Das Englische z.B. war so klug, vielleicht auch gerissen, dass es sich in einer auf das Notwendigste vereinfachten Gestalt geben kann. Wahrscheinlich waren das Deutsche und das Französische zu einem ähnlichen Kraftakt nicht fähig. In Frankreich hat uns vielleicht die Ehrfurcht vor der "schönen Sprachform", die zu einer Anhäufung von Schwierigkeiten zwingt, in eine solche Lage gebracht.

Eine Rechtschreibreform ist in Frankreich undenkbar, während die Angloamerikaner Veränderungen mit dem Ziel der Vereinfachung englischer Begriffe akzeptieren. Auch Deutschland hat eine Reform angestrengt, die auf eine Vereinfachung abzielt. In Frankreich gibt es eine Art Konflikt zwischen dem Wunsch, die ästhetischen, zum Teil der Vergangenheit angehörenden Wertvorstellungen zu bewahren, und dem Wunsch, seine Denkweise zu exportieren.

Forum: Gibt es Ihrer Meinung nach ein einziges Französisch oder mehrere französische Sprachformen? Sollte die französische Sprache reglementiert, vielleicht sogar normiert werden?

A. Rey: Zuallererst sollte man, glaube ich, das Französische in Europa erwähnen, weil zwischen den Varietäten des Französischen in Frankreich (Kontinentaleuropa), Belgien und der Schweiz kein grundsätzlicher Unterschied besteht und die Probleme in etwa dieselben sind.

Im Anschluss daran lässt sich ohne jeden Zweifel die Behauptung aufstellen, dass es ein Französisch gibt, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass der Begriff ein abstraktes Sprachsystem bezeichnet, dass das Französische jedoch in mehreren Varianten existiert, wenn man den Begriff im Sinne der "Gebrauchssprache" auffasst. In der Tat werfen die grundverschiedenen Gebrauchsformen einer Sprache und deren Konflikte Probleme sprachinterner Regulierung auf.

Im Französischen gibt es einerseits eine spontane Sprache, die trotz möglicher schriftlicher Fassungen im Wesentlichen mündlicher Natur ist. Sie ist außerdem ziemlich kreativ und basiert auf Entlehnungsverfahren (z.B. aus dem Rap). Diese Sprachformen sind recht originell und enthalten weniger Anglizismen als Maghrebinismen. Ihnen liegt zudem eine spielerische Sprachbehandlung z.B. in Form des verlan(2) zugrunde. Auch wenn der verlan gegenwärtig an Boden verliert, war er vor einiger Zeit von großer Bedeutung, nicht so sehr, weil er von Sprechern aus den Pariser Vororten benutzt wurde, sondern weil er über den Umweg der jungen Generationen und der Schulhöfe im Allgemeinen den spontanen Gebrauch des Französischen aller Franzosen beeinflusst hat. Das Phänomen hat von der Banlieu auf die Kinder übergegriffen und von den Kindern auf die Erwachsenen.

Die Sprache, wie sie in den ländlichen Gebieten Frankreichs gesprochen wird, umfasst ebenfalls andere Gebrauchsformen des Französischen. Zudem hat das Französische Okzitaniens nicht dieselbe Phonetik wie das Französische Nordfrankreichs, während die Phonetik des Französischen im Elsass germanische Züge bewahrt hat und das Französische der Bretagne in grammatischer und syntaktischer Hinsicht dem Bretonischen entlehnte Besonderheiten beibehält. Darüber hinaus bestehen soziale Trennlinien, deren Folgen hinsichtlich des Gebrauchs der Sprache offensichtlich sind.

Über diese unterschiedlichen Gebrauchsformen der französischen Sprache hinaus gibt es die Definition des Französischen, wie sie von der Schule vermittelt wird. Diese jedoch ist in Mitleidenschaft gezogen, weil sie unmittelbar mit der außerhalb der Schule gebildeten sprachlichen Gebrauchsform konfrontiert ist. Aber auch wenn der Schule die Bewältigung dieses Problems Schwierigkeiten bereitet, ist das noch kein Grund, die von ihr gemachten Bemühungen gering zu schätzen. In diesem Punkt stößt man in Frankreich, Deutschland und England auf dieselben Anschuldigungen, dass die Kinder sich nicht mehr auszudrücken wüssten, dass sie nicht mehr schreiben könnten und dass ihnen kein richtiges Deutsch, Französisch oder Englisch mehr beigebracht würde. Auch wenn diese Einsicht zum Teil der Wahrheit entspricht und es natürlich einen Wissensverlust gibt, so schlägt sich das doch auch in einer sprachlichen Bereicherung nieder. Das eigentliche Problem besteht allerdings darin, dass diese Bereicherung im Wesentlichen bei der Spontaneität des Sprachgebrauchs liegt, während demgegenüber eine Verarmung des Erlernten und der Vermittlung von Kenntnissen zu beobachten ist, vor allem, weil es zwischen diesen beiden Diskursformen an Homogenität mangelt. Dieses Problem wird sich den Franzosen in den kommenden Jahren noch stellen, und es stellt sich auch mit Macht dem Englischen, zumindest dem britischen Englisch. Dazu muss man sich nur einen englischen Film ansehen, um zu bemerken, dass man mit soliden Kenntnissen des King's English, d.h. der schulisch vermittelten Varietät, beim Verständnis eines Films, der im Arbeitermilieu von Manchester oder im East End spielt, nicht weit kommt.

Das Ziel, das die Schule verfolgt, ist zusammenfassend also: ein einheitliches Französisch. Demgegenüber setzt sich die gesellschaftliche Realität aus mehreren Formen des Französischen zusammen. Deswegen muss beiden Faktoren Rechnung getragen werden, und man sollte weder die Existenz des einen noch des anderen abstreiten.

Forum: Die Normierung der französischen Sprache erscheint ihnen also durchaus als einer der Hauptfaktoren für ihr Überleben…

A. Rey: Ich glaube, dass die Normierung des Französischen, vor allem die Normierung durch die Schule, notwendig ist, weil man eine Sprache, die nicht von einheitlichen Regeln regiert würde, nicht vermitteln kann. Ohne Normierung verfiele man wieder in den Dialektstand des Mittelalters. Bei einer fehlenden Normierung ließe sich sicherlich vom Tod des Französischen sprechen. Ich denke allerdings auch, dass die Modalitäten der angesprochenen, ziemlich starken Normierung überdacht werden könnten.

Forum: Sie haben eine Normierung des Französischen durch die Schule erwähnt. Sie erfolgt aber doch auch durch andere Institutionen wie die Académie française…

A. Rey: Die Reglementierung, die meines Erachtens am wichtigsten ist, findet in der Schule statt. Die anderen Normierungen, von denen man paradoxerweise aber gerade am meisten spricht, zielen im Allgemeinen auf eine Stabilisierung ab, damit die spontansprachlichen die traditionellen Elemente nicht dominieren. Diese Vorgehensweise, die typisch ist für die Académie française, strebt nach einer größeren Homogenität und Sprachästhetik. Trotzdem kann man sich die Frage stellen, welchen tatsächlichen Einfluss die Académie française auf diesem Gebiet hat. Es ist vor allem die Funktion einer Sprachkontrolle, die in symbolischer Hinsicht äußerst wertvoll sein kann, die aber im Vergleich zu der Funktion der Schule oder der Medien nicht sehr aktiv ist.

Forum: Was ist Ihre Meinung zu der gesetzlichen Regelung des Französischen?

A. Rey: Die gesetzliche Sprachregelung ist eine französische Besonderheit in Europa. Die Engländer stehen einem solchen Eingriff sehr skeptisch gegenüber. Deutschland hat mit einer sehr gemäßigten Regulierung eine Zwischenposition angenommen.

Ich glaube, dass ein solches Vorgehen durchaus seinen Nutzen haben kann, doch sollte man sich über die Auswirkungen auf den statistisch vorherrschenden Gebrauch der Sprache keinerlei Illusionen hingeben.

Forum: Worin besteht die Aufgabe, die neben dem Wörterbuch der Académie française die anderen Wörterbücher haben?

A. Rey: Die Wörterbücher spielen ihre Rolle in dem Maße, wie sie eine mehr oder weniger offene Haltung gegenüber den Neuerungen einnehmen.

Es gibt einen immensen Unterschied zwischen den Wörterbüchern mit normativem Anspruch wie z.B. dem der Académie, deren gesellschaftliche Wirkungskraft sehr begrenzt ist, und den Wörterbüchern, die auf dem Gedanken tatsächlicher Sprachbeobachtung gründen. In dieser Hinsicht kommt den zweisprachigen Wörterbüchern eine sehr wichtige Rolle zu, weil sie nicht einfach über die Neuerungen hinweggehen können. Faktisch müssen sie gerade das Übersetzungsproblem bestimmter neu aufgetauchter Wörter lösen, die in andere Sprachen eingedrungen sind. Damit zeigt sich bei den zweisprachigen Wörterbüchern spontan und wohl überlegt der Trend, mit der modernen Sprachentwicklung immer mehr Schritt zu halten.

Forum: Welche Regeln und Kriterien sind für die Aufnahme oder das Streichen eines Eintrags in einem Referenzwörterbuch wie dem Robert, an dessen Ausgabe sie mitarbeiten, entscheidend?

A. Rey: Das Auftauchen von Wörtern in einem Wörterbuch wird durch die Beobachtung des tatsächlichen Gebrauchs der französischen Sprache geregelt, d.h., dass es gänzlich von einem dokumentarischen Aspekt abhängig ist. Dieser dokumentarische Aspekt hat sich seit dem Erscheinen von Text-CDROMs oder auch Internet, die eine Hauptquelle darstellen und eine sehr genaue Annäherung an die tatsächliche Sprachentwicklung ermöglichen, stark weiterentwickelt. Vor zwanzig Jahren musste man darauf warten, dass ein Wort in der Literatur auftaucht und weiter verwendet wird, dass man Texte darauf hin untersucht etc. Heute hingegen lässt sich entweder über die Medien oder das Internet, das auch als Medium dient, insofern es nämlich die Presse sowie Radio und Fernsehen zugänglich macht, eine nahezu zeitgleiche Reaktion erhalten. Auf der Grundlage dieser Dokumentationsbasis können neue Elemente in die Wörterbücher aufgenommen werden, wobei man sich lediglich der redaktionellen Ausrichtung beugen muss. Natürlich muss man allerdings die Drucklegung des Wörterbuches abwarten. Nur Wörterbücher, die gleichbleibende Verkaufszahlen erreichen, ob nun in sehr großer Zahl wie für Le Petit Larousse oder in etwas bescheidenerem Maße wie für die verschiedenen Varianten des Robert, können regelmäßig überarbeitet werden. Demgegenüber können Wörterbücher, die wie z.B. das Wörterbuch der Académie, zwischen dessen Neuauflagen 60 oder 80 Jahre verstreichen, nur in sehr niedrigen Stückzahlen verkauft werden, dieser Entwicklung nicht Rechnung tragen. Das ist im Grunde verständlich, weil sie nicht dieselbe Zielsetzung verfolgen. Eine normative Beschreibung des Französischen, die zwangsweise begrenzt und auf die Bewahrung der Sprache ausgerichtet sein muss, hat nicht viel gemeinsam mit einer deskriptiven, der modernen Sprachentwicklung folgenden Arbeit.

Forum: Demnach lässt sich also behaupten, dass die Aufnahme und Streichung von Einträgen in den regelmäßig erscheinenden Wörterbüchern eine Beschleunigung erfahren hat.

A. Rey: Was die Streichung betrifft, so kann die jeweilige Politik grundverschieden sein. Wie ich weiß, werden bei dem Wörterbuch Larousse recht schnell archaische Einträge oder ältere Wörter herausgenommen, um für die Neuheiten Platz zu gewinnen.

Wir haben bei Le Robert einen etwas anderen Ansatz: Wir streichen archaische Einträge nur dann, wenn es sich um einen technischen oder wissenschaftlichen Archaismus handelt, d.h., wenn das Wort wissenschaftlich wirklich nicht mehr gebraucht wird und durch einen anderen Begriff oder ein anderes Konzept ersetzt wurde. Alle Wörter hingegen, die einen Gesellschaftszustand zu einer bestimmten Epoche beschreiben, werden von uns beibehalten, eventuell allerdings kürzer behandelt, damit Balzac oder die Schriftsteller vom Anfang des 20. Jahrhunderts weiterhin gelesen werden können. Ein Wort wie zazou z.B. ist heute - von Anspielungen auf die Vergangenheit abgesehen - völlig ungebräuchlich, aber insofern interessant, als es eine bestimmte Epoche der französischen Gesellschaftsgeschichte kennzeichnet. Darum verdient es auch, bewahrt zu werden. In diesem Sinne versuchen wir auch eine ganze Reihe von Wörtern zu bewahren, die beispielsweise für die Zeit der Besetzung Frankreichs durch Deutschland in den Jahren zwischen 1941 und 1944 spezifisch sind und die von Marcel Aymé und anderen wichtigen Schriftstellern weitergegeben wurden. Im übrigen gibt es interessante Bemerkungen von Schriftstellern darüber, wie man durch die Wörter die versunkene Zeit wiederfindet. Ich erinnere mich an eine Stelle in Blanche ou l'oubli, wo Aragon darlegt, wie das Wort gazogène, das auf eine spezifische Antriebsform der Fahrzeuge in der Zeit des Benzinmangels verweist, als eine Art geistiges Signal funktioniert, durch das die Atmosphäre einer bestimmten Epoche heraufbeschworen werden kann. Wir versuchen also diese Begriffe als ein Zeichen der Geschichte zu bewahren.

Forum: Sollte die französische Sprache im Rahmen des schulischen Unterrichts nicht einen größeren Platz einnehmen? Wie beurteilen Sie den Leistungsverfall des Unterrichts?

A. Rey: Ich glaube, dass es dabei im Grunde mehr um die Ausbildung der Lehrer geht und auch darum, dass sie oft im Zusammenhang mit der sozialen Zugehörigkeit stehende, außerschulische Probleme zu bewältigen haben, für die sie nicht gewappnet sind. Es geht also um ein Problem der gesellschaftlichen Organisation. In Bezug auf Frankreich sind die Finanzmittel, die dem Bildungssystem zur Verfügung gestellt werden, trotz beträchtlicher Summen immer noch unzureichend, um die Schulsituationen, die immer komplexer und immer schwieriger werden, in den Griff bekommen zu können. Das Französischniveau mancher Schüler - vor allem aus Einwanderungsfamilien - ist oftmals schlicht inexistent. Dieses Problem stellt sich bestimmt auch in Deutschland im Zusammenhang mit der Einwanderung aus der Türkei und ganz deutlich auch in England mit der Einwanderung aus Jamaika, Indien und Pakistan.

Dadurch entstehen sowohl kulturelle als auch sprachliche Probleme, die von anderen Problemen soziokultureller Natur überlagert werden. Aus Gründen der Haushaltszwänge wird die zu bewältigende Aufgabe oftmals unterschätzt. Mit Ausdrücken wie Leistungsverfall muss man allerdings sehr behutsam umgehen, weil seitens des französischen Bildungssystems beträchtliche Anstrengungen unternommen werden und oftmals eine beachtliche Leistung von den Lehrern erbracht wird. Sie stoßen nicht selten auf Schwierigkeiten, die die Probleme bei weitem übersteigen, mit denen sie konfrontiert waren, als sie noch lediglich deutlich homogenere Klassenverbände mit viel geringeren Schülerzahlen unterrichteten. Zwischen städtischem und ländlichen Umfeld waren die Schwierigkeiten vor allem regionaler und sozialer Natur. Inzwischen hat sich die Situation deutlich verkompliziert.

Es ist also unbestreitbar, dass man dem Französischunterricht in der Schule und damit auch der Grammatik, dem Wortschatz, der Rechtschreibung und dem eigentlichen Sprachgebrauch eine wichtigeren Stellung zuweisen sollte. Man vergisst allzu oft, dass die Qualität des Unterrichts in Mathematik, Geologie, Anatomie, den Fremdsprachen usw. auch von der Unterrichtsqualität des Französischen abhängt. Theoretisch müsste es eigentlich sogar für jede Form des Lernens eine eigene Sprachvermittlung geben.

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(1) Claude Duneton, La mort du français, Paris, Plon, 1999.

Übersetzung Forum (MT)

 



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