Deutsch-Französisches
Forum: In welcher Beziehung stehen die französische, deutsche
und englische Sprache zueinander und worin bestanden und bestehen
noch die wechselseitigen Einflüsse?
Alain Rey:
Europa besteht aus mehreren Sprachfamilien. Die beiden grundlegenden
Gruppen sind zum einen die germanische und zum anderen die romanische
Sprachfamilie. Die zu dieser Familie gehörenden Sprachen prägen
weitestgehend den westlichen Teil Europas. Man stößt
hier und da auf Spuren alter Sprachen wie dem Keltischen z.B. oder
noch weiter zurückgehender Sprachen wie dem immer noch gesprochenen
Baskischen. In dem östlichen Teil Europas sind auch die slawischen
Sprachen beheimatet. Trotzdem ist aber eine deutliche Mehrheit der
europäischen Sprachen entweder germanischen oder lateinischen
Ursprungs. Ungeachtet dieser Unterscheidung kam es zwischen den
Sprachen grundverschiedenen Ursprungs zu Wechselbeziehungen. Der
Wortschatz des Englischen besteht beispielsweise zu mehr als 50%
aus lateinisch- und insbesondere französischstämmigen
Wörtern.
Das Verhältnis
zwischen den diversen benachbarten Sprachgemeinschaften, die ständige
Austauschbeziehungen politischer, wirtschaftlicher oder zu manchen
Zeiten auch gespannter Natur unterhalten, ist ausgesprochen eng.
Durch die gängigen Wortentlehnungen üben sie nämlich
einen klar erkennbaren, wechselseitigen Einfluss aufeinander aus.
Weniger deutlich ist der Einfluss durch die Ausdrücke von Begriffen
und Konzepten. Die Einflüsse können sehr weitreichend
sein, wenn zum Beispiel eine dieser Sprachen sich auf die Syntax,
die Grammatik usw. der anderen Sprachen auswirkt.
In lexikalischer
Hinsicht lässt sich sagen, dass es eine ziemlich überraschende
Parallele zwischen der französischen und der englischen Sprache
gibt. Es handelt sich dabei um Hybridsprachen, die sich ursprünglich
aus zahlreichen Dialekten zusammensetzten, welche sich dann parallel
zu dem Ausbau der Zentralgewalt und der Wirtschaftsmacht zu einer
Einheitssprache zusammengeschlossen haben: Die Bedeutung von London
und Paris sind in dieser Hinsicht durchaus miteinander vergleichbar.
Die beiden Sprachen sind seit dem ausgehenden Mittelalter und dem
Ende des Feudalzeitalters zentralisiert.
Die deutsche
Sprache befindet sich in einer ganz anderen Lage. In Deutschland
werden nämlich die Dialekte vor allem aufgrund eines verspäteten
Einigungsprozesses (im ausgehenden 19. Jahrhundert), der ausgeprägten
Identität der unterschiedlichen Länder und der föderalen
Organisationsform, die es später angenommen hat, immer noch
praktiziert. Der Föderalismus entspricht gerade dieser Dialektvielfalt
und unterscheidet sich von dem Prinzip, das dem englischen oder
auch dem noch ausgeprägteren französischen Zentralismus
zugrunde liegt. Außerdem ist die Festsetzung einer Gemeinsprache
in den deutschsprachigen germanischen Ländern weitestgehend
eine Folge der Renaissance, genauer gesagt: des von religiösem
Denken, vor allem im Gefolge Luthers ausgehenden Einflusses. Natürlich
hat in England der Anglikanismus und der offizielle Bruch mit Rom
weder in soziologischer noch kultureller oder sprachlicher Hinsicht
dieselben Auswirkungen gehabt wie in Deutschland. In Deutschland
konnte infolge des Einflusses von Luther und der Bibelübersetzung
im selben Zeitraum eine Varietät des Deutschen Verbindlichkeit
erlangen, die im Folgenden als das literarische Deutsch betrachtet
wurde, ähnlich wie es auch für das Italienische Dantes
zwei Jahrhunderte früher der Fall war.
Es ließen
sich mehr Vergleichspunkte aufzeigen zwischen dem Deutschen und
dem Italienischen als zwischen der deutschen Sprache einerseits
und der englischen, französischen oder auch spanischen Sprache
andererseits, die ebenfalls frühzeitig zentralisiert wurde.
Die Lage einer jeden Sprache hängt somit also von der Bestimmung
einer einheitlichen Verkehrssprache ab, die wiederum auf politische
Machtstrukturen zurückgeführt werden kann. Darüber
hinaus hängt sie allerdings meines Erachtens auch von einer
bestimmten Vorstellung der Sprache als einem ästhetischen Ausdrucksmittel
ab. Die Existenz einer einheitlichen Verkehrssprache in einem Umfeld,
das von jeher - zumindest in der Geschichte Europas - ein dialektales
Umfeld war, hängt einerseits von einer bestimmten Konzeption
der Literatursprache und andererseits von einer bestimmten Vorstellung
der Machtausübung durch Sprache zusammen. Wenn diese beiden
Faktoren zusammenfallen, erhält man eine neue Sprache. Für
das Italienische hat der ausschließlich bestehende literarische
Faktor nicht ausgereicht. Es bedurfte schon der politischen Entwicklung
des 19. Jahrhunderts, damit sich das Gefühl politischer Einheit
dazu gesellt, das schließlich nach und nach zu dem Sieg des
Italienischen über die Dialekte geführt hat.
Im Englischen
und Französischen kam dieses Phänomen im ausgehenden Mittelalter
zum Abschluss, im Deutschen im Zuge der Renaissance wegen des kulturellen
Unabhängigkeitsgefühls im Zusammenhang mit der Reformation
und auch wegen der erstmalig sich herausbildenden Ideen, die eine
politische Einheit in Aussicht stellten. Bis zu deren Umsetzung
musste allerdings noch bis zum 19. Jahrhundert gewartet werden.
Die historische
Ausgangslage ist damit also von grundlegender Bedeutung. Trotzdem
sind die Sprachen natürlich miteinander in Kontakt. Wenn man
den französischen Standpunkt des 17. Jahrhunderts betrachtet,
so ist es offensichtlich, dass die englische Sprache als dem Französischen
ebenbürtig angesehen wurde, vielleicht nicht unbedingt von
den Sprachwissenschaftlern und den Sprachpuristen, sicherlich aber
von jenen, die das Denken in Frankreich beeinflussen. Voltaire hat
im Zuge des Newtonschen Denkens z.B. auch eine beträchtliche
Anzahl von Anglizismen in die französische Sprache eingeführt.
England stieg zu diesem Zeitpunkt nämlich zu einer Art europäischer
Leitstern des naturwissenschaftlichen und politischen Denkens auf.
Bei Ausbruch der Revolution im Jahre 1789 ist ein Großteil
der Konzepte und Begrifflichkeiten, auf die die Abgeordneten der
Konvention zurückgreifen, dem Englischen entliehen trotz ihres
scheinbar französischen Erscheinungsbildes. Einige der politischen
Ideen, die im übrigen von Franzosen, vor allem auch von Montesquieu
theoretisch gefasst worden waren, werden im Gefolge der zu diesem
Zeitpunkt in England herrschenden Gepflogenheiten in die politische
Praxis des Parlamentarismus umsetzbar.
Forum: Macht
sich gegenwärtig ein Einfluss des Deutschen auf das Französische
oder umgekehrt bemerkbar, und wenn ja, in welchem Maße?
A. Rey: Ich
habe den Eindruck, dass es sich dabei um einen ausgewogenen Einfluss
handelt, insofern er weder in der einen noch in der anderen Richtung
stärker ist. Er ist allerdings für den Wortschatz als
Ganzen nicht grundlegend. Der statistisch stärkste Einfluss
geht nämlich von dem Angloamerikanischen auf die anderen Sprachen
aus. Alle europäischen Sprachen - das gilt auch für das
britische Englisch - werden durch die amerikanischen Sprech- und
Schreibformen beeinflusst.
Forum: In
welcher Form macht sich die englische und angloamerikanische Sprache
auf das Französische von heute im Einzelnen bemerkbar? Ist
gar "der Tod des Französischen" zu befürchten, wie er
von Claude Duneton(1) in einem kürzlich erschienenen Buch verkündet
wurde?
A. Rey: Das
Angloamerikanische hat einen großen Einfluss auf die französische
Sprache. Eine der Stärken des Angloamerikanischen ist, dass
es die Dinge nicht einfach nur bezeichnet, sondern dass sie dort
auch Gestalt gewinnen. Darin besteht das eigentliche Problem. Wenn
in der medizinischen Bilderstellung Fortschritte erzielt werden,
dann stammen die Geräte zumeist aus Amerika und haben zuerst
eine englische Bezeichnung. In diesem relativ häufig anzutreffenden
Fall muss entweder auf eine Übersetzung, auf eine Entlehnung
oder aber auf eine Neuschöpfung zurückgegriffen werden,
was allerdings noch selten geschieht. Die verschiedenen Vorgehensweisen
kommen zum Einsatz, die Fachwissenschaftler sind allerdings der
Meinung, dass die Entlehnungsquote zu hoch ist. Dieser Sachverhalt
lässt sich im Multimedia- und Internetbereich beobachten, wo
die dominante Sprache das Angloamerikanische ist. Allerdings drängt
sich die Feststellung auf, dass andere Sprachen wie Französisch,
Spanisch, Deutsch, Italienisch und in gewissem Maße auch Arabisch
hier zunehmend präsent sind. Im übrigen wächst die
Bedeutung der genannten anderen Sprachen proportional zu der Zunahme
der Netznutzung und der Internautenzahl. Nötigenfalls zeigt
dieses Beispiel also, dass das Thema des Todes der französischen
Sprache völlig aus der Luft gegriffen ist.
Ich glaube
allerdings, dass die Ansicht, dass das Französische in seiner
jetzigen Form nicht überleben wird, richtig ist. Die Behauptung
dagegen, es könne sterben, erscheint mir völlig verfehlt.
Bedeutet das etwa, dass die französische Sprache untergehen
wird, wenn sie nicht die weltweit wichtigste Sprache ist? Ich habe
den Eindruck, dass man aus dieser Argumentation einen solchen Gedanken
unterschwellig herauslesen kann. Es handelt sich dabei um eine nationalistische
Argumentation. Frankreich hatte es sich seit Rivarol im 18. Jahrhundert
und im beginnenden 19. Jahrhundert zur Gewohnheit gemacht, seine
Sprache als wichtigste Sprache der Welt zu betrachten. Genau das
galt aber zu diesem Zeitpunkt bereits immer weniger. Sie war es
vielleicht im 17. Jahrhundert im Anschluss an das Spanische, das
im 16. Jahrhundert vorherrschend war. Danach haben England und dann
die Vereinigten Staaten ihren Platz übernommen. Was bedeutet
denn aber überhaupt "wichtigste Sprache der Welt"? Auch wenn
das Kriterium der Sprecherzahl nicht einfach zu vernachlässigen
ist, ist es sicherlich nicht die am meisten gesprochene Sprache,
weil das Chinesische mehr als jede andere Sprache in der Welt gesprochen
wird. Dass es sich um die einflussreichste Sprache in der Welt handelt,
erscheint mir demgegenüber schon richtiger, weil das Englische
es faktisch ist. Trotzdem darf man auch nicht vergessen, dass Englisch,
obgleich es die weltweit am weitesten verbreitete Sprache ist, ebenfalls
tiefgreifenden internen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist, so dass
man sich die Frage stellen kann, ob das Englische so, wie es in
Indien oder Australien gesprochen wird, in zwei Hundert Jahren noch
dem Angloamerikanischen ähneln wird und ob das Anglomarikanische
noch mit dem britischen Englisch vereinbar sein wird. Die deutsche
Sprache ist nicht mit diesem Problem konfrontiert, weil sie mit
einer gewissen Homogenität gesprochen wird. Das mag eine Einschränkung
sein, es ist aber auch eine Garantie. Das Französische befindet
sich demgegenüber in einer intermediären Situation.
Forum: Das
Französische scheint doch aber zu jenen Sprachen zu gehören,
die Anglizismen besser widerstehen als andere Sprachen wie Italienisch
und Deutsch. Begriffe wie computer, software, walkman usw. wurden
im Französischen zum Beispiel durch ordinateur, logiciel, baladeur
etc. wiedergegeben.
A. Rey: Das
stimmt. Es gibt einige Fälle eigener Wortschöpfung, die
durchaus bezeichnend sind für die Widerstandsfähigkeit
des Französischen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass diese Durchlässigkeit,
die gegenüber anderen Sprachen weniger groß sein mag,
immer noch überaus großzügig ist. Übrigens
muss man aufgrund ihrer geringen Zahl fast immer dieselben Beispiele
für Übertragungen ins Französische anführen.
Das ändert nichts an der Tatsache, dass das Französische
hinsichtlich der lexikalischen Entlehnungen stark durch das Angloamerikanische
beeinflusst wird.
Es gibt mehrere
Möglichkeiten, Anglizismen zu vermeiden, indem man beispielsweise
die Wörter in Form von Lehnübersetzungen rein französischer
Klanggestalt adaptiert. Wenn man das Wort site im Französischen
benutzt, muss man sich nicht eigens auf das englische Wort site
beziehen. Und wenn man das Wort portail benutzt, denkt man genauso
wenig an den Begriff portal. Deswegen lässt sich also der Standpunkt
vertreten, dass aufgrund einer solchen Form der Adaptation die Aufnahme
allzu vieler Anglizismen in die französische Sprache umgangen
werden kann. Diese Adaptationsform ist allerdings nur möglich,
weil die englische Sprache und vor allem die didaktische, technisch-wissenschaftliche
Sprache des Angloamerikanischen großenteils aus lateinisch-griechischen
Wortstämmen gebildet ist, die wir also mit ihr gemeinsam haben.
So können wir Entlehnungen vornehmen, ohne dass es sich im
eigentlichen Sinne um Anglizismen handelt.
Ein reiner
Anglizismus wird oftmals als störend empfunden, weil er nämlich
einen Fremdkörper in der Zielsprache darstellt. Eine Sprache
kann aber sehr wohl auch mit einer hohen Lehnwörterquote überleben.
Das beste Beispiel dafür ist das Englische, das vor der Schlacht
von Hastings eine rein angelsächsische Sprache war und im Anschluss
daran von anglonormannischen Wörtern überschwemmt wurde,
die in Wirklichkeit ein normannisch-dialektal gefärbtes Französisch
waren. Später dann hat eine Vielzahl von entweder direkten
oder dem Französischen entlehnten Latinismen dieser Sprache
ihren Stempel aufgedrückt. Deswegen enthält der englische
Wortschatz eine beträchtliche Zahl an Wörtern, die (in
ihrer graphischen Form) den jeweiligen französischen Wörtern
aufs Genaueste entsprechen. Der englischen Sprache wohnt also eine
Charakteristik inne, wodurch die französischen Entlehnungen
aus dem Englischen weniger klar zu erkennen sind. Das verhält
sich bei den deutschen Entlehnungen aus dem Englischen und vor allem
auch dem Angloamerikanischen etwas anders, weil man in diesem Fall
eine Art Romanisierung des Deutschen beobachtet. Das Deutsche ist
nämlich eine ziemlich unberührte germanische Sprache,
während das Englische, das ehemalige Angelsächsische eine
germanische Sprache ist, die von Anfang an stark modifiziert wurde.
Das Englische ist gewissermaßen der verlorene Sohn der germanischen
Sprachfamilie verglichen mit dem Schwedischen oder dem Niederländischen.
Das Englische steht weit abseits des kulturellen Umfelds der germanischen
Sprachen wie des Deutschen oder der alemannischen Dialekte. Die
Verwandtschaft der Sprachen untereinander ist also wichtig. Dieser
Faktor hat nämlich einen Einfluss darauf, wie die Übertragung
von Wörtern, den Anglizismen, erfolgt. Man sollte nicht abstrakt
von Anglizismen sprechen. Das innere Gleichgewicht der Sprachen
ist im Französischen, Italienischen und Deutschen nicht im
selben Maße gefährdet
Forum: Auf
welche Hauptfaktoren sind die Veränderungsprozesse der französischen
Sprache in den letzten fünf Jahrzehnten zurückzuführen?
A. Rey: Die
sprachinternen Faktoren führen die Entwicklungstrends weiter,
denen das Französische auch schon im Laufe seiner Geschichte
unterworfen war. Im Allgemeinen führt diese Entwicklung zu
einer allmählichen Vereinfachung und damit z.B. zu einer Vereinfachung
bestimmter syntaktischer Formen, einer Veränderung der Konjugation
bestimmter Verben, wodurch Zeiten aufgegeben werden, deren Benutzung
zu kompliziert war, sowie zu der systematischen Zuordnung neuer
Verben in die erste Verbklasse.
Ich glaube,
dass das Französische nicht unbedingt eine viel schwerere Sprache
ist als Englisch oder Deutsch und dass seine Schwierigkeiten vielmehr
in anderen Bereichen zu suchen sind. Das Englische, das in syntaktischer
Hinsicht und in Bezug auf seine Verbkonjugation sehr einfach ist,
ist in Bezug auf seine idiomatischen Ausdrücke, die Sprechformen
und die Aussprache, die ausgesprochene Eigenheiten hat und alle
Lerner vor große Schwierigkeiten stellt, äußerst
schwierig. In Frankreich gilt Deutsch vor allem aufgrund des syntaktischen
Bauplans als eine schwierige Sprache, wohingegen es nichtzuletzt
gegenüber dem Englischen leicht verständlich ist. Der
Gegenüberstellung von leichten und schwierigen Sprachen fehlt
im Grunde aber jegliche Grundlage. Dagegen lässt sich durchaus
behaupten, dass manche Sprachen leichter zu nutzen sind als andere,
was durchaus etwas Anderes ist. Das Englische z.B. war so klug,
vielleicht auch gerissen, dass es sich in einer auf das Notwendigste
vereinfachten Gestalt geben kann. Wahrscheinlich waren das Deutsche
und das Französische zu einem ähnlichen Kraftakt nicht
fähig. In Frankreich hat uns vielleicht die Ehrfurcht vor der
"schönen Sprachform", die zu einer Anhäufung von Schwierigkeiten
zwingt, in eine solche Lage gebracht.
Eine Rechtschreibreform
ist in Frankreich undenkbar, während die Angloamerikaner Veränderungen
mit dem Ziel der Vereinfachung englischer Begriffe akzeptieren.
Auch Deutschland hat eine Reform angestrengt, die auf eine Vereinfachung
abzielt. In Frankreich gibt es eine Art Konflikt zwischen dem Wunsch,
die ästhetischen, zum Teil der Vergangenheit angehörenden
Wertvorstellungen zu bewahren, und dem Wunsch, seine Denkweise zu
exportieren.
Forum: Gibt
es Ihrer Meinung nach ein einziges Französisch oder mehrere
französische Sprachformen? Sollte die französische Sprache
reglementiert, vielleicht sogar normiert werden?
A. Rey: Zuallererst
sollte man, glaube ich, das Französische in Europa erwähnen,
weil zwischen den Varietäten des Französischen in Frankreich
(Kontinentaleuropa), Belgien und der Schweiz kein grundsätzlicher
Unterschied besteht und die Probleme in etwa dieselben sind.
Im Anschluss
daran lässt sich ohne jeden Zweifel die Behauptung aufstellen,
dass es ein Französisch gibt, wenn man sich auf den Standpunkt
stellt, dass der Begriff ein abstraktes Sprachsystem bezeichnet,
dass das Französische jedoch in mehreren Varianten existiert,
wenn man den Begriff im Sinne der "Gebrauchssprache" auffasst. In
der Tat werfen die grundverschiedenen Gebrauchsformen einer Sprache
und deren Konflikte Probleme sprachinterner Regulierung auf.
Im Französischen
gibt es einerseits eine spontane Sprache, die trotz möglicher
schriftlicher Fassungen im Wesentlichen mündlicher Natur ist.
Sie ist außerdem ziemlich kreativ und basiert auf Entlehnungsverfahren
(z.B. aus dem Rap). Diese Sprachformen sind recht originell und
enthalten weniger Anglizismen als Maghrebinismen. Ihnen liegt zudem
eine spielerische Sprachbehandlung z.B. in Form des verlan(2) zugrunde.
Auch wenn der verlan gegenwärtig an Boden verliert, war er
vor einiger Zeit von großer Bedeutung, nicht so sehr, weil
er von Sprechern aus den Pariser Vororten benutzt wurde, sondern
weil er über den Umweg der jungen Generationen und der Schulhöfe
im Allgemeinen den spontanen Gebrauch des Französischen aller
Franzosen beeinflusst hat. Das Phänomen hat von der Banlieu
auf die Kinder übergegriffen und von den Kindern auf die Erwachsenen.
Die Sprache,
wie sie in den ländlichen Gebieten Frankreichs gesprochen wird,
umfasst ebenfalls andere Gebrauchsformen des Französischen.
Zudem hat das Französische Okzitaniens nicht dieselbe Phonetik
wie das Französische Nordfrankreichs, während die Phonetik
des Französischen im Elsass germanische Züge bewahrt hat
und das Französische der Bretagne in grammatischer und syntaktischer
Hinsicht dem Bretonischen entlehnte Besonderheiten beibehält.
Darüber hinaus bestehen soziale Trennlinien, deren Folgen hinsichtlich
des Gebrauchs der Sprache offensichtlich sind.
Über diese
unterschiedlichen Gebrauchsformen der französischen Sprache
hinaus gibt es die Definition des Französischen, wie sie von
der Schule vermittelt wird. Diese jedoch ist in Mitleidenschaft
gezogen, weil sie unmittelbar mit der außerhalb der Schule
gebildeten sprachlichen Gebrauchsform konfrontiert ist. Aber auch
wenn der Schule die Bewältigung dieses Problems Schwierigkeiten
bereitet, ist das noch kein Grund, die von ihr gemachten Bemühungen
gering zu schätzen. In diesem Punkt stößt man in
Frankreich, Deutschland und England auf dieselben Anschuldigungen,
dass die Kinder sich nicht mehr auszudrücken wüssten,
dass sie nicht mehr schreiben könnten und dass ihnen kein richtiges
Deutsch, Französisch oder Englisch mehr beigebracht würde.
Auch wenn diese Einsicht zum Teil der Wahrheit entspricht und es
natürlich einen Wissensverlust gibt, so schlägt sich das
doch auch in einer sprachlichen Bereicherung nieder. Das eigentliche
Problem besteht allerdings darin, dass diese Bereicherung im Wesentlichen
bei der Spontaneität des Sprachgebrauchs liegt, während
demgegenüber eine Verarmung des Erlernten und der Vermittlung
von Kenntnissen zu beobachten ist, vor allem, weil es zwischen diesen
beiden Diskursformen an Homogenität mangelt. Dieses Problem
wird sich den Franzosen in den kommenden Jahren noch stellen, und
es stellt sich auch mit Macht dem Englischen, zumindest dem britischen
Englisch. Dazu muss man sich nur einen englischen Film ansehen,
um zu bemerken, dass man mit soliden Kenntnissen des King's English,
d.h. der schulisch vermittelten Varietät, beim Verständnis
eines Films, der im Arbeitermilieu von Manchester oder im East End
spielt, nicht weit kommt.
Das Ziel, das
die Schule verfolgt, ist zusammenfassend also: ein einheitliches
Französisch. Demgegenüber setzt sich die gesellschaftliche
Realität aus mehreren Formen des Französischen zusammen.
Deswegen muss beiden Faktoren Rechnung getragen werden, und man
sollte weder die Existenz des einen noch des anderen abstreiten.
Forum: Die
Normierung der französischen Sprache erscheint ihnen also durchaus
als einer der Hauptfaktoren für ihr Überleben
A. Rey: Ich
glaube, dass die Normierung des Französischen, vor allem die
Normierung durch die Schule, notwendig ist, weil man eine Sprache,
die nicht von einheitlichen Regeln regiert würde, nicht vermitteln
kann. Ohne Normierung verfiele man wieder in den Dialektstand des
Mittelalters. Bei einer fehlenden Normierung ließe sich sicherlich
vom Tod des Französischen sprechen. Ich denke allerdings auch,
dass die Modalitäten der angesprochenen, ziemlich starken Normierung
überdacht werden könnten.
Forum: Sie
haben eine Normierung des Französischen durch die Schule erwähnt.
Sie erfolgt aber doch auch durch andere Institutionen wie die Académie
française
A. Rey: Die
Reglementierung, die meines Erachtens am wichtigsten ist, findet
in der Schule statt. Die anderen Normierungen, von denen man paradoxerweise
aber gerade am meisten spricht, zielen im Allgemeinen auf eine Stabilisierung
ab, damit die spontansprachlichen die traditionellen Elemente nicht
dominieren. Diese Vorgehensweise, die typisch ist für die Académie
française, strebt nach einer größeren Homogenität
und Sprachästhetik. Trotzdem kann man sich die Frage stellen,
welchen tatsächlichen Einfluss die Académie française
auf diesem Gebiet hat. Es ist vor allem die Funktion einer Sprachkontrolle,
die in symbolischer Hinsicht äußerst wertvoll sein kann,
die aber im Vergleich zu der Funktion der Schule oder der Medien
nicht sehr aktiv ist.
Forum: Was
ist Ihre Meinung zu der gesetzlichen Regelung des Französischen?
A. Rey: Die
gesetzliche Sprachregelung ist eine französische Besonderheit
in Europa. Die Engländer stehen einem solchen Eingriff sehr
skeptisch gegenüber. Deutschland hat mit einer sehr gemäßigten
Regulierung eine Zwischenposition angenommen.
Ich glaube,
dass ein solches Vorgehen durchaus seinen Nutzen haben kann, doch
sollte man sich über die Auswirkungen auf den statistisch vorherrschenden
Gebrauch der Sprache keinerlei Illusionen hingeben.
Forum: Worin
besteht die Aufgabe, die neben dem Wörterbuch der Académie
française die anderen Wörterbücher haben?
A. Rey: Die
Wörterbücher spielen ihre Rolle in dem Maße, wie
sie eine mehr oder weniger offene Haltung gegenüber den Neuerungen
einnehmen.
Es gibt einen
immensen Unterschied zwischen den Wörterbüchern mit normativem
Anspruch wie z.B. dem der Académie, deren gesellschaftliche
Wirkungskraft sehr begrenzt ist, und den Wörterbüchern,
die auf dem Gedanken tatsächlicher Sprachbeobachtung gründen.
In dieser Hinsicht kommt den zweisprachigen Wörterbüchern
eine sehr wichtige Rolle zu, weil sie nicht einfach über die
Neuerungen hinweggehen können. Faktisch müssen sie gerade
das Übersetzungsproblem bestimmter neu aufgetauchter Wörter
lösen, die in andere Sprachen eingedrungen sind. Damit zeigt
sich bei den zweisprachigen Wörterbüchern spontan und
wohl überlegt der Trend, mit der modernen Sprachentwicklung
immer mehr Schritt zu halten.
Forum: Welche
Regeln und Kriterien sind für die Aufnahme oder das Streichen
eines Eintrags in einem Referenzwörterbuch wie dem Robert,
an dessen Ausgabe sie mitarbeiten, entscheidend?
A. Rey: Das
Auftauchen von Wörtern in einem Wörterbuch wird durch
die Beobachtung des tatsächlichen Gebrauchs der französischen
Sprache geregelt, d.h., dass es gänzlich von einem dokumentarischen
Aspekt abhängig ist. Dieser dokumentarische Aspekt hat sich
seit dem Erscheinen von Text-CDROMs oder auch Internet, die eine
Hauptquelle darstellen und eine sehr genaue Annäherung an die
tatsächliche Sprachentwicklung ermöglichen, stark weiterentwickelt.
Vor zwanzig Jahren musste man darauf warten, dass ein Wort in der
Literatur auftaucht und weiter verwendet wird, dass man Texte darauf
hin untersucht etc. Heute hingegen lässt sich entweder über
die Medien oder das Internet, das auch als Medium dient, insofern
es nämlich die Presse sowie Radio und Fernsehen zugänglich
macht, eine nahezu zeitgleiche Reaktion erhalten. Auf der Grundlage
dieser Dokumentationsbasis können neue Elemente in die Wörterbücher
aufgenommen werden, wobei man sich lediglich der redaktionellen
Ausrichtung beugen muss. Natürlich muss man allerdings die
Drucklegung des Wörterbuches abwarten. Nur Wörterbücher,
die gleichbleibende Verkaufszahlen erreichen, ob nun in sehr großer
Zahl wie für Le Petit Larousse oder in etwas bescheidenerem
Maße wie für die verschiedenen Varianten des Robert,
können regelmäßig überarbeitet werden. Demgegenüber
können Wörterbücher, die wie z.B. das Wörterbuch
der Académie, zwischen dessen Neuauflagen 60 oder 80 Jahre
verstreichen, nur in sehr niedrigen Stückzahlen verkauft werden,
dieser Entwicklung nicht Rechnung tragen. Das ist im Grunde verständlich,
weil sie nicht dieselbe Zielsetzung verfolgen. Eine normative Beschreibung
des Französischen, die zwangsweise begrenzt und auf die Bewahrung
der Sprache ausgerichtet sein muss, hat nicht viel gemeinsam mit
einer deskriptiven, der modernen Sprachentwicklung folgenden Arbeit.
Forum: Demnach
lässt sich also behaupten, dass die Aufnahme und Streichung
von Einträgen in den regelmäßig erscheinenden Wörterbüchern
eine Beschleunigung erfahren hat.
A. Rey: Was
die Streichung betrifft, so kann die jeweilige Politik grundverschieden
sein. Wie ich weiß, werden bei dem Wörterbuch Larousse
recht schnell archaische Einträge oder ältere Wörter
herausgenommen, um für die Neuheiten Platz zu gewinnen.
Wir haben bei
Le Robert einen etwas anderen Ansatz: Wir streichen archaische Einträge
nur dann, wenn es sich um einen technischen oder wissenschaftlichen
Archaismus handelt, d.h., wenn das Wort wissenschaftlich wirklich
nicht mehr gebraucht wird und durch einen anderen Begriff oder ein
anderes Konzept ersetzt wurde. Alle Wörter hingegen, die einen
Gesellschaftszustand zu einer bestimmten Epoche beschreiben, werden
von uns beibehalten, eventuell allerdings kürzer behandelt,
damit Balzac oder die Schriftsteller vom Anfang des 20. Jahrhunderts
weiterhin gelesen werden können. Ein Wort wie zazou z.B. ist
heute - von Anspielungen auf die Vergangenheit abgesehen - völlig
ungebräuchlich, aber insofern interessant, als es eine bestimmte
Epoche der französischen Gesellschaftsgeschichte kennzeichnet.
Darum verdient es auch, bewahrt zu werden. In diesem Sinne versuchen
wir auch eine ganze Reihe von Wörtern zu bewahren, die beispielsweise
für die Zeit der Besetzung Frankreichs durch Deutschland in
den Jahren zwischen 1941 und 1944 spezifisch sind und die von Marcel
Aymé und anderen wichtigen Schriftstellern weitergegeben
wurden. Im übrigen gibt es interessante Bemerkungen von Schriftstellern
darüber, wie man durch die Wörter die versunkene Zeit
wiederfindet. Ich erinnere mich an eine Stelle in Blanche ou l'oubli,
wo Aragon darlegt, wie das Wort gazogène, das auf eine spezifische
Antriebsform der Fahrzeuge in der Zeit des Benzinmangels verweist,
als eine Art geistiges Signal funktioniert, durch das die Atmosphäre
einer bestimmten Epoche heraufbeschworen werden kann. Wir versuchen
also diese Begriffe als ein Zeichen der Geschichte zu bewahren.
Forum: Sollte
die französische Sprache im Rahmen des schulischen Unterrichts
nicht einen größeren Platz einnehmen? Wie beurteilen
Sie den Leistungsverfall des Unterrichts?
A. Rey: Ich
glaube, dass es dabei im Grunde mehr um die Ausbildung der Lehrer
geht und auch darum, dass sie oft im Zusammenhang mit der sozialen
Zugehörigkeit stehende, außerschulische Probleme zu bewältigen
haben, für die sie nicht gewappnet sind. Es geht also um ein
Problem der gesellschaftlichen Organisation. In Bezug auf Frankreich
sind die Finanzmittel, die dem Bildungssystem zur Verfügung
gestellt werden, trotz beträchtlicher Summen immer noch unzureichend,
um die Schulsituationen, die immer komplexer und immer schwieriger
werden, in den Griff bekommen zu können. Das Französischniveau
mancher Schüler - vor allem aus Einwanderungsfamilien - ist
oftmals schlicht inexistent. Dieses Problem stellt sich bestimmt
auch in Deutschland im Zusammenhang mit der Einwanderung aus der
Türkei und ganz deutlich auch in England mit der Einwanderung
aus Jamaika, Indien und Pakistan.
Dadurch entstehen
sowohl kulturelle als auch sprachliche Probleme, die von anderen
Problemen soziokultureller Natur überlagert werden. Aus Gründen
der Haushaltszwänge wird die zu bewältigende Aufgabe oftmals
unterschätzt. Mit Ausdrücken wie Leistungsverfall muss
man allerdings sehr behutsam umgehen, weil seitens des französischen
Bildungssystems beträchtliche Anstrengungen unternommen werden
und oftmals eine beachtliche Leistung von den Lehrern erbracht wird.
Sie stoßen nicht selten auf Schwierigkeiten, die die Probleme
bei weitem übersteigen, mit denen sie konfrontiert waren, als
sie noch lediglich deutlich homogenere Klassenverbände mit
viel geringeren Schülerzahlen unterrichteten. Zwischen städtischem
und ländlichen Umfeld waren die Schwierigkeiten vor allem regionaler
und sozialer Natur. Inzwischen hat sich die Situation deutlich verkompliziert.
Es ist also
unbestreitbar, dass man dem Französischunterricht in der Schule
und damit auch der Grammatik, dem Wortschatz, der Rechtschreibung
und dem eigentlichen Sprachgebrauch eine wichtigeren Stellung zuweisen
sollte. Man vergisst allzu oft, dass die Qualität des Unterrichts
in Mathematik, Geologie, Anatomie, den Fremdsprachen usw. auch von
der Unterrichtsqualität des Französischen abhängt.
Theoretisch müsste es eigentlich sogar für jede Form des
Lernens eine eigene Sprachvermittlung geben.
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(1) Claude Duneton, La mort du français,
Paris, Plon, 1999.
Übersetzung
Forum (MT)
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