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• Von der Demokratie in Amerika. Mit oder ohne Tocqueville ?

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Ein Sonderheft zu dem Thema der Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten kann ohne einen der in Übersee wohl bekanntesten Autoren kaum auskommen: Alexis de Tocqueville. Patrick Thierry, Spezialist für angelsächsische Philosophie, zeigt uns in seinem Artikel, wie modern die Sichtweise und das Denken dieses Autors auch heute noch ist, selbst wenn das Amerika unserer Tage sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt hat. In dem Artikel geht es auch um den Versuch diverser geistiger und politischer Strömungen Alexis de Tocqueville zu vereinnahmen, wobei dieses Bemühen vor allem bei der Kontroverse aus Anlass der neuesten amerikanischen Übersetzung Von der Demokratie in Amerika deutlich zutage tritt. Patrick Thierry seziert dabei die wichtigsten Mythen, die Tocqueville und seine Schriften begleiten, und betont, wie aktuell seine Ausführungen über die Gesellschaft und das politische System in Amerika heute immer noch sind. © 2001
Patrick THIERRY - Philosoph - Politische und Moralphilosophie


Lässt sich die amerikanische Demokratie heute noch ohne den Beitrag der Demokratie in Amerika verstehen? Oder sollte Tocqueville etwa den Theoriediskussionen über diesen Gegenstand einen in gewisser Hinsicht umvermeidbaren Rahmen vorgegeben haben, ohne den man nur mühsam sein Heil findet? Die Verärgerung derjenigen, die Tocqueville überwinden wollen (beyond Tocqueville), ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis seines auch weiterhin bestehenden Einflusses, als wäre er zu einer grundlegenden Referenz der amerikanischen Kultur geworden: Er wird von der politischen Klasse jedweder Couleur zitiert, sorgt regelmäßig für eine Vielzahl an Arbeiten und Kommentaren (einer der besten Tocqueville-Kenner, Jean-Claude Lamberti, stellte sich sogar die Frage, ob er nicht inzwischen eher ein amerikanischer denn ein französischer Autor sei) und stand auch im Mittelpunkt einer aufgeregten Debatte im Jahre 2000 im Zusammenhang mit der von Harvey C. Mansfield et Delba Winthrop besorgten Neuübersetzung seines Buches Von der Demokratie in Amerika. Kurz nach ihrem Erscheinen wurde sie nämlich als "rechtslastig" bezeichnet und ein jeder dazu aufgefordert, sich zu einem Lager zu bekennen(1). Auch vorher fehlte es den "linken" Tocqueville-Exegeten (die die Schwäche des Bundesstaates beklagen) und den "rechten" Tocqueville-Interpreten (die die erdrückende Macht des Bundesstaates anprangern) allerdings nicht an Gelegenheiten zur Auseinandersetzung. Ein anderer Tocqueville-Spezialist, Seymour Drescher, hat in einem kürzlich erschienenen Artikel daran erinnert, dass die Angriffe letzterer auf den Wohlfahrtsstaat auf der Neuauflage eines vergessenen Textes von Tocqueville über den Pauperismus(2) gründen. Die Folgen der Reise Tocquevilles und Beaumonts nach Amerika sind also immer noch nicht verhallt. Ganz im Gegenteil: Diese Episode stellt neben der Einberufung des Kolonialkongresses, der letztlich zur Unabhängigkeit führte, oder auch der allgemeinen Debatte im Vorfeld zu der Verabschiedung der Bundesverfassung zu den Gründungsmythen, die die Amerikaner in steter Regelmäßigkeit abrufen. Sie bildet gewissermaßen eine Bestätigung, die Einsicht einer gewonnenen Reife. Dazu bedurfte es eines unvoreingenommenen, neugierigen Blickwinkels, der nur von Außen kommen konnte. Dieser Blickwinkel von Außen, der von einer traditionell zur Selbstbeschau neigenden Kultur verinnerlicht wurde, hat in die amerikanische Vorstellungswelt Eingang gefunden. Die historische Gestalt verliert dabei bisweilen an Schärfe. Es wurden sogar die fiktiven Zitate Tocquevilles zusammengetragen, die in der Öffentlichkeit auftauchen und die dem Redner den postumen Segen Alexis de Tocquevilles einbringen sollen. Das gilt z.B. auch für das von Ronald Reagan aufgegriffene Zitat: "Amerika ist groß, weil Amerika gut ist. Wenn Amerika irgendwann nicht mehr gut sein sollte, wird Amerika auch nicht mehr groß sein". Amerika holt sich bei diesem atypischen Aristokraten immer wieder die Bestätigung seines beispielhaften Schicksals.

Sind die Thesen Tocquevilles über die amerikanische Gesellschaft aber von diesem Mythos einmal abgesehen immer noch aktuell? Die Stoßrichtung, die sich aus Von der Demokratie in Amerika herausschält und die deutlicher noch im zweiten Teil zutage tritt, ist nicht nur geographischer Natur: Es geht darum, das einheitliche Prinzip einer Reihe von z.B. kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Gesellschaftsphänomenen zu erfassen, die in der modernen Welt wirksam sind, einen, wie es bei Max Weber heißt, "Idealtypus" der demokratischen Gesellschaft zu konstruieren. Die amerikanische Gesellschaft nähert sich diesem aufgrund ihrer Jugend und ihrer Entstehungsbedingungen an, durch die sie mit der geschichtlichen Entwicklung im Einklang ist. Während in den alten europäischen Nationen in unterschiedlichem Mischungsverhältnis demokratische Formen mit älteren hierarchischen und autoritären Strukturen koexistieren, sind die Amerikaner aufgrund ihrer besonderen geschichtlichen Entwicklung in einer von Natur aus demokratischen Kultur "geboren".

Diese Übereinstimmung mit einer rein demokratischen Gesellschaft wird durch die Homogenität der damaligen angelsächsischen und protestantischen Gesellschaft erleichtert. Ein Konsens hinsichtlich der grundsätzlichen Aspekte des Protestantismus und eine politische Tradition, die eine Selbstverwaltung beinhaltet, finden sich in den verschiedenen Gruppen. Der heutigen amerikanischen Gesellschaft ist diese kulturelle, religiöse und auch sprachliche Homogenität verloren gegangen, was die Bestimmung eines amerikanischen Nationaltyps erschwert. Auch wenn Tocqueville bei der Frage nach einem "Nationalcharakter" vorsichtig zu Werke geht, ist für ihn die Sache relativ einfach, gerade weil der Charakter auf der Basis einer Systematisierung bestimmter, schon in der britischen Gesellschaft vorzufindender Merkmale abgeleitet wird. Das besondere Verhalten der protestantischen Minderheiten, die den Großteil der Immigranten stellten, bildete das Modell für die dominanten Merkmale der neuen Kultur. In dieser Hinsicht kann er teilweise auf die Erwartungen seines Freundes, des Philosophen John Stuart Mill, antworten, der sich gerade um die Definition des Begriffs Nationalcharakter bemüht, der aber auch den "Provinzialismus" der amerikanischen Gesellschaft, eine Art Auswuchs der britischen Mittelklasse, hervorhebt. Tocqueville befasst sich aber gar nicht so sehr mit diesem Aspekt als mit den neuesten und augenfälligsten allgemeinen Merkmalen der Sozialbeziehungen in Amerika, die auch die heutigen Leser noch ansprechen:

- Der Unternehmergeist, der in einer Gesellschaft verbreitet ist, die die Initiativfähigkeiten jedes Einzelnen aus den Zwängen der Tradition gelöst hat. Er erfährt immer wieder einen neuen Anreiz durch die Gelegenheiten, die sich ihm darbieten. In der amerikanischen Gesellschaft ist jederzeit ein Neuanfang möglich. (Tocqueville erinnert z.B. daran, dass, was in Europa als skandalös gilt - Konkurs -, in Amerika mit Gelassenheit hingenommen wird). Diese unablässige Aktivität, die genauso wenig Grenzen kennt wie der Aneignungsprozess selbst, hat zur Folge, dass der demokratische Mensch inmitten seines Wohlstandes in einer Art Unruhe lebt, von der ihn nichts befreien kann.

- Die Gewohnheit, jede bestehende Autorität, die man persönlich rechtfertigen können muss, in Frage zu stellen. In politischer Hinsicht beinhaltet das Entscheidungsmechanismen, die auf dem Einverständnis beruhen. In intellektueller Hinsicht bedeutet es, die Geistestätigkeit zu schätzen, die Fähigkeit jedes Einzelnen, für sich selbst zu denken. So heißt es bei Tocqueville (DA, II) z.B., dass "die Amerikaner die Werke Descartes gar nicht lesen, weil ihr gesellschaftlicher Entwicklungsstand sie von spekulativen Studien abwendet, und dass sie Maximen folgen, weil derselbe gesellschaftliche Entwicklungsstand ihren Geist naturgemäß dazu neigen lässt".

- Ein reflektierter Egoismus: Es handelt sich dabei um die Lehre des "wohl verstandenen Interesses". Jeder weiß, dass er auf die anderen und auf den Schutz durch die Gesellschaft im Allgemeinen angewiesen ist und fügt sich mühelos den Regeln des Zusammenlebens, ohne dabei das Gefühl zu haben, ein wirkliches Opfer zu bringen. Daher auch eine unbeschwerte Geselligkeit, die letztlich auf einem antizipierten wechselseitigen Nutzen beruht. Das Gleichgewicht gegenüber diesem Aspekt wird durch die Religiösität der Amerikaner gewährleistet, die ihre Beziehungen untereinander moralischen Kriterien unterwirft und eine Stütze in ihrem Leben liefert. In einer Gesellschaft, in der alles in Frage gestellt werden kann, bleibt die Religion davor somit also geschützt. Diese Lösung - die mit einer Verbindung zwischen dem Geist der Religion und dem Geist der Freiheit in Zusammenhang zu bringen ist, die in Frankreich einander gegenüberstanden - erscheint auch heute noch als ein Merkmal der amerikanischen Demokratie, das in den säkularisierteren Gesellschaften nicht zu beobachten ist.

- Die Wahrnehmung der Sozialbeziehungen als Gleiche unter Gleichen, von der Tocqueville ein allgemeines, den Demokratien eignendes Merkmal ableitet: die Leidenschaft der Gleichheit. Als starker kultureller Zug, der mit tatsächlichen Ungleichheiten durchaus vereinbar ist (das Verhältnis zwischen einem Adeligen und seinem Diener bzw. zwischen einem Kapitalisten und seinem Hausangestellten sind nicht identisch), nährt er das Bedürfnis des sozialen Aufstiegs. An dieser Stelle kann die Analyse allerdings auch eine andere Richtung einschlagen und der Blick in die Zukunft eine pessimistische Färbung annehmen: die Leidenschaft der Gleichheit kann die Leidenschaft der Freiheit ersticken. Diese Angst betrifft nicht die bestehenden demokratischen Gesellschaften, sondern die politischen Zukunft der Demokratie und nicht nur in den Vereinigten Staaten.

Wir verdanken Tocqueville den von ihm benutzten Begriff "Individualismus" (im Unterschied zum Egoismus): Er bezeichnet eine Besinnung auf sich und den Kreis seiner privaten Beziehungen, das Desinteresse an der "großen" Gesellschaft und hat zwei Konsequenzen: Konformismus und Verlust des Bürgergeistes. In einer Gesellschaft, in der sich trotz der sozialen Statusunterschiede die Individuen tendenziell als Gleiche betrachten, wird das Denken höchst wahrscheinlich von der öffentlichen Meinung angeleitet. Jeder Einzelne glaubt, dass seine Meinung genauso viel Wert besitzt wie die Meinung der Anderen, mit der Folge, dass es keine Unterschiede mehr zwischen ihnen gibt. Die Wahrheit wird demgemäß durch die Summe der Meinungen, als ein Mehrheitseffekt definiert. Die "Tyrannei der Mehrheit" spielt nicht nur mit dem spontanen Kartesianismus der Amerikaner übel mit, sondern hat auch zur Folge, dass die Wahrheit gegen die Vorurteile, wie sie der demokratischen Gesellschaft eignen (Suche nach Konsens, Bemühen, nicht ausgeschlossen zu werden), nicht unbedingt etwas auszurichten vermag. Bereits in der Demokratie in Amerika wurde festgestellt, dass die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten in einer ständigen Selbstbewunderung lebt.

Eine weitere Folge besteht in dem fehlenden Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, in einem Verlust an Bürgergeist, der auch einen Verlust an Autonomie bedeutet. Die Bürger übertragen ihre Angelegenheiten an eine Regierung, die sich um alles kümmert, und begnügen sich damit, deren Legitimität von Zeit zu Zeit mittels Wahlen zu bestätigen. Daraus entsteht notgedrungen eine mittelmäßige politische Klasse, weil die Regierungsgeschäfte in den Vereinigten Staaten relativ einfach sind (besonders erstaunt war Tocqueville über die Mittelmäßigkeit des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Andrew Jackson; die Weiterentwicklung der politischen Klasse in Amerika und insbesondere der Präsidenten sei allerdings nicht garantiert). Langfristig bestehe das Risiko (auch für Frankreich) darin, dass die Demokratie sich zu einer weichen Tyrannei auf der Basis eines allgegenwärtigen und "wohlmeinenden" Staates entwickeln könnte, demgegenüber jeder sich allein befinde. "Die Mitglieder einer demokratischen Gemeinschaft", schrieb bereits John Stuart Mill in seiner Besprechung der Demokratie in Amerika, "ähneln den Sandkörner an einem Meeresstrand, jedes einzelne ist winzig klein und geht keine Verbindungen mit den anderen ein."

Der innige Wunsch nach öffentlicher Ruhe ist die einzige politische Passion, die diese anämische Masse noch zu empfinden imstande ist. Das hat allerdings gefährliche Nebeneffekte. Tocquevilles Befürchtungen sind langfristiger Natur: Ein Prozess einer regelmäßigen Zunahme der Staatsmacht, der so unmerklich verläuft, dass sich dagegen kein Widerstand regt, ist zu einer wahrscheinlichen Möglichkeit geworden. In Bezug auf Amerika war er wegen einer fehlenden Zentralmacht weniger beunruhigt. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten aber verweist er auf einige Lösungselemente, durch die die politische Freiheit aufrechterhalten werden könne: Durch die damals herrschenden, vielfältigen Formen städtischer Demokratie und des Vereinslebens lernt das Individuum, seinen Blickwinkel zu vergrößern und Geschmack am öffentlichen Leben zu finden. Ist es denkbar, dass dieses Heilmittel immer noch abgerufen werden kann? Die Logik des Vereinslebens wurde später mit den vielfältigen Einwanderungsströmen, Verhaltensweisen und Glaubensgrundsätzen kombiniert. Das kommt bekanntlich der Entwicklung des "Multikulturalismus" zugute, die allerdings eher zur Autonomisierung bestimmter sozialer Gruppen (ethnisch, religiös, sexuelle Minderheiten) führt. Individuelle Ansprüche (wie die Gewissensfreiheit) können beispielsweise von relativ geschlossenen Gemeinschaften in identitätsstiftender und ihnen gemäßer Weise umdefiniert werden. Die Definition der Öffentlichkeit kann dadurch beeinträchtigt bzw. geschwächt werden: als Ort der Verhandlung und des Miteinanders, nicht aber notgedrungen auch als Ort der konkreten Behauptung einer Freiheit, die andernorts, in einer Reihe von Privatwelten zum Ausdruck kommt.

Es ist das Verdienst Tocquevilles auf die umfassenden Gefahren, die mit der Demokratie einhergehen, hingewiesen und sowohl eine Einzelfallstudie als auch eine allgemeine Untersuchung mit Erfolg durchgeführt zu haben. Die Amerikaner fasziniert noch heute, dass er zu ihnen und über sie spricht und dass sich das Spiegelbild offensichtlich nicht getrübt hat. Faszinierend ist ebenfalls, dass er indirekt auch zu uns und über uns spricht. Die Vereinigten Staaten sind das Laboratorium der demokratischen Gesellschaften, ihre Zukunft und gewissermaßen auch das warnende Beispiel, das ihnen vorgehalten wird. An dieser Zwiespältigkeit hat sich nichts geändert.

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(1) Vgl. "Libération", Cahiers Livres, 1. Februar 2001.
(2) S. Drescher, "L’Amérique vue par les Tocquevilliens", Raisons politiques, Nr. 1, Februar 2001, S. 65.

Übersetzung Forum (MT)



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