Lässt sich
die amerikanische Demokratie heute noch ohne den Beitrag der Demokratie
in Amerika verstehen? Oder sollte Tocqueville etwa den Theoriediskussionen
über diesen Gegenstand einen in gewisser Hinsicht umvermeidbaren
Rahmen vorgegeben haben, ohne den man nur mühsam sein Heil
findet? Die Verärgerung derjenigen, die Tocqueville überwinden
wollen (beyond Tocqueville), ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis
seines auch weiterhin bestehenden Einflusses, als wäre er zu
einer grundlegenden Referenz der amerikanischen Kultur geworden:
Er wird von der politischen Klasse jedweder Couleur zitiert, sorgt
regelmäßig für eine Vielzahl an Arbeiten und Kommentaren
(einer der besten Tocqueville-Kenner, Jean-Claude Lamberti, stellte
sich sogar die Frage, ob er nicht inzwischen eher ein amerikanischer
denn ein französischer Autor sei) und stand auch im Mittelpunkt
einer aufgeregten Debatte im Jahre 2000 im Zusammenhang mit der
von Harvey C. Mansfield et Delba Winthrop besorgten Neuübersetzung
seines Buches Von der Demokratie in Amerika. Kurz nach ihrem Erscheinen
wurde sie nämlich als "rechtslastig" bezeichnet und ein jeder
dazu aufgefordert, sich zu einem Lager zu bekennen(1). Auch vorher
fehlte es den "linken" Tocqueville-Exegeten (die die Schwäche
des Bundesstaates beklagen) und den "rechten" Tocqueville-Interpreten
(die die erdrückende Macht des Bundesstaates anprangern) allerdings
nicht an Gelegenheiten zur Auseinandersetzung. Ein anderer Tocqueville-Spezialist,
Seymour Drescher, hat in einem kürzlich erschienenen Artikel
daran erinnert, dass die Angriffe letzterer auf den Wohlfahrtsstaat
auf der Neuauflage eines vergessenen Textes von Tocqueville über
den Pauperismus(2) gründen. Die Folgen der Reise Tocquevilles
und Beaumonts nach Amerika sind also immer noch nicht verhallt.
Ganz im Gegenteil: Diese Episode stellt neben der Einberufung des
Kolonialkongresses, der letztlich zur Unabhängigkeit führte,
oder auch der allgemeinen Debatte im Vorfeld zu der Verabschiedung
der Bundesverfassung zu den Gründungsmythen, die die Amerikaner
in steter Regelmäßigkeit abrufen. Sie bildet gewissermaßen
eine Bestätigung, die Einsicht einer gewonnenen Reife. Dazu
bedurfte es eines unvoreingenommenen, neugierigen Blickwinkels,
der nur von Außen kommen konnte. Dieser Blickwinkel von Außen,
der von einer traditionell zur Selbstbeschau neigenden Kultur verinnerlicht
wurde, hat in die amerikanische Vorstellungswelt Eingang gefunden.
Die historische Gestalt verliert dabei bisweilen an Schärfe.
Es wurden sogar die fiktiven Zitate Tocquevilles zusammengetragen,
die in der Öffentlichkeit auftauchen und die dem Redner den
postumen Segen Alexis de Tocquevilles einbringen sollen. Das gilt
z.B. auch für das von Ronald Reagan aufgegriffene Zitat: "Amerika
ist groß, weil Amerika gut ist. Wenn Amerika irgendwann nicht
mehr gut sein sollte, wird Amerika auch nicht mehr groß sein".
Amerika holt sich bei diesem atypischen Aristokraten immer wieder
die Bestätigung seines beispielhaften Schicksals.
Sind die Thesen
Tocquevilles über die amerikanische Gesellschaft aber von diesem
Mythos einmal abgesehen immer noch aktuell? Die Stoßrichtung,
die sich aus Von der Demokratie in Amerika herausschält und
die deutlicher noch im zweiten Teil zutage tritt, ist nicht nur
geographischer Natur: Es geht darum, das einheitliche Prinzip einer
Reihe von z.B. kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Gesellschaftsphänomenen
zu erfassen, die in der modernen Welt wirksam sind, einen, wie es
bei Max Weber heißt, "Idealtypus" der demokratischen Gesellschaft
zu konstruieren. Die amerikanische Gesellschaft nähert sich
diesem aufgrund ihrer Jugend und ihrer Entstehungsbedingungen an,
durch die sie mit der geschichtlichen Entwicklung im Einklang ist.
Während in den alten europäischen Nationen in unterschiedlichem
Mischungsverhältnis demokratische Formen mit älteren hierarchischen
und autoritären Strukturen koexistieren, sind die Amerikaner
aufgrund ihrer besonderen geschichtlichen Entwicklung in einer von
Natur aus demokratischen Kultur "geboren".
Diese Übereinstimmung
mit einer rein demokratischen Gesellschaft wird durch die Homogenität
der damaligen angelsächsischen und protestantischen Gesellschaft
erleichtert. Ein Konsens hinsichtlich der grundsätzlichen Aspekte
des Protestantismus und eine politische Tradition, die eine Selbstverwaltung
beinhaltet, finden sich in den verschiedenen Gruppen. Der heutigen
amerikanischen Gesellschaft ist diese kulturelle, religiöse
und auch sprachliche Homogenität verloren gegangen, was die
Bestimmung eines amerikanischen Nationaltyps erschwert. Auch wenn
Tocqueville bei der Frage nach einem "Nationalcharakter" vorsichtig
zu Werke geht, ist für ihn die Sache relativ einfach, gerade
weil der Charakter auf der Basis einer Systematisierung bestimmter,
schon in der britischen Gesellschaft vorzufindender Merkmale abgeleitet
wird. Das besondere Verhalten der protestantischen Minderheiten,
die den Großteil der Immigranten stellten, bildete das Modell
für die dominanten Merkmale der neuen Kultur. In dieser Hinsicht
kann er teilweise auf die Erwartungen seines Freundes, des Philosophen
John Stuart Mill, antworten, der sich gerade um die Definition des
Begriffs Nationalcharakter bemüht, der aber auch den "Provinzialismus"
der amerikanischen Gesellschaft, eine Art Auswuchs der britischen
Mittelklasse, hervorhebt. Tocqueville befasst sich aber gar nicht
so sehr mit diesem Aspekt als mit den neuesten und augenfälligsten
allgemeinen Merkmalen der Sozialbeziehungen in Amerika, die auch
die heutigen Leser noch ansprechen:
- Der Unternehmergeist,
der in einer Gesellschaft verbreitet ist, die die Initiativfähigkeiten
jedes Einzelnen aus den Zwängen der Tradition gelöst hat.
Er erfährt immer wieder einen neuen Anreiz durch die Gelegenheiten,
die sich ihm darbieten. In der amerikanischen Gesellschaft ist jederzeit
ein Neuanfang möglich. (Tocqueville erinnert z.B. daran, dass,
was in Europa als skandalös gilt - Konkurs -, in Amerika mit
Gelassenheit hingenommen wird). Diese unablässige Aktivität,
die genauso wenig Grenzen kennt wie der Aneignungsprozess selbst,
hat zur Folge, dass der demokratische Mensch inmitten seines Wohlstandes
in einer Art Unruhe lebt, von der ihn nichts befreien kann.
- Die Gewohnheit,
jede bestehende Autorität, die man persönlich rechtfertigen
können muss, in Frage zu stellen. In politischer Hinsicht beinhaltet
das Entscheidungsmechanismen, die auf dem Einverständnis beruhen.
In intellektueller Hinsicht bedeutet es, die Geistestätigkeit
zu schätzen, die Fähigkeit jedes Einzelnen, für sich
selbst zu denken. So heißt es bei Tocqueville (DA, II) z.B.,
dass "die Amerikaner die Werke Descartes gar nicht lesen, weil ihr
gesellschaftlicher Entwicklungsstand sie von spekulativen Studien
abwendet, und dass sie Maximen folgen, weil derselbe gesellschaftliche
Entwicklungsstand ihren Geist naturgemäß dazu neigen
lässt".
- Ein reflektierter
Egoismus: Es handelt sich dabei um die Lehre des "wohl verstandenen
Interesses". Jeder weiß, dass er auf die anderen und auf den
Schutz durch die Gesellschaft im Allgemeinen angewiesen ist und
fügt sich mühelos den Regeln des Zusammenlebens, ohne
dabei das Gefühl zu haben, ein wirkliches Opfer zu bringen.
Daher auch eine unbeschwerte Geselligkeit, die letztlich auf einem
antizipierten wechselseitigen Nutzen beruht. Das Gleichgewicht gegenüber
diesem Aspekt wird durch die Religiösität der Amerikaner
gewährleistet, die ihre Beziehungen untereinander moralischen
Kriterien unterwirft und eine Stütze in ihrem Leben liefert.
In einer Gesellschaft, in der alles in Frage gestellt werden kann,
bleibt die Religion davor somit also geschützt. Diese Lösung
- die mit einer Verbindung zwischen dem Geist der Religion und dem
Geist der Freiheit in Zusammenhang zu bringen ist, die in Frankreich
einander gegenüberstanden - erscheint auch heute noch als ein
Merkmal der amerikanischen Demokratie, das in den säkularisierteren
Gesellschaften nicht zu beobachten ist.
- Die Wahrnehmung
der Sozialbeziehungen als Gleiche unter Gleichen, von der Tocqueville
ein allgemeines, den Demokratien eignendes Merkmal ableitet: die
Leidenschaft der Gleichheit. Als starker kultureller Zug, der mit
tatsächlichen Ungleichheiten durchaus vereinbar ist (das Verhältnis
zwischen einem Adeligen und seinem Diener bzw. zwischen einem Kapitalisten
und seinem Hausangestellten sind nicht identisch), nährt er
das Bedürfnis des sozialen Aufstiegs. An dieser Stelle kann
die Analyse allerdings auch eine andere Richtung einschlagen und
der Blick in die Zukunft eine pessimistische Färbung annehmen:
die Leidenschaft der Gleichheit kann die Leidenschaft der Freiheit
ersticken. Diese Angst betrifft nicht die bestehenden demokratischen
Gesellschaften, sondern die politischen Zukunft der Demokratie und
nicht nur in den Vereinigten Staaten.
Wir verdanken
Tocqueville den von ihm benutzten Begriff "Individualismus" (im
Unterschied zum Egoismus): Er bezeichnet eine Besinnung auf sich
und den Kreis seiner privaten Beziehungen, das Desinteresse an der
"großen" Gesellschaft und hat zwei Konsequenzen: Konformismus
und Verlust des Bürgergeistes. In einer Gesellschaft, in der
sich trotz der sozialen Statusunterschiede die Individuen tendenziell
als Gleiche betrachten, wird das Denken höchst wahrscheinlich
von der öffentlichen Meinung angeleitet. Jeder Einzelne glaubt,
dass seine Meinung genauso viel Wert besitzt wie die Meinung der
Anderen, mit der Folge, dass es keine Unterschiede mehr zwischen
ihnen gibt. Die Wahrheit wird demgemäß durch die Summe
der Meinungen, als ein Mehrheitseffekt definiert. Die "Tyrannei
der Mehrheit" spielt nicht nur mit dem spontanen Kartesianismus
der Amerikaner übel mit, sondern hat auch zur Folge, dass die
Wahrheit gegen die Vorurteile, wie sie der demokratischen Gesellschaft
eignen (Suche nach Konsens, Bemühen, nicht ausgeschlossen zu
werden), nicht unbedingt etwas auszurichten vermag. Bereits in der
Demokratie in Amerika wurde festgestellt, dass die öffentliche
Meinung in den Vereinigten Staaten in einer ständigen Selbstbewunderung
lebt.
Eine weitere
Folge besteht in dem fehlenden Interesse an den öffentlichen
Angelegenheiten, in einem Verlust an Bürgergeist, der auch
einen Verlust an Autonomie bedeutet. Die Bürger übertragen
ihre Angelegenheiten an eine Regierung, die sich um alles kümmert,
und begnügen sich damit, deren Legitimität von Zeit zu
Zeit mittels Wahlen zu bestätigen. Daraus entsteht notgedrungen
eine mittelmäßige politische Klasse, weil die Regierungsgeschäfte
in den Vereinigten Staaten relativ einfach sind (besonders erstaunt
war Tocqueville über die Mittelmäßigkeit des damaligen
Präsidenten der Vereinigten Staaten, Andrew Jackson; die Weiterentwicklung
der politischen Klasse in Amerika und insbesondere der Präsidenten
sei allerdings nicht garantiert). Langfristig bestehe das Risiko
(auch für Frankreich) darin, dass die Demokratie sich zu einer
weichen Tyrannei auf der Basis eines allgegenwärtigen und "wohlmeinenden"
Staates entwickeln könnte, demgegenüber jeder sich allein
befinde. "Die Mitglieder einer demokratischen Gemeinschaft", schrieb
bereits John Stuart Mill in seiner Besprechung der Demokratie in
Amerika, "ähneln den Sandkörner an einem Meeresstrand,
jedes einzelne ist winzig klein und geht keine Verbindungen mit
den anderen ein."
Der innige
Wunsch nach öffentlicher Ruhe ist die einzige politische Passion,
die diese anämische Masse noch zu empfinden imstande ist. Das
hat allerdings gefährliche Nebeneffekte. Tocquevilles Befürchtungen
sind langfristiger Natur: Ein Prozess einer regelmäßigen
Zunahme der Staatsmacht, der so unmerklich verläuft, dass sich
dagegen kein Widerstand regt, ist zu einer wahrscheinlichen Möglichkeit
geworden. In Bezug auf Amerika war er wegen einer fehlenden Zentralmacht
weniger beunruhigt. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten aber verweist
er auf einige Lösungselemente, durch die die politische Freiheit
aufrechterhalten werden könne: Durch die damals herrschenden,
vielfältigen Formen städtischer Demokratie und des Vereinslebens
lernt das Individuum, seinen Blickwinkel zu vergrößern
und Geschmack am öffentlichen Leben zu finden. Ist es denkbar,
dass dieses Heilmittel immer noch abgerufen werden kann? Die Logik
des Vereinslebens wurde später mit den vielfältigen Einwanderungsströmen,
Verhaltensweisen und Glaubensgrundsätzen kombiniert. Das kommt
bekanntlich der Entwicklung des "Multikulturalismus" zugute, die
allerdings eher zur Autonomisierung bestimmter sozialer Gruppen
(ethnisch, religiös, sexuelle Minderheiten) führt. Individuelle
Ansprüche (wie die Gewissensfreiheit) können beispielsweise
von relativ geschlossenen Gemeinschaften in identitätsstiftender
und ihnen gemäßer Weise umdefiniert werden. Die Definition
der Öffentlichkeit kann dadurch beeinträchtigt bzw. geschwächt
werden: als Ort der Verhandlung und des Miteinanders, nicht aber
notgedrungen auch als Ort der konkreten Behauptung einer Freiheit,
die andernorts, in einer Reihe von Privatwelten zum Ausdruck kommt.
Es ist das
Verdienst Tocquevilles auf die umfassenden Gefahren, die mit der
Demokratie einhergehen, hingewiesen und sowohl eine Einzelfallstudie
als auch eine allgemeine Untersuchung mit Erfolg durchgeführt
zu haben. Die Amerikaner fasziniert noch heute, dass er zu ihnen
und über sie spricht und dass sich das Spiegelbild offensichtlich
nicht getrübt hat. Faszinierend ist ebenfalls, dass er indirekt
auch zu uns und über uns spricht. Die Vereinigten Staaten sind
das Laboratorium der demokratischen Gesellschaften, ihre Zukunft
und gewissermaßen auch das warnende Beispiel, das ihnen vorgehalten
wird. An dieser Zwiespältigkeit hat sich nichts geändert.
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(1) Vgl.
"Libération", Cahiers Livres, 1. Februar 2001.
(2) S. Drescher, "LAmérique vue par les Tocquevilliens",
Raisons politiques, Nr. 1, Februar 2001, S. 65.
Übersetzung
Forum (MT)
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