Bei den Feiern
zum vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik im Frühjahr
1989 schien die "deutsche" Nation ihre Bindekraft verloren
zu haben. Der Bonner Staat -so hieß es mit Karl Dietrich Bracher-
sei eine geglückte "postnationale Demokratie". Sie
gründe auf Verfassungspatriotismus. Bereits wenige Monate später,
mit dem Fall der Berliner Mauer, wurde dieser Konsens immer offener
und mit einer zuvor unvorstellbaren Breite und Vielstimmigkeit in
Frage gestellt. Die Republik müsse sich wieder als Deutsche
Nation" verstehen. Gerade, als deutsche" Nation,
gewinne die politische Gemeinschaft der neuen nunmehr "gesamtdeutschen"
Bundesrepublik ihre politische Legitimität[
]
Sowohl bei
der politischen Einigung Europas wie in dem Streit, ob Fremde und
fremde Kulturtraditionen in der Bundesrepublik Deutschland heimisch
werden dürfen, geht es letztlich um die Alternative Nation
oder Republik - um den fundamentalen Gegensatz zwischen der kollektiven
Kultur der Nation und dem kulturellen Individualismus und Pluralismus
des modernen Verfassungsstaates, der Republik. Die Absage an das
überlieferte kollektive nationale" Kulturverständnis
und die Entscheidung für eine individualistische republikanische
Kultur würde ideologisch den Weg für die politische Einigung
Europas öffnen und die Integration von ursprünglich Fremden
und Fremdem in unsere politische Gemeinschaft legitimieren. [
]
1. Die Kultur
der Nation und der Republik
Die Geschichte
der modernen Nationalstaaten wird seit ihren Anfängen in der
französischen Revolution und der amerikanischen Staatsgründung
von der Spannung zwischen dem Partikularismus der Nation und dem
weltbürgerlichen Universalismus der Republik, des demokratischen
Verfassungsstaates, bestimmt. Alle derzeitigen Nationalstaaten sind
in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Nation
und Republik zugleich.
Nation steht
für das Partikulare, mit dem sich Staaten voneinander abgrenzen,
Republik hingegen für das weltbürgerliche Fundament des
modernen Verfassungsstaates, für universal gültige Menschenrechte
und für die Ableitung der Rechte der Bürger aus der Natur
des Menschen.
Kollektive
nationale Eigenschaften oder Werte, kollektive Kulturen [
]
bilden die politische Substanz der Nation. Ihr müssen sich
die Bürger unterordnen, sie bewahren und vor Gefährdungen
schützen. Die Nation legitimiert aus ihr die eigene Existenz.
In politischen
Gemeinschaften, die sich primär als Nationen verstehen, haben
fremde" kulturelle Überlieferungen und Werte keinen
legitimen Platz. Legitim sind nur nationale" Kulturgüter.
So gibt es hier eine nationale Religion oder Konfession, nationale
Dichtung, Musik und Malerei, nationale Natur, Kleidung, und Verhaltensweisen.
[
]
Im ethno-kulturellen
Nationalismus bilden Staatsvolk und Nationalkultur eine naturwüchsige
Einheit. Daher können und dürfen ethno-kulturelle Minderheiten
nicht in die Nation assimiliert werden. Da Minderheiten die Einheit
der Nation gefährden, dürfen sie nicht nur unterdrückt,
sondern in "ethnischen Säuberungen" aus der politischen
Gemeinschaft vertrieben oder sogar physisch vernichtet werden. Beispiele
hierfür sind die Vernichtung der armenischen Minderheit in
Anatolien, die Genozide und Vertreibungen von Griechen und Türken
nach dem ersten Weltkrieg, die Vernichtung artfremder"
Völker im Holocaust, die Verfolgung und Vertreibungen deutscher
Minderheiten in Ost und Südosteuropa , sowie in jüngster
Zeit die ethnischen Säuberungen in Bosnien Herzegowina.
Nach der inneren
Logik der Ideologien der Nation, sind die Inhalte oder Güter
der kollektiven Nationalkultur angeblich alle auf dem Humus der
eigenen nationalen Überlieferung gewachsen, obwohl gerade dieses
Axiom allem widerspricht, was wir über die Geschichte der Kulturen
wissen.
In Wirklichkeit
entstand keine Kultur aus sich selbst heraus. Alle Kulturen haben
sich in einer langen Geschichte kulturellen Austausches grenz- und
völkerübergreifend gebildet. Dazu gab es auch über
Neuinterpretationen immer wieder Veränderungen und Pluralität.
In diesem Sinne waren und sind alle uns bekannten Kulturen inhomogene,
multikulturelle und dynamisch sich immer wieder verändernde
Gebilde. Oder traditioneller ausgedrückt: alle Kulturen waren
und sind pluralistisch. [
]
Die politische
Substanz der Republik ist, im Unterschied zur kollektiven Kultur
der Nation, die individuelle kulturelle Freiheit ihrer Bürger,
- die Freiheit der Meinung, Weltanschauung und Religion. Daher ist
die Kultur der Republik immanent pluralistisch und keine dinghaft
vorgegebene kollektive Orientierungsgröße. Sie ist offen
für Fremde und Fremdes.
Der republikanische
Verfassungsstaat schützt die individuelle Freiheit der Kultur,
damit aber zugleich kulturelle Vielfalt und Dynamik. Er ist deshalb
nicht nur faktisch, sondern auch de lege, ja konstitutionell pluralistisch.
In der Geschichte
des westlichen Verfassungsstaates war und ist die Freiheit der Kultur,
die Freiheit der Religion und der Weltanschauung, die Mutter der
politischen Freiheit. Die Geburt des modernen Verfassungsstaates
bildete den Schlusspunkt einer jahrhundertelangen Geschichte religiöser
Bürgerkriege Europas. So wurde Amerika, die älteste westliche
Demokratie, als Fluchtburg für religiös Verfolgte und
als Heimstatt für Gläubige unterschiedlicher Konfessionen
gegründet. Zum Schutz der individuellen religiösen Freiheit
und religiösen Praxis gegen Eingriffe des Staates wurde die
Trennung von Staat und Kirche postuliert. Für die Sicherung
des kulturellen Pluralismus musste der Staat eine weltanschaulich
neutrale Instanz, ein säkularer Staat werden. [
]
Der Schutz
der individuellen kulturellen Freiheit durch die Verfassung hat
die zwingende Konsequenz, dass die Republik keine für alle
Bürger verbindliche kollektive Religion oder Kultur haben und
sich auf sie berufen kann. Jeder Versuch, einem Deutschen oder Amerikaner
eine bestimmte Religion, Konfession oder Kultur als nationale Pflicht
oder Eigenschaft vorzuschreiben, wäre ein Anschlag auf den
Geist und die Bestimmungen ihrer Verfassungen. Die Kultur der Bundesrepublik
Deutschland etwa ist stets der gesamte und in sich sehr vielfältige
Güterkorb der kulturellen Werte aller ihrer Staatsbürger.
Formeln wie die" deutsche oder amerikanische Kultur widersprechen
dem pluralistischen und national" nicht verortbaren Charakter
der Kultur des Verfassungsstaates. Was z.B. das Wesen des Deutschen
ausmacht oder unser Verständnis von deutscher Nation sind eine
Frage der subjektiven Interpretation und des Meinens. Kulturelle
Überlieferungen und Werte werden als selektive individuelle
Entscheidung angeeignet, die für die übrigen Bürger
nicht zwingend verbindlich sein müssen. [
]
Die individuelle
kulturelle Freiheit und der durch sie begründete kulturelle
Pluralismus machen die Kultur der Republik, das komplexe Amalgam
der kulturellen Werte und Güter ihrer Bürger, zu einem
permanenten Prozess des Wandels individueller oder kollektiver kultureller
Präferenzen. In diesem Prozess ist es legitim, wenn sich einzelne
Bürger oder bestimmte Gruppen engagiert für die Erhaltung
und auch Verbreitung von Überlieferungen einsetzen, die ihnen
selbst lieb und teuer sind. Solche Überlieferungen dürfen
jedoch nicht mit der Kultur der Republik verwechselt werden. [
]
Wenn etwa in der Bundesrepublik Deutschland die Zahl der Staatsbürger
muslimischen Glaubens zunimmt, werden religiöse Überlieferungen
des Islam noch mehr zu einem Bestandteil der Kultur Deutschlands
werden. [
]
2. Die Politische
Integration von Fremden in die Republik
Wie integrieren
Republiken Einwanderer ohne Rückgriff auf eine Politik der
Assimilierung oder des Multikulturalismus? Wie werden aus Einwanderern
gute Patrioten?
Da allen Bürgern
ohne Ansehung ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Religion oder
Weltanschauung kulturelle Freiheit gewährt werden muss, können
Einwanderer nur über politische Integration Patrioten werden.
Der normative
Rahmen der politischen Integration von Fremden wird in Art. 3 Abs.
3 GG umrissen: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner
Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft,
seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen
benachteiligt oder bevorzugt werden."
Im Sinne dieser
Forderung des Grundgesetzes gründet politische Integration
darauf, dass Einwanderern all das eingeräumt wird, was allen
Bürgern gewährt werden muss: politische Gleichberechtigung,
soziale Solidarität, kulturelle Freiheit und kultureller Pluralismus.
Politische
Gleichberechtigung macht die Einbürgerung notwendig, Solidarität
die soziale Integration. Bei sozialer Benachteiligung von Einwanderern
ist die Sozialpolitik ebenso wie bei anderen benachteiligten Bürgern
gefordert. Kulturelle Freiheit muss wiederum in dem Umfang gewährt
werden, wie sie allen Bürgern eingeräumt wird.
Dass die politische
Integration mittel- und längerfristig mit wirtschaftlicher
und sozialer Chancengleichheit kombiniert werden muss, ergibt sich
aus der Wertesubstanz republikanischer Verfassungen. Die Geschichte
von Einwanderung zeigt allerdings, dass soziale Chancengleichheit
immer nur über längere Zeiträume, meistens innerhalb
der Generationenfolge, erreicht werden konnte. Aber zumindest diese
Möglichkeit muss gewährt werden.
Gerade die
kulturelle Freiheit ist, wie die Geschichte Amerikas zeigt, die
wichtigste Voraussetzung für politische Integration. Im Gegensatz
zu immer noch gängigen hiesigen Vorstellungen über den
amerikanischen Schmelztiegel wurden die Einwanderer
nur sprachlich und im Alltag des industriellen Wohlfahrtkonsums
assimiliert. Im eigentlichen Kernbereich ihrer Kultur - ihren religiösen
Überlieferungen - wurde ihnen jedoch die Freiheit des religiösen
Bekenntnisses gewährt. Die eingewanderten Katholiken, Lutheraner,
Juden, Moslems und andere religiöse Gruppen oder Konfessionen
konnten ihren Glauben beibehalten, in vielfältigen Formen freiwilliger
Zusammenschlüsse ihre Überlieferungen pflegen und in die
Kultur der amerikanischen Republik einbringen. Trotz unterschiedlicher
ethnischer Herkunft und Kultur durften sie alle amerikanische Staatsbürger
werden. Und gerade deswegen konnten sie gute amerikanische Patrioten
werden. [
]
3.Politische
Vergemeinschaftung in Deutschland: Republikanischer Patriotismus
- der Verfassungs-patriotismus
Was stiftet
politische Einheit in der Republik in und trotz kultureller Vielfalt?
Für die Bürger der Republik sind allein der normative
Gehalt der Verfassung, deren Verfahrensregeln und Institutionen
verbindlich. Daher kann nur die Verfassung den Kristallisationskern
und den Rahmen der politischen Integration der Republik, ihrer politischen
Vergemeinschaftung und Einheit, bilden. Der Patriotismus der Republik
ist somit ein politischer, auf die republikanische Ordnung und ihre
Normen bezogener und aus ihnen begründeter Verfassungspatriotismus.
Verfassungspatriotismus
wird gelebt, wenn die Institutionen, Verfahrensregeln und politischen
Werte der Republik, insbesondere aber die Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit
und soziale Solidarität, die Integrationspole und den Integrationshorizont
der politischen Vergemeinschaftung bilden. Patriotismus der Republik,
republikanischer Patriotismus und Verfassungspatriotismus sind austauschbare
Begriffe.
Die Republik
ist immer Programm und Aufgabe. Sie wächst oder verkümmert
je nach den Erfolgen oder Misserfolgen bei der Konkretisierung ihrer
eigenen konstitutiven Institutionen und Werte. Die Republik wird
an ihren Leistungen gemessen. Wenn sie ihre eigenen Normen missachtet
und ihre Institutionen verkommen, verliert sie Legitimität.
Republiken
entstehen in der Regel durch bewusste Gründung und als Bruch
mit bisheriger eigener Geschichte Als Willens- und Vertragsgemeinschaften
(Bund" bzw. Covenant") sind sie weit mehr
als jede andere Staatsform auf die Zustimmung ihrer Bürger,
auf Patriotismus, angewiesen.[
]
Die Bonner
Republik war als Provisorium bis zum Tage der Wiedervereinigung
der deutschen Nation konzipiert worden. Wie die meisten Zeitgenossen
in Deutschland und Europa waren ihre Verfassungsväter noch
von den ideologischen Überlieferungen der Nation geprägt.
Auch durch Artikel 116 GG zur Aufnahme von Vertriebenen und Volksdeutschen
sollte sie primär eine politische Heimstätte für
Deutsche sein.
Mit anhaltender
Teilung wurde die Vereinigung der beiden deutschen Staaten von den
meisten nicht mehr für möglich gehalten. So konnte sich
der Bonner Staat jetzt nur noch als Verfassungsstaat, als Republik,
legitimieren. Auf dem Hintergrund dieser geschichtlichen Konstellation
prägte der Poltikwissenschaftler Dolf Sternberger den Begriff
des Verfassungspatriotismus.
Der deutsche
Nationalismus hatte im Inferno zweier Weltkriege und ihrer Katastrophenbilanz
seine ursprüngliche vulkanische Kraft verloren. Der Glaube
an die Auserwähltheit und Vorbildhaftigkeit der deutschen Nation
unter allen anderen Nationen, die ideologische Grundlage aller Nationalismen,
war schwach geworden. Noch vorhandenes nationales" Identitätsbewusstsein
verlor mit den Enthüllungen über die grauenhaften Verbrechen,
die von Deutschen unter Hitler begangen worden waren, weitere Bindekraft.
Trotz dieser
ideologischen Abwertung der Nation wurde die neue Republik von ihren
Bürgern anfänglich wenig geliebt. Geschätzt wurde
sie zunächst vor allem wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge.
Erst allmählich wurden auch ihre politischen Institutionen
und Werte angenommen. Zahlreiche Umfragen verdeutlichen diesen Prozess.
Bei der Frage worauf sich ihr Stolz als Deutscher am meisten"
gründe, hatten 1957 nur 7 %, 1978 schon 31 % und 1992 bereits
50 % der Befragten politische Institutionen und Werte genannt. Dieser
Trend setzte sich in den folgenden Jahren nochmals fort. Bei der
Überprüfung und Messung der gefühlsmäßigen
(affektiven") Bedeutung des Grundgesetzes, der Wirtschaft
oder von Wissenschaft und Kunst in Umfragen wurde 1994 das Grundgesetz
in den alten Bundesländern mit deutlichem Abstand an erster
Stelle (53 %) vor Wirtschaft (47%), und Wissenschaft (35%) genannt.
Klassische unpolitische nationale" Identifikationsmuster,
wie deutsche Kultur (22% ), Sport (18%) oder Schönheit
der deutschen Landschaft" (14%) hatten erneut an Bedeutung
verloren. Trotz dieses deutlichen tiefgreifenden Wandels in der
politischen Kultur der alten Bundesländer gibt es im Vergleich
zu anderen westlichen Demokratien immer noch erhebliche Defizite
ihres Republikanismus. Bei der Frage, worauf der Stolz auf das eigene
Land am meisten gründe", werden in den Vereinigten
Staaten seit je konstant von 85% der Befragten politische Institutionen
genannt (BRD zuletzt 53%). Unpolitische Werte wie Leistungen der
Wirtschaft (23%), Nationalkultur (7 %), Kunst und Wissenschaft (4%
), Schönheit der Landschaft (5%) haben einen weit geringeren
Stellenwert als in den alten Ländern. Die Befragungsergebnisse
in den neuen Bundesländern, gleichen weitgehend denen Westdeutschlands
in den ersten beiden Nachkriegsdekaden. Wirtschaft, Wissenschaft
und Kultur liegen mit großem Abstand vor politischen Institutionen
und Werten. Diese Daten zeigen nicht nur die anhaltende mentale
politische Teilung an, sondern auch zusätzliche Aufgaben für
den weiteren Ausbau der republikanischen politischen Kultur Deutschlands.
[
]
Zur kulturellen
Pluralisierung der Bundesrepublik trug schließlich ganz entscheidend
die Zuwanderung von sieben Millionen Ausländern bei. In einigen
großstädtischen Ballungsräumen wie Stuttgart oder
München stellen sie inzwischen über 30 % der Wohnbevölkerung.
In manchen Schulen sind die Kinder von Ausländern schon heute
in der Mehrheit. Bemerkenswert ist auch die von der Öffentlichkeit
bisher kaum zur Kenntnis genommene Zunahme der Einbürgerung
von Ausländern. Während die Zahl der Einbürgerungen
noch in den 80er Jahren jährlich bei 20000 bis 30.000 stagnierte.
nahm sie seit 1990 - 1996 auf jährlich 80.000 zu. Zusammen
mit den Aussiedlern aus früheren Ostblockstaaten wurden im
Zeitraum 1990 bis 1995 ca. 1,2 Mio. Ausländer deutsche Staatsbürger.
Gerade im Verhältnis
zu den Ausländern, die in der Bundesrepublik leben, zeigt sich
freilich, dass das Staatsverständnis der Bundesrepublik immer
noch von der Ideologie kollektiver völkisch-kultureller Homogenität
gefärbt ist. Nach Art. 116 Grundgesetz haben Volksdeutsche,
deren Vorfahren oft vor vielen Jahrhunderten aus deutschsprachigen
Gebieten ausgewandert sind, ein Anrecht auf deutsche Staatsbürgerschaft,
obwohl sie häufig nicht mehr deutsch sprechen und sich nur
schwer in die heutige Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik
einfügen können. Ausländer aber, die in Deutschland
aufgewachsen sind, das deutsche Bildungssystem absolviert haben,
deutsch womöglich besser sprechen als viele Volksdeutsche und
durchaus gesetzestreue Bürger sind, haben immer noch hohe Hürden
beim Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft zu überwinden.
Durch Art. 116 GG, der bei der Verabschiedung des Grundgesetzes
einfach ein Notparagraph zur politischen Integration der bei Kriegsende
nach Westdeutschland einströmenden Vertriebenen und Volksdeutschen
war, wird die Rechtsprechung und das Staatsverständnis der
Bundesrepublik im Nachhinein ethnisch aufgeladen.
So wurden jetzt
durch die Rechtssprechung von Verwaltungsgerichten bedenkliche Ansätze
zu einer ethnokulturellen Definition der Deutschen entwickelt. In
Entscheidungen zur Einbürgerung von Volksdeutschen wird von
den Antragstellern ein Bekenntnis zum Deutschtum verlangt
und das deutsche Volk selbst als nationale Kulturgemeinschaft
definiert. Es werden somit Bekenntnisse zu einer deutschen
Kultur und eine Bejahung deutscher kultureller Werte
eingefordert (Goethe oder Bildzeitung?), die Bürgern, die schon
deutsche Staatsangehörige sind, nicht abverlangt werden dürfen
oder sollten. Dies um so mehr, als eine objektive Überprüfung
der Kulturwerte der deutschen Bürger der Bundesrepublik sicher
ernüchternde Ergebnisse zeitigen würde.
Die politischen
Widerstände gegen die Liberalisierung der Einbürgerung
von Ausländern und die Zunahme von Ausländerfeindlichkeit
haben in der Bundesrepublik heute primär ihren Nährboden
in der Verknappung der Arbeitsplätze und der damit verbundenen
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Auch in klassischen Einwanderungsländern,
so vor allem in den USA, gab es in ökonomischen Krisen mit
Verknappung der Arbeitsplätze fast regelmäßig schlimme
Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit. Meistens folgten ihr Beschränkungen
der Einwanderung durch den Gesetzgeber.
In der derzeitigen
wirtschaftlichen Krise der Bundesrepublik geht es daher heute weniger
um die Frage weiterer Zuwanderung als um die politische und vor
allem auch soziale Integration der Ausländer, die schon in
der Bundesrepublik leben. Diese politische und soziale Integration
hätte eine fundamentale Bedeutung für das politische Selbstverständnis
der Bundesrepublik. Sie stünde symbolisch für die Aneignung
der Republik und die Verabschiedung von der bisherigen ethnisch-kulturellen
Volksgemeinschaft der Nation. Sie wäre der Nageltest für
die Aneignung eines republikanischen Staats- und Kulturverständnisses.
[
]
4. Der Streit
um die Aneignung der Republik
[Im Zuge der
deutschen Wiedervereinigung] meinten jetzt viele, der Verfassungspatriotismus
[
] sei eine intellektuelle Abstraktion. Nur die nationale
Geschichte und Kultur könnten Gefühle ansprechen und mobilisieren.
Nur über Gefühle vermöchten sich politische Gemeinschaft
und engagierter Patriotismus bilden. [
]
Die deutsche
Kritik am Verfassungspatriotismus, wird letztlich immer noch von
vagen Vorstellungen einer kulturell oder sogar über Abstammung
definierbaren deutschen Nation bestimmt, die als angeblich objektive
Macht neben der Verfassung und ihren Werten existiert und die eigentliche
Grundlage politischer Gemeinschaft und Loyalität bilden soll.
Die hieraus abgeleitete abenteuerliche Behauptung, dass die Grundwerte
der Republik, nämlich Recht und Freiheit, für eine Identifikation
mit dem Gemeinwesen zu abstrakt seien, macht erkennbar, dass sie
den Kritikern nicht allzuviel bedeuten. Eben in dieser mangelnden
Identifikation mit der gemeinschaftsbildenden Kraft der politischen
Werte der Republik äußert sich die zähe Überlebenskraft
provinzieller antirepublikanischer Traditionen der deutschen politischen
Kultur. [
]
In der französischen
und amerikanischen Republik bildet der Freiheitsmythos, die Geschichte
des Kampfes um die politische Freiheit und die politischen Rechte
der Bürger, das Fundament ihres Patriotismus. Die großen
nationalen Feiertage erinnern an seine Bedeutung. Die Deutschen
hingegen feiern einen Tag der nationalen Einheit. Der deutschen
Nationalhymne großartige Dreiheit Einigkeit und Recht
und Freiheit sind des Glückes Unterpfand" wird durch einen
bloßen Tag der Einheit" verstümmelt und ihres
Sinnes entleert. Einheit ohne Einigkeit durch Brüderlichkeit
und Solidarität und Einheit ohne Recht und Freiheit bedeuten
nichts. Solche Einheit hat keinen politischen Inhalt , es sei denn,
sie wird auf den mystischen Glauben des völkischen Nationalismus
an einen transhistorischen ewigen" Volkskörper der"
Deutschen bezogen, der nach 1945 gegen das angebliche Recht aller
Völker auf eine eigene staatliche Existenz geteilt, nun aber
wieder vereint" wurde. Die bloße staatliche Einheit
der Deutschen wäre auch unter kommunistischem Vorzeichen denkbar
gewesen. Durch einen bloßen Tag der Einheit wird der politische
Verfassungs- und Wertekonflikt, um den es in Wirklichkeit ging,
nämlich der Kampf um Rechtsstaatlichkeit und um politische
und kulturelle Freiheit, im nachhinein in einen Streit über
Einheit verfälscht und umgedeutet.
Republiken
begründen und entwickeln sich durch ihre eigenen Taten. Sie
legitimieren sich durch eine Geschichte erfolgreicher Bewährung.
Ihre Patina verleiht Ansehen und Würde. [
] Die beiden
Teile Deutschlands, die immer noch durch die unterschiedlichen historischen
Erfahrungen ihrer Bürger geteilt sind, werden erst durch die
erfolgreiche Konkretisierung der Republik und ihrer Werte, insbesondere
auch durch soziale Gerechtigkeit, zu einer republikanischen politischen
Einheit zusammenwachsen. Einheit bedeutet in der Republik nicht
Homogenität. Sie schließt vielmehr die Bejahung regionaler
kultureller Vielfalt ein. [
]
Der Verfassungsstaat,
der in der alten Bundesrepublik entstanden war, muss weiterentwickelt
und sein republikanisches Fundament verbreitert werden. Dafür
wird die Offenheit der Republik im Innern wie nach außen von
entscheidender Bedeutung sein. Erst wenn Fremdes und Fremde in die
Republik aufgenommen werden und in ihr Bürgerrecht erhalten,
verdient sie diesen Namen.
Die ideologische
Krise der europäischen Nationalstaaten ist unübersehbar.
Die europäischen Nationen verfestigten sich durch wechselseitige
Polarisierungen, Feindbilder und Abschottungen. Mit deren Abbau
durch den politischen Einigungsprozess Europas erschlafft ihre integrative
Kraft. Daher melden sich heute in den meisten europäischen
Nationalstaaten ältere regionale Überlieferungen wieder
politisch zu Wort. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland.
Es wäre
tragisch, wenn die alte Bundesrepublik, die wegen der
Teilung keine deutsche Republik werden konnte und hierdurch
zum Verfassungsstaat wurde, gerade jetzt, da sich die Nationalstaaten
Westeuropas aufzulösen beginnen, von einer blassen Nachgeburt
ihrer überholten nationalen Traditionen eingeholt und zur bloßen
historischen Episode würde. Die Bundesrepublik darf sich nicht
wieder zur Nation des 19. Jahrhunderts zurückentwickeln. Sie
muss sich für ein republikanisches Europa öffnen. Republiken
können, dies zeigt ihre Geschichte, mit Erfolg gegründet
werden. Geschichte muss nicht Fatum und Nachvollzug der Überlieferung
sein, sie kann gestaltet werden.
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