Deutsch-französisches
Forum: Herr Ferry, welche Schlüsse ziehen sie als Interpret
und Übersetzer von Kant aus ihrer persönlichen Erfahrung
mit der deutschen Philosophie und der deutschen Kultur? Wie sehen
Sie die Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Frankreich
und Deutschland?
Luc Ferry:
Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, wenn ich mit einem alten Witz
aus den 30er Jahren zuerst auf Klischeehaftes zu sprechen komme:
Ein Franzose, ein Engländer und ein Deutscher sollen über
Kamele schreiben. Der Franzose geht in den Jardin des Plantes, bleibt
dort eine halbe Stunde, spricht mit dem Tierwärter, wirft dem
Kamel ein Stückchen Brot hin, pisackt es mit der Spitze seines
Regenschirms, geht wieder nach Hause und schreibt für seine
Zeitung eine Glosse gespickt mit witzigen und geistreichen Bemerkungen.
Der Engländer packt seinen Teekorb und seine komfortable Ausrüstung,
schlägt sein Zelt irgendwo im Orient auf und kommt nach zwei
Jahren mit einem prallen, detailreichen, aber unsystematischen Band
ohne Schlussfolgerungen nach Hause, der gleichwohl einen echten
dokumentarischen Wert besitzt. Der Deutsche schliesslich ist von
dem fehlenden Ernst des Franzosen und der Ideenarmut des Engländers
derart entsetzt, dass er sich in seine Studierstube zurückzieht,
um dort ein mehrbändiges Werk zu verfassen mit dem Titel: "Das
Bild des Kamels als Ausdruck der Vorstellung des Ich"! Trotz seiner
vielen zweifelhaften Klischees ist uns dieser Witz heute noch zugänglich,
auch wenn er völlig zurecht verdächtig erscheinen mag.
Mit wenigen Strichen zeichnet er, was seit Madame de Staël
eine Art von Literatur lang und breit darzustellen nicht müde
wurde: Demnach verkörpere der Franzose den Esprit, gleichzeitig
aber auch eine gewisse oberflächliche und manierierte Eitelkeit,
der Deutsche dagegen Gedankentiefe, Systemdenken und Humorlosigkeit,
verbunden mit einem Streben nach ungeschminkter Wahrheit und gedanklicher
Strenge. Literatur für die Gesellschaft auf der einen, Metaphysik
auf der anderen Seite, hier ein Faible fürs Mondäne, dort
jene unübersetzbare Gründlichkeit, nach der der Idealist
in seiner hochmütigen Selbstisolierung strebt. Was kommt in
diesen Jahrhunderte alten Klischees eigentlich zum Ausdruck, dass
sie sich stets wie von selbst noch in unseren belanglosesten Gesprächen
über Deutschland einstellen? Zuallererst eine ganz eigene,
wechselseitige Faszination, wie sie von Gegensätzen ausgeht.
Auf der einen Seite eine lange Zeit staatenlose Gesellschaft, die
noch heute in einer Form dezentralisiert ist, dass der Begriff "Provinzialismus"
völlig unsinnig wäre. Auf der anderen Seite ein zuallererst
staatliches, weil an den Hof gebundenes Modell des "Pariser Lebens",
in dem Madame de Staël die grundlegende Differenz zwischen
den beiden Ländern erblickt. Diese politische Variable wird
ergänzt um eine religiöse Komponente, die die Wirksamkeit
der Klischees nur noch verstärkt. Der Lutherismus tritt vor
allem in der Ablehnung klerikaler Hierarchie und damit auch der
gesellschaftlichen Vermittlung zutage. Die Wahrheit liege in des
Menschen Herzen und einer unmittelbaren Mensch-Gott-Beziehung, nicht
aber in einer kirchlich "autorisierten" Deutung des Evangeliums.
Deswegen stiess auch die lateinische Bibelübersetzung auf Ablehnung,
die man aller möglichen Sinnentstellungen bezichtigte. Darin
wurzelt gleichfalls eine gewisse sprachliche Direktheit bei Luther
selber, die diese Ablehnung in all ihrer Strenge symbolisiert. Die
deutsche Philosophie verfolgt bis einschliesslich Marx, ja sogar
bis zur Umweltbewegung unserer Zeit diesen Gestus einer Suche nach
endgültigen und reinen Wahrheiten, während das gesamte
französische Denken sich dagegen dem Verstehen "unmerklicher"
Mechanismen des Gesellschaftslebens zuwandte. Montesquieu, Voltaire,
Tocqueville, Proust auf der einen, Leibnitz, Kant, Hegel, Heidegger
auf der anderen Seite. Auch wenn es notwendig ist, die Klischeebilder
zu entlarven, um die berüchtigten "deutsch-französischen
Missverständnisse" auszuräumen, darf doch die Beharrungskraft
der Traditionen, die gerade der Lächerlichkeit preisgeben werden
sollen, nicht unterschätzt werden.
Forum: Lassen
sich die für Europa kennzeichnenden moralischen Werte auf die
Menschenrechte und die demokratischen Prinzipien begrenzen? Muss
der Ausgangs- und der Endpunkt von Politik und Moral in der Achtung
der Menschenrechte und in dem Willen, deren Achtung zu gewährleisten,
bestehen?
L. Ferry: Es
wurde hinreichend oft darauf hingewiesen, dass die Menschenrechte
allein noch keine Politik darstellen! Im übrigen hat die klassische
Philosophie stets sorgsam zwischen Moral und Politik unterschieden,
und sei es auch nur, weil letztere eben auch auf bekanntlich oftmals
partikulare und konfliktuelle Interessen Rücksicht nehmen muss.
Mehr noch: was eine Menschenrechtsideologie stets zu unterschätzen
neigt, ist die tragische Dimension des Politischen im Sinne von
Max Weber: Ich meine damit, dass die politische Entscheidung oftmals
keine Entscheidung zwischen einer guten und einer schlechten Lösung
ist, zwischen Gut und Böse, sondern zwischen einer Vielzahl
von Lösungen, die durchweg mehr oder weniger schlecht sind!
Trotzdem lässt sich aus inhaltlichen Gründen, die im wesentlichen
mit der Geschichte des modernen Denkens in Europa zu tun haben,
tatsächlich eine stark gewachsene Anziehungskraft des in den
grossen Menschenrechtserklärungen zum Ausdruck kommenden Ideals
beobachten. Ich sehe beim besten Willen keinen Grund, sich nicht
darüber zu freuen.
Forum: In
ihrem letzten Buch mit dem Titel La sagesse des modernes (zusammen
mit André Comte-Sponville) sprechen Sie über die eigentliche
Moral hinaus gehend von einer Lebensweisheit bzw. einer nicht religiös
gebundenen Spiritualität in den modernen Gesellschaften. Worin
bestehen denn deren Grundprinzipien?
L. Ferry: Was
ist die Moral denn eigentlich? Im wesentlichen doch wohl ein Sprechen
über das, was getan werden soll, und das, was nicht getan werden
darf, im Grunde also ein Nachdenken über die verschiedenen
Formen der Achtung des Anderen, wobei wir selbstverständlich
stets immer auch der jeweils "Andere" sind: den Anderen nicht benutzen,
ihn nicht wie eine Sache behandeln, ihm nicht grundlos Unrecht zufügen
usw. Kurzum: Die Moral ist dann von Bedeutung, wenn es an ihr mangelt,
weil sie die Bedingung für ein friedliches und zivilisiertes
Zusammenleben darstellt. Aber sie gibt uns keinerlei Auskunft über
den Sinn unseres Daseins, über das, was wir daraus machen sollten,
selbst wenn das Ideal der Achtung des Anderen auf Erden vollständig
verwirklicht wäre. Selbst wenn wir vollkommen moralische Wesen,
Heilige, wären, würde uns dies doch keineswegs daran hindern,
unglücklich verliebt oder krank zu sein, zu sterben oder Probleme
bei der Erziehung unserer Kinder zu haben usw. Kurzum: Es gibt eine
Reihe von Fragen, die nicht in den Bereich der Moral fallen, sondern
in den Bereich der früher so genannten "Lebensklugheit", in
der sich das philosophische Ideal in seinen wesentlichen Zügen
widerspiegelt. Daraus ergibt sich auch die in meinen Augen entscheidende
Frage, ob Europa laizistisch sein soll, ob die Religion folglich
in diesem Raum zu einer lediglich privaten Angelegenheit geworden
ist und welche kluge Lebenshaltung einem solchen Universum entsprechen
kann. Darüber nachzudenken, erscheint mir umso dringlicher,
als rund 40% aller Europäer Atheisten sind und die Moral für
das Leben offensichtlich nicht hinreichend ist
Forum: Wie
lange lassen sich Ihrer Meinung nach im Namen der europäischen
Idee die notwendigen konkreten Klarstellungen noch hinausschieben,
die sich aus dem europäischen Integrationsprozess ergeben?
L. Ferry: Was
mir auffällt, wenn ich Politiker für Europa Partei ergreifen
höre, ist, dass das, was sie sagen, zumeist ausgesprochen nichtssagend
wirkt. Ich persönlich habe für den Maastricht-Vertrag
gestimmt und würde mich den Pro-Europäern zurechnen. Leider
muss ich aber selbst zugeben, dass die Gegner Europas sehr oft intelligenter
und überzeugender argumentieren als dessen Befürworter.
Das ist zwar nicht in meinem Sinne, lässt sich aber durchaus
nachvollziehen: Demokratie wurde immer mit der Vorstellung des Nationalstaates
verbunden. Um von Demokratie sprechen zu können, bedarf es
nämlich wenigstens einer Mindestbedingung: Die Bürger
müssen sich in den Instanzen, die sie repräsentieren,
der Einzelne muss sich in dem, was für die Gesamtheit steht,
wiedererkennen. Im grossen und ganzen trifft dies in den Nationalstaaten
durchaus zu: Trotz aller angemessenen Kritik und Zurückhaltung
erkennen wir uns doch gleichwohl mehr oder weniger in unseren jeweiligen
politischen Klassen wieder. Was wissen wir dagegen von den europäischen
Institutionen? So gut wie nichts. Sie sind weder repräsentativ
noch glaubwürdig noch werden sie von der erdrückenden
Mehrheit der Bürger verstanden. In meinen Augen ist das weniger
eine Frage moralischer Transparenz (z.B. im Zusammenhang mit der
Korruption), sondern vielmehr ein wirklich politisches Problem,
eine Frage der repräsentativen Demokratie.
Forum: Haben
Sie die Erfahrungen, die Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit für
das Kultusministerium als Vorsitzender des Nationalen Rates für
die Lehrprogramme gemacht haben, hinsichtlich einer möglichen
Verbesserung der Qualität der Lehre in Frankreich - vor allem
im Bereich der geisteswissenschaftlichen Fächer - zuversichtlich
gestimmt?
L. Ferry: Unsere
Systeme an sich sind gar nicht so schlecht, sie stecken lediglich
in einer schweren Autoritäts- und Legitimationskrise, die sich
in manchen Bereichen in einem unbestreitbaren Niveauverlust hinsichtlich
der Beherrschung der geschriebenen und gesprochenen Sprache niederschlägt.
Darauf weisen alle uns zur Verfügung stehenden Untersuchungen
zweifelsfrei hin. Das hängt nicht nur mit der Vermassung der
Bildung zusammen, wie immer wieder, ohne recht zu überlegen,
behauptet wird, ja nicht einmal mit dem Einfluss des Fernsehens
- noch so einem Gemeinplatz -, sondern mit einer geistigen Krise,
einem Wechsel des ethischen Paradigmas, der im übrigen gute
wie schlechte Seiten aufweist, der allerdings auch seit den 60er
Jahren dazu geführt hat, jedweden Gedanken an Autorität,
Disziplin, Fleiss, kurzum: an alles, was seit zwei Jahrhunderten
die "Pflichttugenden" geprägt hat, zu verbannen oder doch in
den Hintergrund treten zu lassen. Diese radikale Infragestellung
durch die 68er, da muss man ganz ehrlich sein, kann nicht spurlos
an uns vorübergehen. Seitdem ich sehe, wie die Maschinerie
funktioniert, fällt mir ebenfalls auf, dass die Reformkapazitäten,
der Spielraum der Politiker deutlich geringer ist, als ich es mir
vorgestellt habe. Wenn man Reformen möchte, ist es nicht so
wichtig, gute Ideen zu haben, die doch jeder oder fast jeder hat,
sondern vielmehr sie durchsetzen zu können. Ich fürchte,
dass die derzeitige politische Rechnung so aussieht: Ideen zählen
zu 1%, die Frage der Machbarkeit zu 99%. Ein Grund mehr, die Hände
nicht in den Schoss zu legen und Unterrichtsinhalte zu erarbeiten,
die sowohl anspruchsvoll als auch interessant sind. Das ist heute
allerdings in manchen Bereichen noch längst nicht der Fall.
Forum: Kommt
es Ihrer Ansicht nach hinreichend häufig zu einem europaweiten
Gedankenaustausch bzw. zu europaweiten Debatten, um von einem wirklichen
Raum des intellektuellen Austausches sprechen zu können?
L. Ferry: Nein,
ein ganz klares Nein. Ein offensichtliches Anzeichen dafür
ist, dass wir in den jeweiligen europäischen Ländern lediglich
eine kleine Anzahl anerkannter Intellektueller kennen - manchmal
nicht einmal die - und dass wir praktisch gar nichts wissen über
das, was die anderen tun, oder darüber, was im Allgemeinen
für das kulturelle Leben des jeweiligen Landes prägend
ist. Das kann nicht normal sein.
Forum: Bevor
Europa zu einem viel umjubelten grossen Einheitsmarkt geworden ist,
bot es Gelegenheit zu einem fruchtbaren Kulturaustausch. Die weite
Verbreitung künstlerischer Ausdrucksformen und Werke kann dafür
als Beleg gelten. Lässt sich deswegen aber schon von einer
"eigenen europäischen Ästhetik" sprechen?
L. Ferry: Dieser
Frage habe ich ein ganzes Buch, Homo aestheticus, gewidmet. Ich
will mich diesbezüglich also kurz fassen. Was Europa natürlich
gekennzeichnet hat, ist das Ende des Theologisch-Kulturellen, ich
will damit sagen, das Ende der Verankerung der kulturellen Erzeugnisse
in religiösen Zusammenhängen. Daraus haben sich dann auch
im 18. Jahrhundert die Genietheorien entwickelt, die von dem Grundsatz
ausgehen, dass die Werke ausnahmslos von Menschen und für Menschen
gemacht sind. Ein ästhetischer Humanismus hat sich genau zur
selben Zeit herausgebildet wie ein rechtlicher, moralischer und
politischer Humanismus. Deswegen konnte die europäische Kultur
sich natürlich auch von seinem nur akzessorischen Charakter
frei machen und über das gesamte 19. Jahrhundert an dem Abenteuer
der Avantgarde teilnehmen. Allem Anschein nach erleben wir derzeit,
wie sich dieses Abenteuer dem Ende neigt, und die zentrale Frage,
die allerdings unbeantwortet bleiben muss, ist: was kommt "danach"?
Eigene Übersetzung des Forum
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