Nicht nur das
Erinnern, auch das kluge Vergessen - Harald Weinrich hat darauf
aufmerksam gemacht - ist eine Kunst. Die Vergesslichkeit aber bleibt
im Alltag ein Laster und in der Politik eine Gefahr. Ich erinnere
an den Glücksfall der europäischen Geschichte in diesem
Jahrhundert: die zur Freundschaft gewordene Aussöhnung der
Deutschen und der Franzosen, die unseren Eltern noch als unmöglich,
unseren Grosseltern als unvorstellbar erschienen wäre. Daran
zu erinnern, ist umso notwendiger, als sich hinter der Routine der
deutsch-französischen Beziehungen Verunsicherungen zwischen
unseren beiden Ländern verstärken, die den europäischen
Einigungsprozess nicht unberührt lassen.
Kultur,
Freundschaft und Routine
In ihrer gemeinsamen
Geschichte verbindet Frankreich und Deutschland eine lange Kette
von Kompensationen, in denen Kulturleistungen die Schmach verlorener
Kriege tilgen sollten - so militant, dass in beiden Ländern
der neue Krieg oft genug auf dem Feld der Kultur vorausgeahnt und
vorbereitet wurde. Dies gilt für Deutschland nach der verlorenen
Schlacht von Jena und Auerstedt, dies gilt für Frankreich nach
der Niederlage von Sedan. Es gilt für das Deutschland nach
Versailles.
Dass es weit
weniger für jenes Frankreich galt, das 1940 Hitlers Blitzkrieg
erlag, ist für die Franzosen bis heute ein Stachel in ihrer
Erinnerung an die étrange défaite. Die Erschöpfung
Frankreichs zeigte sich damals in seiner defensiven Geistespolitik
noch deutlicher als im militärischen Bereich, und die langanhaltende
Verdrängung des wahren Ausmasses der collaboration in Frankreich
rührt nicht zuletzt von der als beschämend empfundenen
Einsicht her, dass nach der Kapitulation die französische Kultur
im Zeichen Vichys, dieser "mélange de terreur blanche,
de bibliothèque rose et de marché noir", wie
Brunschwicg sie einmal nannte, zum Aufbau eines wirksamen Revanchepotentials
nicht mehr in der Lage war.
Kultur als
Revanche - dieses heimliche, bis heute virulente Motiv deutsch-französischer
Beziehungen verlangte in beiden Ländern stets Rechtfertigung
oder Tarnung von jenen, die Grund hatten, mit dem 'Erbfeind' zu
paktieren. In seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen",
die er im ersten Weltkrieg schrieb, hat Thomas Mann in der Auseinandersetzung
mit Heinrich Mann, dem 'Zivilisationsliteraten', die deutsch-französische
Kulturkonkurrenz als unvermeidlichen Bruderzwist im europäischen
Haus enthüllt.
Gerade deshalb
bildeten sich zwischen unseren beiden Nationen oft geistige Wahlverwandtschaften
von schmerzender Intensität heraus. Aber es waren in den Jahren
vor dem Zweiten Weltkrieg nicht genügend Deutsche, es waren
zu wenige Franzosen, die die Hoffnung teilten, durch die Vereinigung
Frankreichs und Deutschlands würden Europa und die Welt erlöst
werden.
Heute ist die
deutsch-französische Freundschaft Wirklichkeit geworden. Wir
brauchen nicht zu befürchten, aus einem Traum zu erwachen.
Aber wir sollten diese Freundschaft auch nicht für eine Selbstverständlichkeit
halten, eine Art von politischem perpetuum mobile, das die europäische
Einigung automatisch vorantreibt, ohne dass wir noch allzuviel Energie
dafür aufbringen müssten. Durch vielhundertjährige
Entfremdung, schrieb Annette Kolb, Tochter einer französischen
Mutter und eines deutschen Vaters, habe sich zwischen Deutschen
und Franzosen ein unparadiesischer Stand der Unschuld ergeben: Sie
seien derart verschieden, dass sie es nicht einmal merkten. Nach
Jahrzehnten der Kooperation laufen Deutsche und Franzosen heute
Gefahr, das Ausmass und die Tiefe ihrer Verständigung zu überschätzen.
Die deutsch-französischen Beziehungen drohen, zum Opfer ihres
eigenen Erfolges und des Fortschreitens der Geschichte zu werden.
Von diesem
Befund ausgehend, skizziere ich im folgenden einige Vorschläge
für eine neue Funktionsbestimmung der deutsch-französischen
Beziehungen. Ausdrücklich spreche ich nicht von 'Erneuerung'
oder 'Auffrischung', weil ich der Meinung bin, dass die Schwäche
der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern seit langem
in ihrer Selbstbezüglichkeit liegt. Nach dem Fall des Kommunismus
und an der Schwelle zum neuen Jahrhundert aber können die deutsch-französischen
Beziehungen kein Selbstzweck mehr sein. Ihre Rolle muss im Blick
auf das weiter zusammenwachsende Europa und eine Welt unter dem
Druck der Globalisierung neu bestimmt werden.
Zunächst
plädiere ich für eine Entroutinisierung der deutsch-französischen
Beziehungen. Diderot beschrieb es einmal als die Aufgabe der Philosophie,
das Staunen aufzuheben - zur Philosophie der deutsch-französischen
Beziehungen heute muss es gehören, wieder staunen zu lernen.
Wir müssen erkennen, dass sich - um das schöne, paradoxe
Wort von Claude Lévi-Strauss aufzunehmen - nicht unsere Ähnlichkeiten
ähneln, sondern unsere Unterschiede.
Wir müssen
erneut lernen, unsere Differenzen ernstzunehmen, um aus ihnen produktive
Motive gemeinsamen Handelns zu entwickeln. Immer wieder gilt es
daran zu erinnern, dass im 18. Jahrhundert Rousseau wie auch Herder
nicht jubelten, sondern einen Warnruf ausstiessen: "Il n'y a que
des Européens!" Wenn es eines Tages nur noch Europäer
gibt, wird es kein Europa mehr geben.
Auf dem Feld
der Politik heisst dies für Deutsche wie für Franzosen,
auch nach Jahrzehnten erfolgreicher Zusammenarbeit das Gewicht ihrer
nationalen 'Geschichten' nicht zu unterschätzen. Dass die Geschichte
alles andere ist als das nun einmal Geschehene und damit Abgetane,
sondern dass sie eine miteinander geteilte Erfahrung ist und damit
ein aktueller oder jedenfalls abrufbarer Handlungsantrieb, hat sich
in jüngster Zeit gerade in den deutsch-französischen Beziehungen
gezeigt. Welche Gefahren, aber auch welche Chancen für unsere
beiden Völker damit verbunden sind, will ich am Beispiel des
Schwarzbuch des Kommunismus verdeutlichen.
Rechthaberei
und Sensibilität
Man mag es
kaum für einen Zufall halten, dass zeitgleich mit dem Prozess
Papon in Frankreich die Veröffentlichung des Livre noir du
Communisme, des Schwarzbuchs des Kommunismus, erfolgte. Aus deutscher
Sicht ergibt sich damit die Möglichkeit, unseren
eigenen Historikerstreit in eine vergleichende Perspektive
zu rücken. In Frankreich entfachte das Schwarzbuch Auseinandersetzungen
von solcher Heftigkeit, dass sofort von einer querelle française
die Rede war. Wieder einmal betonten Franzosen und Deutsche die
Besonderheit ihrer nationalen Debatten, während gerade deren
Vergleich und deren Zusammenschau in einem grösseren europäischen
Zusammenhang die entscheidenden Einsichten zu liefern vermochte.
Für die
Heftigkeit des innerfranzösischen Streits lassen sich verschiedene
Ursachen anführen. Die erste ist allgemeiner Natur: Die französische
Intelligentsia ist nun einmal leicht erregbar und verfügt über
eine nicht zu unterdrückende Fähigkeit, sich im Streit
über jedes beliebige Thema aus dem Stand heraus in miteinander
verfeindeten chapelles zu organisieren. In Frankreich gewinnt darüber
hinaus die Abrechnung mit dem Leninismus-Stalinismus und seinen
Folgen eine besondere Schärfe, weil hier als einzigem demokratischen
Land noch die Kommunisten an der Regierung beteiligt sind. Schliesslich
steht die französische Geschichte selbst vor Gericht, wenn
behauptet wird, dass die radikale Abrechnung mit dem Kommunismus
nicht nur die grosse Oktoberrevolution als ein verbrecherisches
Komplott entlarve, sondern damit auch die Mutter aller Revolutionen,
die Französische Revolution von 1789, entlegitimiere. Vor diesem
Hintergrund gewinnt auch der deutsche Historikerstreit neue Konturen
und Nuancen.
In einer längeren
Fussnote seines späten Hauptwerks Le Passé dune
illusion. Essai sur lidée communiste au XXe siècle
hatte sich François Furet bekanntlich mit den Thesen Ernst
Noltes in kritischer Zustimmung auseinandergesetzt. Er rechnete
es Nolte als Verdienst an, ein Tabu gebrochen zu haben, als er sich
nicht an das Verbot hielt, zwischen Kommunismus und Faschismus,
zwischen Stalinismus und Faschismus Vergleiche zu ziehen. Furet
teilte die Auffassung, zur Erklärung beider Ideologien in ihrer
Entstehung und Entwicklung bedürfe es einer historisch-genetischen
Methode, der gegenüber der rein formale Strukturvergleich der
Totalitarismusforschung unzureichend sei. Kritisch und traurig
merkte Furet an, dass Nolte die Wirkung seiner Thesen dadurch entscheidend
abgeschwächt habe, dass er in den Juden die organisierten Gegner
Hitlers sah. Ein Briefwechsel mit Ernst Nolte folgte, der durch
Furets frühen Tod jäh abbrach. Die lange Fussnote und
die wenigen deutsch-französischen Briefe aber erlauben es,
den Historikerstreit aus einem Blickwinkel zu betrachten, der in
der innerdeutschen Debatte eine zu geringe Rolle spielte: Es geht
um die Darstellungsweise historischer Tatbestände, es geht
um die in Deutschland chronisch unterschätzte Bedeutung von
Tonfall und Takt.
Auch wenn Furet
sich das Plädoyer für die historisch-genetische Methode
als Voraussetzung des Verstehens von Kommunismus und Nationalsozialismus
zu eigen macht, wendet er sich gegen eine Ersetzung wahrer Ursachenforschung
durch Chronologie. Dass Lenin früher an die Macht kam als Mussolini
und weit früher als Hitler, rechtfertigt es noch nicht, dem
Faschismus und erst recht nicht dem Nationalsozialismus einen reaktiven
Charakter zuzuschreiben, der gewollt oder ungewollt, ein gewisses
Verständnis wecken muss und die Nähe zur Rechtfertigung
gar nicht vermeiden kann. Das Argument ist bereits 1939/40 bei Drieu
la Rochelle vorformuliert und dazu rassistisch verstärkt: Weil
im Deutschen immer auch ein Slawe stecke, nehme seine Reaktion auf
den russischen Totalitarismus die gleichen intensiven Formen an.
Von der Imitationshypothese
distanziert sich Furet mit höflichen Worten und entschiedenen
Argumenten. Der Faschismus ist keine Antwort auf den Kommunismus.
Vielmehr sind beide Ideologien - der Kommunismus als die Ideologie
des totalitären Universalismus wie der Faschismus, bzw. der
Nationalsozialismus als die Ideologie des totalitären Partikularismus
- Abwehrreaktionen gegen die bürgerlich-liberale Welt, gegen
das demoliberale Jahrhundert, das für Mussolini
wie für Charles Maurras 1789 beginnt. Hinzu kommt, dass der
Judenhass älter ist als die Oktoberrevolution und dass die
deutsche Rechte nicht auf den Kommunismus warten musste, um die
Demokratie zu verabscheuen. Furet macht in wenigen Sätzen deutlich,
dass der historisch-genetischen Methode Noltes eine verkürzte
Geschichtsbetrachtung zugrundeliegt, die beispielsweise völlig
aus dem Blick verliert, welch formierende Rolle für die deutsche
Rechte und insbesondere für die Nationalsozialisten die Tradition
des antisemitisch verschärften Kulturpessimismus spielte, die
weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht.
Wenn es sich
in der von Ernst Nolte als Schulterschluss missverstandenen Debatte
zwischen ihm und François Furet lediglich um die Auseinandersetzung
zweier Historiker handeln würde, wäre ihr Ertrag beträchtlich
genug. Es handelt sich aber um mehr: Es geht um die Konfrontation
zweier historiographischer Temperamente, deren Verschiedenheit sich
aus ihrer Einbettung in die unterschiedlichen nationalen Traditionen
der deutschen und der französischen Geschichtsschreibung erklärt.
Furet verfügt über den gelassenen Blick der longue durée,
über jenes historische Bewusstsein, das in Frankreich noch
heute das Mittelalter wie selbstverständlich miteinschliesst
und einer Erinnerungskultur anhängt, die bis in die Gegenwart
hinein über alle Parteigrenzen hinweg identitätsstiftend
wirkt. Der gemeinsamen, bis in ferne historische Zeiten zurückreichenden
Erinnerung in Frankreich entspricht in Deutschland der nichtendenwollende
Zwang zur Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, eine Zwangsarbeit,
die selten identitätsstiftend wirkt, sondern in der Regel die
Grenzen der politischen Lager verfestigt. Obwohl gerade Ernst Nolte
die deutsche Geschichte in das Schreckenspanorama des europäischen
Bürgerkrieges einbetten und damit im gewissen Sinne entnationalisieren
und entemotionalisieren wollte, wirkt er gegenüber der selbstkritischen
Gelassenheit Furets immer aufgeregt und apoplektisch. Durch Mangel
an Haltung, unzureichende Sensibilität und fehlende Präzision
der Sprache - "Le vocabulaire employé doit éviter
l'ambiguïté", merkt Furet dazu an - entwerten sich derart
auch bedenkenswerte Einsichten zum schiefen und falschen Blick.
In Deutschland haben wir Erfahrungen damit: Es ist das Jenninger-Phänomen.
François
Furet, ein französischer Historiker, hat es den Deutschen ermöglicht,
sich mit dem Kommunismus und seinen Folgen ähnlich intensiv
auseinanderzusetzen wie mit dem Nationalsozialismus. Diese Auseinandersetzung
ist durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik notwendig geworden:
Zu unserer gemeinsamen deutschen Geschichte gehört jetzt auch
der Kommunismus. Von Furet kann man lernen, wie man diese Geschichte
schreibt, ohne sich durch die nationalsozialistische Vergangenheit
überwältigen und sich von ihr nicht nur die Fragestellungen,
sondern auch die Antworten diktieren zu lassen.
Wenn man den
chronologisch korrekten, moralisch unannehmbaren Satz formuliert,
dass der Gulag Auschwitz voranging, begibt man sich der Möglichkeit,
der in Buchenwald verscharrten Opfer des stalinistischen Terrors
zu gedenken, ohne ihre Leiden gegenüber den Millionenmorden
der nationalsozialistischen Konzentrationslager herunterzurechnen.
Erst ein französischer Historiker wie François Furet
und ein französisch schreibender Schriftsteller wie Jorge Semprun
haben uns Deutschen die Möglichkeit eröffnet, die beiden
Totalitarismen, die unsere jüngste Geschichte prägten,
den Nationalsozialismus wie den Kommunismus, ohne wechselseitige
Frageverbote zu analysieren. Und sie haben uns, was vielleicht noch
wichtiger ist, zu dem Eingeständnis ermutigt, das Unverstehbare
nicht verstehen zu können. Furet hat gegenüber denen,
die sich darauf versteifen, nach dem rationalen Kern des Antisemitismus
zu suchen, darauf beharrt, dass hier ein unauflösbarer Rest
an Irrationalismus bleiben wird. Ein Franzose hat darauf bestanden,
um der Vernunft willen nicht zu vergessen, dass das Vernunftverstehen
seine Grenzen hat.
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