Als ich von
der Vergangenheit sprach, habe ich deutlich zu machen versucht,
wie sehr die deutsch-französischen Vergangenhei-ten unsere
gemeinsame europäische Zukunft beeinflussen. Die deutsch-französischen
Beziehungen können sich nicht länger mehr durch sich selbst
legitimieren; sie müssen sich durch ihren Beitrag zur Weiterentwicklung
und inneren Stärkung Europas rechtfertigen. "Qui parle de l'Europe
a tort", pflegte Bismarck zu sagen, wobei er auf die Tatsache anspielte,
dass sich im Zeitalter der mächtigen und ihrer Macht bewussten
Nationalstaaten in der Regel nur die Unterlegenen und die Zukurzgekommenen
auf Europa beriefen. Im Zeitalter der sich abschwächenden Nationalstaaten
aber müssen sich heute gerade grosse Länder wie Frankreich
und Deutschland auf Europa berufen: "Qui parle de l'Europe a raison."
Es stellt sich
dabei im Hinblick auf jene nur allzu 'natürlichen', bilateralen
Differenzen, die so schnell nicht verschwinden werden, die Frage,
ob der Zusammenhalt des Kontinents nur durch ein Pathos der Vereinheitlichung
oder nicht vielmehr auch durch ein pragmatisches, wenn nicht gar
zynisches 'Verklammern' grundlegender, jedoch wechselseitig nützlicher
Differenzen befördert werden kann.
Die Zusammenarbeit
auf der Grundlage spannender Unterschiede der Erfahrungen und Erwartungen
gehört ebenso zur europäischen Agenda der Zukunft wie
Fortschritte in der Vereinheitlichung auf allen Gebieten des öffentlichen
Lebens. Gerade in deutsch-französischen Kooperationen habe
ich selbst eine wahrhaft europäische Erfahrung gemacht: unsere
Unterschiede jeweils auf einen Nenner zu bringen, ist schwierig,
zugleich aber ausserordentlich lehrreich und befriedigend - mit
wichtigen Schlussfolgerungen für heimische Überzeugungen
und nationale Administrationen.
Das vor allem
wirtschaftlich zusammenwachsende Europa bedarf im Bereich der Kulturpolitik
einer entsprechenden Stärkung durch die 'Europäisierung'
nationaler Institutionen. Was in der Wirtschaft längst eine
Notwendigkeit ist, sollte im weiten Feld der Kultur zu einer von
allen Seiten erwünschten Selbstverständlichkeit werden.
Den Einigungsbemüh-ungen von 'oben' (Brüssel) müssen
vielfältige und flexible Einigungschritte von 'unten' entsprechen.
Nur sie können zu neuen Strukturen führen, die der besonderen
Interessen- und Motivlage der einzelnen Akteure gerecht werden.
Wenn die europäische Einigung nur auf der Ebene übernationaler
Institutionen voranschreitet, wird, so steht zu befürchten,
der Bereich der einzelstaatlichen Institutionen zu einem möglichen
Reservoir längst überholt geglaubter nationaler Ressentiments.
Wir müssen Europa endlich 'veralltäglichen', d.h. noch
stärker als bisher zu einem Element unserer normalen Erfahrung
machen.
Auch im engen
Rahmen der von mir überschauten Wissenschafts- und Kulturpolitik
habe ich die Erfahrung gemacht, wie sehr der an Heftigkeit zunehmende
Himmelsrichtungsstreit innerhalb Europas die Fortschritte der europäischen
Union hemmt. Deren Erweiterung nach Osten wird von den Südstaaten
Europas mit zunehmendem Misstrauen betrachtet - umso mehr, als es
für eine Erweiterung nach Süden, jedenfalls innerhalb
Europas, keine Spielräume mehr gibt(1). Frankreich befindet
sich hier in einer besonders schwierigen, aber auch chancenreichen
Lage, weil es sich die Nord-, wie die Südoption offenhalten
kann. Wie aufschlussreich wirkt es gerade heute, dass Fernand Braudel
sein grosses Mittelmeer-Buch in deutscher Gefangenschaft konzipierte!(2)
Für Deutschland
wird in dieser Situation, die Europa immer wieder in Patt-Situationen
führt, Frankreich weit stärker als bisher zum Mittler
werden und wird so mit dazu beitragen, dass es in Europa endlich
zur notwendigen Koalition der Himmelsrichtungen kommt.In diesem
Zusammenhang gilt es auch, der Kooperation mit Frankreich in der
europäischen Begegnung mit dem Islam eine weitaus grössere
Bedeutung zu schenken als bisher. Es tut uns Deutschen gut, von
Frankreich und anderen mediterranen Ländern an die islamische
Prägung von Mittelalter und Mittelmeer erinnert zu werden,
und ich selbst habe innerhalb eines Berliner Arbeitskreises 'Islam
und Moderne' schätzen gelernt, wie wichtig die unterschiedlichen
Erfahrungen, Mentalitäten und wissenschaftspolitischen Zielsetzungen
sind, mit denen französische Kollegen sich dieses Themas annehmen.
Dies heisst nicht, dass wir jede Praxis des französischen Umgangs
mit dem Islam oder mit muslimischen Gesellschaften gutheissen müssten(3)
- gerade das Zusammenspiel innereuropäischer Differenzen aber
könnte hier zur Korrektur eurozentrischer Perspektiven beitragen.
Nur auseinanderdividieren lassen sollten sich die Europäer
dadurch nicht mehr. Dabei denke ich an Versuche von Seiten muslimischer
Wissenschaftler, eine 'französische', d.h. vernunftbesessene,
gegen eine 'deutsche', d.h. vernunftkritische Aufklärung auszuspielen
und die letztere zu privilegieren(4). Solchen Spaltungsversuchen
gegenüber gilt es, im Bereich der Geistespolitik ein Mindestmass
an europäischer Solidarität zu bewahren.
Zugleich liegt
es nahe, das heute mehr denn je notwendige Überdenken der Aufklärung
zu einem deutsch-französischen Projekt zu machen. Um im Zeitalter
der Globalisierung und einer weitgehenden Ent-Europäisierung
der Weltkulturen die Aufklärung wieder attraktiv und universal
anschlussfähig zu machen, bedarf es grosser Anstrengungen.
Die europäische Aufklärung tout court war vernunftverklärend,
eurozentrisch-überheblich, sozialpolitisch untermotiviert,
weitgehend unsensibel gegenüber der Spannung zwischen dem Willen
zur Freiheit und dem Wunsch nach Gleichheit und im wesentlichen
von männlichen Interessen bestimmt. Die Dialektik der Aufklärung
hat uns darauf hingewiesen. Ob es noch die Chance zu einer bescheidenen,
weiblicheren, stärker einem sozialen Gewissen verpflichteten
Aufklärung gibt, die sich anderen Kulturen gegenüber anschlussfähig
hält, ohne sich ihnen durch einen gewissenlosen Relativismus
anzubiedern oder sie durch einen aggressiven Universalismus dominieren
zu wollen - um dies herauszufinden, sollten französische und
deutsche Intellektuelle zusammenarbeiten.
Das Stichwort
'Sozialpolitik' führt dabei unmittelbar in die Gegenwart und
überschreitet den Rahmen binneneuropäischer Kooperationen.
Weltweit besteht die grösste intellektuelle und gesellschaftliche
Herausforderung heute in der dringend notwendigen Repolitisierung
der Ökonomie, d.h. in Versuchen, zu einer demokratisch verfassten
Kontrolle des Weltmarktes und der internationalen Finanzströme
zu kommen. Auch hier sehe ich für eine deutsch-französische
Kooperation besondere Chancen. Die Gefahr liegt dabei in einer aus
der aktuellen Situation gespeisten Überpolitisierung eines
solchen Programms, das deutlich anti-amerikanische Züge tragen
würde. Diese Gefahr liegt umso näher, als man sich ja
intellektuell ebenso eindeutig von 'Chicago', also dem verantwortungslosen
Neoliberalismus, wie politisch ebenso eindeutig von 'Washington',
also der Ideologie des Weltmacht-Monopolismus, entfernen möchte.
Gerade in deutsch-französischer
Kooperation dürfte heute der Versuch zu einer Repolitisierung
der Ökonomie nicht rückwärtsgewandt sein wie es in
den zwanziger und dreissiger Jahren der Fall war, als der Anti-Amerikanismus
in Deutschland und Frankreich nicht nur die Rechte einte und man
in beiden Ländern genau zu wissen glaubte, welcher Nationalität
der verhasste homo oeconomicus war: er war ein Yankee(5). Mit anderen
Worten: das Stichjahr eines solchen deutsch-französischen Projekts
sollte 1989 sein - und nicht 1968. Auch sollte man sich - auf diese
Gefahr hat François Furet eindringlich hingewiesen - davor
hüten, erneut den Versuch zu machen, die Unversöhnlichkeit
von Kapitalismus und Demokratie zu behaupten.
Die Frage,
die sich heute dringend stellt, ist die nach einem Kapitalismus,
der seiner sozialen Verantwortung gerecht wird. Es ist die Frage
nach der sozialen Marktwirtschaft. Hier könnten die deutschen
Nachkriegserfahrungen mit dem 'rheinischen Kapitalismus' und die
höhere Mobilisierungs-bereitschaft französischer Intellektueller
für sozialpolitische Fragen in einen fruchtbaren Diskussionszusam-menhang
gebracht werden. Entscheidend wichtig wäre dabei wiederum die
Einsicht, dass aus Ressentiment gespeiste moralische Appelle in
der Regel nicht ausreichen dürften, um die Wirtschaft in eine
grössere sozialpolitische Verantwortung zu zwingen. Erfolgversprechender
ist, das zeichnet sich schon heute ab, das Plädoyer für
eine Sozialpolitik, die sich rechnet. Europa sollte weiter auf einem
Weg voranschreiten, der zeigt, dass im Zeitalter der Globalisierung
der Wohlfahrtsstaat wirtschaftlich keinen Wettbewerbsnachteil, sondern
auf lange Sicht sogar einen Wettbewerbsvorteil bedeutet(6). Der
ausgebaute Wohlfahrtsstaat ist die binnenwirtschaftliche Voraussetzung
für die erfolgreichen Teilnahme am Weltmarkt.
Ich komme abschliessend
zum Plädoyer für die Bildung von Lerngemeinschaften zwischen
den Kulturen. Ich wiederhole es auch hier, denn die zugrundeliegende
Idee halte ich für richtig und wichtig. Wir leben in einer
Zeit der grossen, offenen Fragen. Wir haben keineswegs nur - man
muss dem Bundespräsidenten auch einmal widersprechen - Umsetzungsprobleme,
wir haben Erkenntnisprobleme. Geht der Arbeitsgesellschaft die traditionelle
Erwerbsarbeit aus? Wie wird die Wissensgesellschaft der Zukunft
aussehen?
Unter welchem
Zeitregiment werden wir in Zukunft leben, wenn sich herausstellt,
dass neben die traditionelle Arbeits- und Freizeit eine soziale
Zeit treten muss, in der sich jeder für die Gemeinschaft sorgt?
Was kann unsere Gesellschaften künftig noch zusammenhalten?
Die Krise der Moderne drückt sich in diesen Fragen aus, und
sie betreffen die Europäer deshalb besonders stark, weil sie
kulturelle Selbstverständlichkeiten attackieren, die ihren
Ursprung auf unserem alten Kontinent haben.
Viel wird in
der Weltgesellschaft davon abhängen, dass sich zwischen den
Kulturen zunehmend Lerngemeinschaften herausbilden und dadurch die
gemeinsamen Innovationspotentiale wachsen. Aus der Erfahrung nach
dem zweiten Weltkrieg wissen gerade wir Deutschen, welche entscheidende
Rolle die Lerngemeinschaft zwischen den Vereinigten Staaten und
Europa oder innerhalb Europas zwischen Deutschland und Frank-reich
gespielt hat. Umgekehrt sind nach 1989 grosse Chancen vertan worden,
weil - nicht zuletzt in Deutschland - der Westen sich in eine Belehrungsorgie
steigerte, statt sich angesichts der neuen, unerhörten Herausforderungen
in Wirtschaft und Politik auf ein gemeinsames Lernen mit dem Osten
einzulassen. Die Industriegesellschaften des Westens, die sich zu
lange in der Rolle von Belehrungskulturen gefielen, müssen
wieder zu Lernkulturen werden.
Auch wenn die
entscheidende Frage lautet, ob es zwischen nicht-westlichen und
westlichen Ländern zur Bildung solcher Lerngemeinschaften kommen
wird, bleibt die deutsch-französische Lerngemein-schaft innerhalb
Europas und für den Kontakt Europas mit der Welt von herausragender
Bedeutung.
In der verstärkten
Kooperation unserer lokalen Wissenskulturen liegt eine entscheidende
Aufgabe für die Zukunft. Besonders fruchtbar sind solche Lerngemeinschaften
stets dann, wenn sie Differenzen nicht vorschnell überspielen,
sondern kulturgeprägte Unterschiede auf intelligente Weise
nutzen. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf die Sprachförmigkeit
von Kultur unabdingbar. In beinahe jeder französischen Publikation
zum Thema 'Kulturpolitik' ist, wenn die Rede auf die Zukunft kommt,
die Prioritätensetzung klar: "Premier terrain: la langue."(7)
Ich halte diese
Prioritätenset-zung für richtig(8). Zugleich glaube ich,
dass die heute am meisten bedrohte Sprache das Englische ist - weil
jeder auf der Welt glaubt, sie zu sprechen, ohne zu ahnen, dass
sein Gestammel mit dem Idiom eines Charles Dickens oder Thomas Hardy
auch nicht das geringste mehr zu tun hat. Der Kampf gegen das 'broken
English' ist auch wegen dieser globalen Selbsttäuschung längst
verloren. Die Zeiten werden nicht wiederkommen, in denen Julien
Benda, dieser Liebhaber der Latinität und Feind jeden Nationalismus,
in seinem 1933 geschriebenen Discours à la nation européenne
wie selbstverständlich fordern konnte, die Sprache des vereinten
Europa müsse das Französische sein.
Ich habe an
anderer Stelle vorgeschlagen, im Englischen eine zweite Muttersprache
zu sehen(9) - und ich möchte diesen Vorschlag heute nur terminologisch
verändern. Im Zeitalter von e-Mail und Internet wird auf der
ganzen Welt jedes Kind bald eine Muttersprache und eine, wie ich
sie einmal nennen will, 'Kumpelsprache' lernen: ein Idiom, das 'Englisch'
genannt wird. Mit diesem Idiom kann keine Muttersprache der Welt,
mit ihm können auch Deutsch und Französisch nicht konkurrieren.
Aber Deutsche und Franzosen sollten alle Anstrengungen unternehmen,
um ihre Muttersprachen in möglichst vielen Ländern zur
ersten Fremdsprache werden zu lassen, sie sollten dabei fair miteinander
konkurrieren und sich wechselseitig eine sprachliche Meistbegünstigungsklausel
gewähren. Wer von der notwendigen Aufrechterhaltung kultureller
Differenzen überzeugt ist, muss energisch für eine stärkere
Förderung der Fremdsprachen, und das heisst in Deutschland
auch: er muss energisch für eine stärkere Förderung
des Französischen plädieren. Darin steckt keine kulturhistorische
Sentimentalität, sondern die feste Überzeugung, dass im
Zeitalter der Globalisierung für die Beantwortung der entscheidenden
Zukunftsfragen die Koalition der Kulturen, und das heisst auch:
die Koalition der verschiedenen Sprachen von herausragender Bedeutung
ist. Deutsche und Franzose verspielen die Chancen einer solchen
grossen Sprachenkoalition auch dadurch, dass sie - in miteinander
geteilter, intellektueller Faulheit - bei bilateralen Treffen in
der Regel nach der Methode des kleinsten gemeinsamen Nenners verfahren
und in scheusslichem Englisch miteinander parlieren.
Im zusammenwachsenden
Europa stehen wir heute vor der Notwendigkeit, eine europäische
Öffentlichkeit herzustellen, in der die dringenden Probleme
des Kontinents über Länder- und Sprachgrenzen hinweg gemeinsam
diskutiert werden. Dazu muss nicht zuletzt die 'Exekutivlastigkeit'
(Dieter Grimm) der Europäischen Union korrigiert werden. Eine
Parlamentarisierung, d.h. Demokratisierung der europäischen
Gremien und Instanzen tut dringend not. Dazu gehört auch eine
stärkere Einmischung der Intellektuellen in die Politik. Hier
können wir von den Franzosen lernen. In Frankreich waren auch
die philosophes stets Alltags-Anthropologen, die sich nicht scheuten,
'sur le terrain' zu arbeiten. Für die meisten deutschen Intellektuellen
ist bis heute die Politik ein zu weites Feld geblieben; tatenarm
und gedankenvoll pflegen sie eine Tradition der distanzierten Besserwisserei.
Wir haben viele hochmütige Heroen der Selbstreflexion, aber
kaum jemanden, der sich einmischt.
Nicht ohne
Ironie schrieb Paul Valéry einmal: "J'ai besoin d'un Allemand
qui acheverait mes idées." Uns Deutschen tut es gut, zu bedenken,
wie sehr wir, um die Vereinigung Europas zu vollenden, unsere französischen
Nachbarn nötig haben.
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