Haben sich Deutsche
und Franzosen noch etwas zu sagen? Es läuft doch alles: Beide
Länder sind in der Europäischen Union, haben demnächst
dieselbe Währung, betreiben beide ihre Modernisierung im Rahmen
von Mondialisierung und Globalisierung. Hatten sie sich etwas zu
sagen? Nach Krieg und Leid, Verbrechen und mutigem Widerstand, Hass
und Verständnislosigkeit war vieles neu zu definieren, um deutsch-französische
Partnerschaft neu zu begründen. Ist diese Periode zu Ende,
zumal die neue europäische Lage nach 1989 andere Aufgaben stellt?
Hubert Védrine
ist beizustimmen, wenn er feststellt: Die deutsch-französischen
Beziehungen sind in die Phase der Post-réconciliation"
eingetreten. Die neue französische Botschaft, die am Brandenburger
Tor in Berlin an historischer Stelle wiederentsteht, wird dies schon
von aussen architektonisch sichtbar machen. Heisst aber die wiedergefundene
Zeit" normaler, aber besonders intensiver Zusammenarbeit der
Regierungen und vieler Verwaltungsstellen, dass jetzt das Glück
der Routine" ausgebrochen ist? Dies hiesse die Folgen der Vereinigung,
die man als Tiefenbeben im deutsch-französischen Verhältnis
Ernst nehmen sollte, ebenso zu verkennen wie die Probleme der Umsetzung
der neuen europäischen Realitäten in den nationalen Alltag
und die Identitätskrise angesichts der globaleren Welt. Waren
die ersten Bemühungen im deutsch-französischen Verhältnis
nach dem zweiten Weltkrieg politisch und sozialpsychologisch auf
der Angst vor der Wiederholung des Schreckens, auf seiner gemeinsamen
Überwindung aufgebaut, so scheint jetzt die Epoche der Überwindung
der Angst vor der Zukunft, vor der Zukunfts- und Wesenlosigkeit
begonnen zu haben. Natürlich haben Regierungen keine Angst,
sie sind dafür da, so etwas nicht aufkommen zu lassen.
In dieser neuen
Epoche zeigt es sich, dass die Gründerväter und -mütter
des deutsch-französischen Neuanfangs über ihre Zeit hinausgeblickt
haben. Mit ihrer Aufforderung an die Jugend, die Baumeister
der Zukunft" zu sein (Charles de Gaulle 1962 in Ludwigsburg)
und der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks
1963 eröffneten sie die Perspektive, die jetzt fruchtbar wird.
Vorbei die Zeit, in der das blosse Entdecken des Andern schon ein
wichtiger Schritt war, vorbei die historische Ohrfeige von Mme Klarsfeld
für einen deutschen Bundeskanzler mit Vergangenheit, vorbei
die halbherzige Unterstützung eines riesigen Netzwerks von
Beziehungen, die um das DFJW in einem facettenreichen interkulturellen
Dialog, in Debatte und Begegnung entstand. Zweierlei ist klarer
geworden. Das DFJW ist eine wichtige Plattform für den Dialog
der deutschen und französischen Zivilgesellschaft, und seine
Arbeitsmethoden sind ausserdem exemplarisch ebenso für Brüsseler
Programme wie für andere bilaterale Beziehungen in Europa.
Aus dem DFJW
ist mehr als eine Klimaanlage der deutsch-französischen Beziehungen
oder eine mentale Anwärmvorrichtung für deutsch-französische
Koopera-tionsbereitschaft geworden. Hier ist die Zukunftswerkstatt
von Deutschen und Franzosen für dieses Jahrhundert. Die Kooperation
mit öffentlichen und freien Trägern der Jugendbildung,
mit Hochschulen, Kammern, aber auch mit neuen sozialen, kulturellen
und gesellschaftspolitischen Initiativen ergibt einen Freiraum für
den Dialog der Zivilgesellschaft, der deutsch-französische
Politik in Europa überhaupt erst möglich und glaubwürdig
macht. Dabei geht es weniger um Ängste als vielmehr um positive
Beispiele wie Sorgen und Zukunftsaufgaben von Franzosen und Deutschen,
oft auch mit Nachbarn aus Mittel- und Osteuropa oder aus dem Mittelmeerraum,
gemeinsam angepackt werden können. Wichtig dafür sind
ebenso die Fähigkeit, Verständnis für andere Lösungszugänge
zu entwickeln wie die Kunst des Zuhörens und der gemeinsamen
Reflexion sowie der Wille zur Verknüpfung von Debatten.
Die Themen
brauchen nicht gesucht zu werden, sie liegen jungen Franzosen und
Deutschen auf der Zunge (und auf dem Herzen). Einige Arbeitsschwerpunkte
unter vielen können das beleuchten: Die Reform unseres demokratischen
Lebens, die Bürgerbeteiligung, die Mitsprache in öffentlichen
Debatten sind nicht nur aktuell wegen der Skandale in unseren Gesellschaften.
Die Causa Österreich stellt auch generell innerhalb der Europäischen
Union die Frage nach Wertgemeinschaft, nach Ausgrenzung, Immigration
und Ausländerhass. Dazu finden nicht nur viele Gespräche
mit demokratischen Kräften in deutsch-französischen Begegnungen
statt. Auch Jugendbeiräte in Gemeinden und Partnerschaftskomitees
werden dazu mobilisiert. Sie sind schon mit vielen Verbänden
dabei, Drogenpolitik, Gewaltbereitschaft und Sektenfragen zu diskutieren.
Sinnfragen und Spiritualität (oder Religion) sind der Hintergrund
ganz praktischer Anliegen. Wie kann ich mich qualifizieren im Nachbarland,
wie kann Auslandsaufenthalt zur sozialen und beruflichen Integration
auch zu Hause auf dem eigenen Arbeitsmarkt beitragen? Ist die Reform
der Berufsausbildung durch grenzüberschreitende Erfahrungen
voranzubringen? Individuell gefragt, welchen Nutzen hat für
mich Erfahrung im Nachbarland? Wie finde ich ausbildungsbegleitende
oder studienbegleitende Praktika?
Eine Faszination
stellt zurzeit der Riesenbauplatz Berlin dar. Die kreative Unruhe
und Gestaltungsfreude haben hier einen Fixpunkt für viele deutsch-französische
Initiativen gefunden. Sie weisen aber nicht nur auf die globale
Informationsgesellschaft hin, sondern zeigen auch, dass Erinnerungsarbeit,
travail de mémoire, nötig ist, um Begründungen
und ethische Klarheit zu gewinnen. Der grosse Erfolg von Kooperationen
des DFJW mit Radio France und Deutschlandfunk z. B. über die
Lettres de poilus - Feldpostbriefe" belegen das. Die
Menschenrechte werden jeden Tag erkämpft und bewiesen. Wichtig
ist, dass Begegnung und Austausch mehr als bisher die öffentliche
Diskussion zur Zukunft der Zivilgesellschaft und jedes Einzelnen
stärken. Dafür ist Schulaustausch ebenso wichtig wie Berufsausbildung
oder Studium.
In diesen Tagen
war sowohl der 300. Todestag von René Descartes wie der 100.(!)
Geburtstag von Hans-Georg Gadamer. Die beiden Namen deuten an, um
was es geht: Wahrheit und Methode, Verständnisstrategien und
Kriterien. In jedem Falle aber um Engagement für Zukunft und
Orientierung an den Sorgen und Visionen des Menschen in seiner Zeit.
Zwischen Deutschen und Franzosen ist noch viel zu besprechen. Von
Langeweile keine Rede.
|